Ihr seid nicht allein

Nach längerem Schweigen entdecken die Intellektuellen die Umbrüche in der arabischen Welt

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Die arabische Welt, zumindest Teile davon, sind in Aufruhr. In Tunesien und Ägypten haben die Massen die alten Machthaber schon zum Teufel gejagt; im Jemen, in Bahrain und Jordanien, in Syrien, Algerien und Marokko weiß man das noch nicht so genau; im Iran haben die Mullahs noch mal die Notbremse gezogen, während sie in Libyen außer Kontrolle geraten ist; und im Oman und, vor allem, in Saudi-Arabien, der spirituellen Hochburg des islamischen Fanatismus? Dort ist es derzeit (noch) vergleichsweise ruhig. Zumindest dringt wenig über revoltierende Menschenmengen nach draußen.

Entzündet haben sich die Aufstände nicht, weil jeder junge Araber einen Account bei Facebook oder Twitter hat, er sich vielleicht durch Google fernsteuern lässt oder seine Zukunft fortan im dauerhaften Blabla entdeckt (Die Twitter-Revolution ist abgesagt); entzündet haben sie sich, weil sich die Lebensmittelpreise massiv verteuert hatten, eine unmittelbare Folge der Rohstoffspekulation an den Weltbörsen sowie des grassierenden Bio- und Klimawahns in den westlichen Staaten, was die Preise für Getreide, Mais und andere Rohstoffe in exorbitante Höhen schießen ließ (Demokratie- oder Hungerrevolten?).

Auch die schlechte Jobsituation in den Ländern, die im Übrigen auch in Griechenland, Portugal und Spanien nicht ganz unbekannt ist, spielt eine nicht unerhebliche Rolle. Seit Jahrzehnten sind dort gut ausgebildete junge Leute, häufig mit abgeschlossenem Universitätsstudium, gezwungen, sich ihren Unterhalt als Gemüsehändler, Zigarettenverkäufer oder Handyladenbetreiber zu sichern. Oder sie müssen sich als Reise- oder Fremdenführer fern der Heimat in den Touristikhochburgen der arabischen Emirate verdingen. Für die Gründung einer Familie oder/und das Anmieten einer eigenen Wohnung reichen die Gehälter und Einkommen jedenfalls bei weitem nicht aus.

Schützende Hände

Dem Westen war dieser "soziale Sprengstoff", der in den Ländern des Maghrebs ruht, nicht völlig unbekannt. Auch deswegen hat die EU aufgrund der Bestrebungen Nicolas Sarkozys die "Mittelmeer-Union" jüngst aus der Taufe gehoben. Und zwar auch gegen den erklärten Willen der Nordländer und von Angela Merkel (Europas Zukunft liegt im Süden).

Trotzdem wurde die Union von den Unruhen überrascht und politisch auf dem falschen Fuß erwischt. Niemand wusste so recht, wie er den Zorn und die Wut der Jungmänner auf ihre politischen Führer deuten und darauf reagieren sollte. Zumal ihre Regierungen Jahrzehnte lang ihre schützenden Hände über die Despoten gehalten, beste Geschäfte mit ihnen gemacht und politische Verträge zum Wohle Europas und auch Israels geschlossen hatten.

So verwundert es nicht, dass eine politische Strategie, wie man mit den aufgeflammten Protesten, den arabischen Transformationen und der politischen Neustrukturierung des Raums an der Südflanke Europas umgehen sollte (Europa hat kein Konzept), nicht zu erkennen ist, weder in Paris, Berlin oder Brüssel, noch in Tel Aviv und in Washington (We Choose Consultations).

Lautsprecher schweigen

Auch die westlichen Intellektuellen schienen zunächst von dieser Rat- und Sprachlosigkeit befallen (Das Problem der Intellektuellen mit Arabiens Aufruhr). Vor allem die französischen, die ansonsten immer schnell mit Wort und Rat bereitstehen, wenn irgendwo eine Minderheit, ein Stamm oder eine Gruppe unterdrückt, verunglimpft oder ungerecht behandelt wird und dagegen aufbegehrt. Lag ihr beredtes Schweigen vielleicht daran, dass sowohl der tunesische Herrscher Ben Ali als auch der ägyptische Führer Hosni Mubarak Mitglieder der "sozialistischen Internationale" waren?

