Im Dialog mit dem Anderen erneuert sich die Stadt

Dionisio González: Interacciones. Bild: Dionisio González, © Imagine Architecture, Gestalten 2014

Ein Gespräch über den Wandel von Stadtutopien

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Jeder erfährt die Mängel von Städten und Wohnungen "am eigenen Leibe". Ohne diese Mängel gäbe es Utopien nicht, und ohne Utopien, die Ideal bleiben, gäbe es keine Mängel - nicht einmal das. Wie hängen Utopien und jetziges und künftiges Wohnen zusammen? Telepolis befragte Ludwig Engel und Lukas Feireiss.

Utopien suggerieren schönere Orte als die, an denen wir leben. Sie suggerieren aber auch bessere Zeiten. Sagen Utopien etwas über das Hier und Jetzt aus, und was wäre das?

Ludwig Engel: Utopien sprechen zwar vom Morgen und besseren Orten, sind aber eigentlich eine Kritik am Hier und Jetzt. Entsprechend ist jede Utopie nur in Abhängigkeit von ihrem Kontext bzw. vom Kontext des Urhebers relevant.

Lukas Feireiss: Die Utopie ist als Spiegelbild ihrer Entstehungszeit zu begreifen. Was in der Utopie imaginiert wird, ist nur eine Reflexion gegenwärtiger Realitäten.

Das wäre die gesellschaftliche Dimension. Was sind denn die großen gesellschaftlichen Defizite des Städtebaus, die noch oder wieder Utopien verlangen?

Lukas Feireiss: Grundsätzlich stellen Utopien Idealgesellschaften dar, in denen in wirklich jeder Hinsicht alles funktioniert. Utopien im zeitgenössischen architektonischen und städtebaulichen Diskurs scheinen jetzt aber nicht mehr das politische Schwergewicht zu besitzen, welches sie noch im vorigen Jahrhundert hatten. Die großen Utopie-Wellen in den 1920/30er Jahren und den 1960ern und deren politische Instrumentalisierung haben zu einer gewissen Vorsicht und Zurückhaltung bezüglich politischer Mehrwerte heutiger Utopien geführt.

Was waren die politischen Dimensionen jener Utopien des 20. Jahrhunderts im Unterschied zu heute?

Ludwig Engel: Ein großer Unterschied ist der Glaube daran, dass mit Kunst und Architektur Gesellschaft verändert werden kann. Das reichte von der russischen Revolutionsarchitektur in den 10er Jahren bis in die 70er Jahre etwa zur italienischen italienischen architettura radicale. Die Idee war: Wenn wir die gebaute Form verändern, wird auch die Gesellschaft dieser Form folgen. Heute maßen sich Architekten nicht mehr an, mit diesen Bildern komplette gesellschaftliche Formationen umstoßen zu können. Auf der anderen Seite könnte man kritisch sagen, dass die Architektur sich heute nur noch jener politischen Posen formal bedient, sie aber nicht mehr mit Inhalt ausfüllt.

Lukas Feireiss: Natürlich beeinflussen Architektur und gebaute Umwelt uns Menschen. Das ist unbestreitbar. Der großmaßstäblich-massentaugliche Anspruch der frühen Utopien wird jedoch heute im Entwurfsgedanken bewusst vermieden. Man denke nur an die deterministischen Megastrukturen der Moderne, die trotz ihres ursprünglichen Initial-Optimismus heute schlichtweg unheimlich und fremd erscheinen.

Ludwig Engel: Le Corbusier hat gesagt: "Leute, wir müssen alles neu denken" und hinter einen Triumphbogen seine Stadt für drei Millionen Menschen gesetzt. Ich glaube, heute würde der zeitgenössische kulturkritische Architekt nur noch ein Monument vorne hin setzen und sagen: Die Stadt, die ihr wollt, kann kein Architekt planen.

Nehmen wir aber die 60/70er Jahre mit ihren pneumatischen Hüllen um Städte und Menschen und mit ihren Städten über der Stadt, so wird das heute wieder zitiert. Und im realen Städtebau lauten heute die Parolen "Verdichtung" und Baulücken-Schließung wie damals schon. Ist das - in der Idee wie in der Realität - die ewige Wiederkehr des Gleichen?

Lukas Feireiss: Sicherlich sind das Wiedergänger-Qualitäten. Es scheint auch so etwas wie ein ästhetischer Manierismus im utopischen Denken zu existieren.

Ludwig Engel: Und es ist gerade jetzt, wo der Postmodernismus uns "full circle" wieder trifft, wo dieses Manieristische und Eklektizistische vermeintlich ästhetische Qualitäten bekommt, doppelt schwierig, das zu unterscheiden. Aber ich bringe hier mein Lieblingszitat von Horst Krüger aus der Anmoderation eines Rundfunkgesprächs zwischen Adorno und Bloch, wo er ungefähr sagt: Utopien mögen mir immer wie Lokomotiven erscheinen, die das Menschengeschlecht ein Stück weit durch die Geschichte ziehen. Freilich kommen diese Züge nie an, da jede Generation die Fahrpläne jeweils neu schreiben muss.

Da sind wir wieder beim anfangs erwähnten Kontext, dementsprechend auch heute utopische Ideen, die sich kritisch mit dem Jetzt auseinandersetzen und dabei transparent ihre Quellen offenlegen, aus denen sie sich formal oder politisch bedienen, durchaus auch relevant für die Jetztzeit sind.

Adalberto Abatte: "Self-Portrait. Build. Destroy. Rebuild", Palermo, 2012. Bild: Adalberto Abatte, © Imagine Architecture, Gestalten 2014

Erstaunlich viele jetzige utopische Entwürfe verlegen die Städte ins Wasser (Offshore-Cities, schwimmende Inseln), und in der Realität sollen Zero-Carbon-Städte errichtet werden. Reagieren diese Utopien auf die Klimaveränderung? Ziehen sie sich davor zurück?

Lukas Feireiss: Der Begriff der Sustainability ist in den letzten Jahren inflationär verwendet worden, doch sind gerade im Zuge der Nachhaltigkeitswelle viele neue utopische Ideen und Konzepte entstanden. Ich glaube daher nicht, dass sich die utopischen Entwürfe der Gegenwart vor dem Klimawandel zurückziehen, sondern dass sie diesen proaktiv als Thematik aufgreifen.

Ludwig Engel: Damit wird die "Post-Klimawandel-Zukunft" quasi zur Utopie gemacht. Dass die Städte schwimmen, ist per se nichts Tolles, sondern dass es im Geiste von 'Water World' kein Land mehr zu besiedeln gibt, und dementsprechend die Städte in einer Zeit, in der es zum Schmelzen der Polkappen kommt, irgendwo neue Habitate schaffen