Doch auch die Neokonservativen in den USA, die vielleicht tatsächlich Grund zum Jubeln gehabt hätten, blieben lange Zeit merkwürdig stumm. Und das, obwohl mit zeitlicher Verzögerung genau das in den nordafrikanischen Ländern eingetreten war, was George Bush vor Jahren mit seiner Irak-Kampagne lostreten wollte, eine Demokratisierungswelle, die alle arabischen Autokraten und Potentaten hinwegfegt.

Israel nicht in Gefahr

Zunächst versuchte man sich ihr Schweigen mit der Sorge um die Zukunft des Staates Israel zu erklären. Kritiker monierten, Glucksmann, Lévy, Finkielkraut und Co. müssten Rücksicht auf die Interessen Israels nehmen. Zum einen hätten sich die Despoten im Maghreb als überaus verlässlich gezeigt, was den Burgfrieden mit Tel Aviv angeht. Zum anderen hätten sie politische Bollwerke gegen den politischen Islam errichtet und den diversen israelischen Regierungen mehr oder weniger freie Hand im Umgang mit den Palästinensern gestattet.

Kämen in Tunis und Kairo, in Damaskus und Amman islamistische Regierungen an die Macht, könnte das, so die Befürchtung, unabsehbare Folgen für den Westen und seinen Vorposten in der Region haben. Zu sehr erinnerten sie die Vorgänge im Maghreb an Khomeini und die Ereignisse im Iran anno 1979 (Frankreichs allzu vorsichtige Intellektuelle).

Erst als Mubarak am 18. Februar endlich gestürzt war, das ägyptische Militär auch offiziell die Macht übernommen hatte und verlauten ließe, dass sie alle internationalen Verträge achten und den Frieden mit Israel respektieren würden, fand zumindest André Glucksmann zu seiner gewohnt klaren und entschieden parteiischen Sprache zurück wieder.

"Es" spricht wieder

In seiner ganz eigenen, unnachahmlichen Art ging er sofort zum Angriff über und versicherte all seinen Widersachern in seiner Hauszeitung Le Monde (Le conflit avec Israël n'est pas central), dass Israel für ihn keinesfalls der "Nabel der Welt" sei. Die jungen Araber, die auf den Straßen Kairos und Tunesiens protestierten, seien für ihn die wahren Geopolitiker des 21. Jahrhunderts. Anders als seinerzeit im Iran oder im Irak hätten die Demonstranten keine Bilder amerikanischer und jüdischer Präsidenten verbrannt oder mit Füßen getreten, sondern nur die ihrer eigenen politischen Führer und Machthaber.

Die Beobachtung mag richtig sein. Allerdings haben sie auch keine Bilder und Namen von Obama oder Netanjahu durch die Straßen getragen. Und das mit gutem Grund. Anti-Amerikanismus und Antisemitismus sind auch in Ägypten und Tunesien stark verbreitet. Sie sind nicht verschwunden, weil die westlichen Intellektuellen sich plötzlich für die Belange der Maghrebiner begeistern, ein paar Leute inmitten einer aufgeheizten Menge die Freiheit der Rede, die Gleichstellung der Geschlechter oder das Verbot der Scharia verlangen und die Muslimbruderschaft zu all dem vielleicht aus politisch taktischen Gründen (noch) schweigt.

Wer Transparente, Fahnen oder Äußerungen am Tahrir, die westliche Kameras eingefangen haben (Medien berichten nicht über den Kern der Revolution) vorschnell mit dem Willen des ägyptischen Volkes gleichsetzt, könnte einen gravierenden politischen Fehler begehen. Die dramatischen Effekte und emotionale Momente, die das Fernsehen tagelang im Livestream zeigte, sagen vielleicht mehr über die Wünsche und Sehnsüchte westlicher Medien und deren Vertreter aus, aber relativ wenig über die politischen Machtverhältnisse im Lande.

Bernard-Henri Lévy etwa, der später nicht nur die "Helden vom Tahrir", sondern auch die schweigende Mehrheit oder deren Widersacher besucht hat, kommt zu einer wesentlich skeptischeren Lagebeurteilung als sein Kontrahent Glucksmann (Retour d'Egypte). Wohin Ägypten, Tunesien und die Region nach der Revolution politisch hintreiben, ist demnach noch lange nicht ausgemacht. Da könnte es noch manch unliebsame Überraschung geben.

Platon lebt

Musste Glucksmann, nach eigenem Bekunden, noch Rücksprache mit seinen tunesisch-ägyptischen Freunden halten, bevor er sich explizit zu den Ereignissen in Tunesien und Ägypten äußern wollte, musste Slavoj Zizek, der gedanklich meist schneller ist als die Ereignisse, davon keinen Gebrauch machen. Darum hatte er auch kein Problem damit, seine Meinung zu den Dingen schon eine Woche vor Glucksmanns Erklärung und der Entmachtung Mubaraks im englischen Guardian kundzutun (For Egypt, this is the miracle of Tahrir Square).

Für Zizek stellt die friedliche Revolution in Ägypten gar ein Ereignis "von universaler Bedeutung" dar, das sich jederzeit und überall auf der Welt wiederholen könnte. Das "Wunder vom Tahrir", wie er die Geschehnisse nannte, sei nicht einfach eine Folge sozialer Missstände, von Armut, Job- und Perspektivlosigkeit gut ausgebildeter Jungmänner, sondern bestätige vielmehr die "Allgegenwart platonischer Ideen" in der Welt, die von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde.

Dieses Virus, das der griechische Philosoph einst im antiken Athen gelegt hatte, habe sogar die Muslimbruderschaft zum Schweigen und zum Nachplappern säkularen Ideen verleitet. Auch wäre niemand auf dem Tahrir von den Protesten ausgeschlossen worden, weder die Soldaten noch die verhasste Polizei. Sowohl Kopten als auch Juden hätten mitprotestieren dürfen, was sie von "rechtspopulistischen Bewegungen" unterscheide, aber die Größe der Proteste signalisiere. So gesehen hätten die Ägypter ein Lehrbeispiel für die Attraktivität und Latenz des multikulturellen Gedankens auch im maghrebinischen Raum geliefert und der Welt gezeigt, dass Autokratien für sie kein politisches Naturgesetz seien.

Himmel oder Höhle

Nun ist der platonische Himmel das eine, die "Höhle" der politischen Tatsachen aber das andere. Diese "ontologische Differenz" wird auch der emotionale Überschwang, in den die Bilder vom Tahrir den Philosophen versetzt haben, nicht aufheben können. Gewiss ist Libyen nicht Ägypten (Libya's Terra Incognita), Ägypten nicht Tunesien, und Tunesien nicht der Iran oder der Irak. Jedes arabische Land hat andere kulturelle Wurzeln, unterschiedliche Traditionen, Stammesstrukturen und Geschichtsverläufe. Hinzu kommt, dass das eine Land reich an Kapital, Talenten und Rohstoffen ist und/oder sich auf ausländische Patronage stützen kann, das andere dagegen nicht oder doch nur zum Teil.

Das erklärt auch den Umstand, warum Ben Ali relativ sang- und klanglos aufgab und Mubarak nicht so losschlagen konnte wie etwa Gaddafi. Der Ägypter wurde vom Westen hofiert, während der libysche Staatschef bis 2003 international geächtet war. Erst als Gaddafi sich unter dem Eindruck der Irak-Kampagne vom Terror lossagte, kehrte er wieder in den Kreis der geachteten Führer zurück. Hatte der libysche Despot in Tripolis das uneingeschränkte Sagen und, wie man jetzt sieht, auch die Entscheidungshoheit über die Luftwaffe, regierte Mubarak, selbst ehemaliger Offizier, nur mit Gnade der Militärs im Land.

Die Armee wiederum stand unter Jahrzehnte lang unter dem Einfluss der Amerikaner. Sie bildeten nicht nur die ägyptischen Offiziere aus, sie alimentierten die Truppe auch mit rund zwei Milliarden Dollar jährlich. Erst als man in Washington einsehen musste, dass Mubarak die Lage nicht stabilisieren konnte, weil es den Aufständischen vor allem um den Kopf des verhassten Potentaten ging, griffen die Militärs ein und erzwangen seine Demission.

Ohne die US-amerikanischen Rochaden und ihre Geheimdiplomatie bliebe von den platonischen Ideen, die Zizek glaubt bemühen zu müssen, nicht viel übrig. Der emanzipatorische Willen, den der Philosoph bei den Jungmännern am Tahrir beobachtet haben wollte, wäre vermutlich einer libyschen, syrischen oder chinesischen Lösung zum Opfer gefallen

Lob der Selbstorganisation

Eine Woche später griffen auch die "Empire"-Denker und "Multitude"-Philosophen Michael Hardt und Antonio Negri zum Laptop. Auch sie lobten im Guardian die Aktionen der Araber und priesen sie als die "neuen Pioniere der Demokratie" (The Arabs are democracy's new pioneers).

Ihrer Überzeugung nach könnten die führerlosen arabischen Bewegungen ein ähnliches Ergebnis zeitigen wie vor ein paar Jahrzehnten in Lateinamerika. In Bolivien, Venezuela und Brasilien hätten sich damals dank neuer Freiheitsbewegungen "neue politische Optionen für Freiheit und Demokratie" eröffnet. Dies wiederhole sich jetzt in den nordafrikanischen Städten. Auch in Tunis, Kairo und anderswo fände sich die "Multitude" zusammen. Ihr Aufruhr erteile nicht nur der Behauptung von einem "Zusammenprall der Kulturen" eine Abfuhr, sie beweise auch eindrucksvoll, dass Araber sehr wohl zur Demokratie fähig seien.

Bemerkenswert ist, dass auch Hardt und Negri die Ursache für die Aufstände eher in ideellen Motiven statt in sozialen Missständen suchen. Den Aufständischen gehe es ihrer Ansicht nach um Freiheit und demokratische Teilhabe und erst in zweiter Linie um den Wunsch nach Arbeit und Wohlstand. Außerdem hätten die Leute auf einen zentralen Führer verzichtet, sie hätten sich selbstorganisiert, Netzwerke gebildet, und allein durch ihre Existenz und Penetranz die Macht unterminiert, eine Strategie, die den Bewegungen von Genua und Seattle nicht ganz unähnlich gewesen wäre.

Ein dritter Weg?

Irgendwie scheint auch in dieser Rede nicht nur der Realitätssinn zu fehlen, sondern der Wunsch Vater des Gedankens zu sein. Erneut wird man das Gefühl nicht los, dass die westlichen Linksintellektuellen in den arabischen Transformationen ein neues Projektionsfeld gefunden haben, auf dem sie ihren politischen Messianismus, all ihre uneingelösten Sehnsüchte und Glücksversprechen ab- oder neu aufladen. Die Tunesier, Ägypter und Libyer sollen das vollbringen oder gar vollenden, wozu das westliche Jungpartyvolk längst nicht mehr fähig ist, eine gemeinschaftliche, kommunistische Bewegung auf die Beine zu stellen.

Einerseits mutet es höchst seltsam an, dass Hardt und Negri ausgerechnet die autokratischen Entwicklungen in Bolivien und Venezuela zum Vorbild für den arabischen Wandel erklären. Ihnen sollte eigentlich bekannt sein, dass Libyens Diktator Gaddafi und Venezuelas Staatschef Chávez eine lange Freundschaft verbindet. Vor einigen Jahren hat Chavez Gaddafi den Menschenrechtspreis verliehen und ihm eine Kopie des Schwertes der Freiheitskämpfers Simon Bolivar geschenkt. Dass ausgerechnet der Venezuelaner sich als Vermittler anbietet und Gaddafi dazu bereit ist, sollte eigentlich sie wie auch alle anderen eher stutzig machen.

Andererseits sucht man Vorschläge, wie die "Multitude" die Wirtschaft des Landes in Gang und die zornigen und arbeitslosen Jungmänner in Brot und Arbeit bringen soll, vergebens. Stattdessen wird erneut von einem "dritten Weg" gefaselt, einem, der irgendwo zwischen Militärregierung und Theokratie hindurchführt und die Produktion in eine soziale überführt. Hatte von einem solchen dritten Weg vor Jahrzehnten nicht auch der libysche Diktator in seinem "Green Book" schwadroniert? Hardt und Negri können das eigentlich nicht vergessen haben.

Kommunistischer Vorschein

Alain Badiou, der sich eine Woche davor in Le Monde auch zu den Ereignissen geäußert hatte (Tunisie, Egypte: quand un vent d'est balaie l'arrogance de l'Occident), warnt denn vor so einer "kolonialen Arroganz", die den Arabern die Basics der Demokratie erklären und ihnen vorschreiben will, was sie jetzt zu tun haben. Es sei zwar richtig, dass die Bewegung keine Hierarchien kenne, weder in Form eines Führers oder einer Partei. Doch in Nordafrika seien "wir diesmal die Schüler, und nicht die dummen Lehrer der Araber."

Der Begriff "Demokratie" würde im Maghreb kaum verstanden. Darum sprächen die Leute auch von einem "neuen Ägypten", dem "wirklichen ägyptischen Volk" und einer Vielzahl "neuer Möglichkeiten". Nichtsdestotrotz kommt auch Badiou nicht umhin, seine messianischen Erwartungen hinauszuposaunen. Das "Ereignis", wie er es pathetisch nennt, sei die bislang "reinste Form" der Gemeinschaftsbildung seit den seligen Tagen der "Pariser Kommune".

Wie immer die Zukunft dieser Länder ausschauen werde, die Aufstände in Tunesien und Ägypten hätten eine "universale Bedeutung", vor allem für Europa und den Westen. Sie erinnerten und lehrten uns, dass ein Aufstand gegen die Staatsmacht durchaus erfolgreich sein kann. "Die Menschen, und nur die Menschen, sind der Schöpfer der Geschichte".

Jobs und nichts außerdem

Nichts gegen die Revolutionsromantik, der sich Badiou hier ebenso hingibt wie all seine anderen linksintellektuellen Gesinnungsgenossen. Aber Tunesier und Ägypter werden mit Sicherheit mit anderen Problemen konfrontiert sein als mit der Revitalisierung des "Subjekts der Geschichte" oder dem Experimentieren mit neuen politischen Formen und Möglichkeiten. Die "Lösung ist nicht eine Menschenmenge, die Fahnen schwenkt" und Transparente durch die Straßen trägt, wie es Jim Clancy, jahrelanger CNN-Reporter in der Region und jetzt Anchorman des Senders, nüchtern formuliert. Eine Verbesserung der Lage "kann nur aus einer robusten wirtschaftlichen Erholung bestehen."

Um die geht es vor allem, um Jobs und um Arbeitsplätze, und nicht um akademische Fragen oder politische Ideologien. Wenn auf den Rausch der Revolution nicht ein langer Kater folgen soll, steht vor allem die rasche Lösung praktischer Fragen auf der Agenda. Etwa, wie man die grassierende Kriminalität wieder in den Griff kriegt und den plündernden Mob in Schach halten kann. Wozu ungelöste Sicherheitsfragen führen können, kann man im Irak oder in Afghanistan beobachten. Sodann gilt es vor allem die Wasser-, Strom- und Gasversorgung wiederherzustellen. Schließlich wird es darum gehen, die Touristikindustrie, die völlig am Boden liegt und ebenso Haupteinnahmequelle wie Jobgeber ist, wieder auf die Beine zu stellen.

Jungmännerüberschuss

Noch ist nicht zu erkennen, wie es den neuen Regierungen, organisieren sie sich autokratisch, konstitutionell oder islamisch, gelingen kann, die Armut und die Arbeitslosigkeit der Leute, die zu dem Unmut geführt hat, zu beseitigen. Allein die demografische Entwicklung spricht gegen eine allzu rasche Genesung.

Um die frei werdenden Spitzenplätze in Politik, Wirtschaft und Verwaltung konkurrieren viel zu viele junge und gut ausgebildete Menschen. Dass die Probleme durch die Aufstände keineswegs gelöst sind, neues Personal allein nicht genügt und die Messe in den arabischen Staaten längst noch nicht gelesen ist, zeigen die neu aufgeflammten Kämpfe in Tunesien (Tote bei Straßenschlachten in Tunesien).

Europa löste das Problem des "Youth Bulge" vor knapp vier- oder fünf hundert Jahren, indem es die überschüssigen Jungmänner nach Amerika auswandern ließ. In der Neuen Welt konnten sie sich eine neue Existenz aufbauen. Diesen Weg werden wohl auch viele junge Nordafrikaner beschreiten und die Flucht übers Mittelmeer in die Wohlstandsburgen Europas suchen. Schon jetzt kämpft allein Tunesien mit 140 000 Flüchtlingen aus Libyen, die vor den Kanonen und Düsenjets Gaddafis Reißaus nehmen.

Migrationswellen

Wie Europa auf diesen Exodus reagieren und ob es damit zu Rande kommen wird, steht in den Sternen. Schnellboote der Eingreiftruppe "Frontex", die die Grenzen der "Festung Europa" sichern, werden dafür allein nicht reichen. Weder natürliche Gegebenheiten wie die Alpen noch die Chinesische und Berliner Mauer oder der Hochsicherheitszaun an der mexikanischen Grenze haben bislang Menschen aufhalten können, ihr Glück dort zu suchen, wo sie Arbeit, Glück und Zukunft vermuten.

Bekundungen europäischer Politiker, Märkte für Güter aus diesen Ländern öffnen und Einfuhrzölle senken zu wollen, oder gar die Forderung, einen Marshall-Plan für Nordafrika aufzulegen, wie ihn jüngst Frank-Walter Steinmeier in die Debatte einbrachte, um "die Demokratisierung und den Umbau der arabischen Staaten und Gesellschaften kraftvoll, schnell und über einen längeren Zeitraum hinweg zu unterstützen", klingt politisch korrekt und fair, zumal eine Gesundung dieses Raumes gewiss "im ureigenen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interesse der EU" liegt.

Doch ob die EU dies finanziell stemmen kann, ist eine ganz andere Frage. Längst hängen auch mehrere Staaten der EU am Tropf des Euro-Rettungsschirmes. Und längst hat sich die EU ihrerseits zu einer Transferunion entwickelt, in der die wirtschaftlich starken Länder die finanziellen schwachen alimentieren müssen. Woher die Zusatzmittel für die nordafrikanischen Länder kommen sollen, hat bislang keiner dieser Leute gesagt. Auch nicht der Fraktionschef der SPD im Bundestag.

Fortgesetztes Töten?

Einen Fingerzeig, wie sich das Problem überzähliger Jungmänner auch lösen lässt, lieferte der Dreißigjährige Krieg in Europa. Schon gibt es Stimmen, die weitere bewaffnete Konflikte, die einer "vom Jugendüberhang getriebenen Revolutionen" folgen könnten, voraussagen oder nicht ganz ausschließen wollen (Das große Töten der Jungen). Allein der Konflikt mit Israel, die Auseinandersetzung mit dem politischen Islam oder offene Bürgerkriege wie in Libyen böten hinreichend Gründe für derart inhumane Lösungen.

Niemand weiß bislang, wohin die Aufstände, der Sturz von Despoten und der Bürgerkrieg in Libyen führen und wie es in den maghrebinischen Ländern weitergeht. Sowohl der Westen und die Militärs als auch die Islamisten und die Moderaten tappen im Dunkeln. Bislang gibt es dafür nur historische Daten und Erkenntnisse.

Postrevolutionäre Zeiten

Revolutionen werden bekanntlich nicht von unten gemacht, von Proleten, Obdachlosen oder Fürsorgeempfängern, sondern immer von oben. Sowohl die bürgerlichen als auch die kommunistischen waren Aufstände von Gebildeten, Wohlhabenden und Aufstrebenden, von Avantgarden und/oder Eliten. Sie passieren, wenn die Zugänge zu Ämtern und Privilegien verbaut oder verwehrt werden, oder noch einfacher, mit Marx grob gesprochen, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen.

So geschah es auch in Ägypten und in Tunesien. Was in Libyen vor sich geht, wer da gegen wen kämpft, weiß keiner so genau. Libyen ist für die meisten Beobachter eine "Terra Inkognita", wie wir soeben in Foreign Affairs lesen (Libya's Terra Incognita). Durch Gaddafis Regime ist das Land intellektuell gesehen ein "schwarzes Loch."

Der Umgang mit bürgerlichen Revolutionen, und darum handelt es sich zumindest in Ägypten und vielleicht auch in Tunesien, lehrt aber, dass bei gewaltsamen Umstürzen meist nur die Herrschaftscliquen ausgetauscht werden, die abdankende Elite, bis auf die besonders Wendigen, durch eine andere Elite ersetzt wird.

Wer bei diesen sozialen Kämpfen hinterher an der Macht ist, welche Staatsform sich dann herausmendeln wird, ist eine offene Frage. Worauf man bislang verweisen kann, ist die historische Erfahrung. Sie lehrt, dass in postrevolutionären Zeiten das Töten häufig mit anderen Mitteln fortgesetzt worden ist. Sowohl die jakobinische als auch die stalinistische Version, mit Revolutionären umzugehen, zeigen das nachhaltig. Selten geht es dabei so friedvoll zu wie anno 1989. So könnte es durchaus passieren, dass der Überschuss an Jungmännern auch auf diese Weise einer Lösung zugeführt wird.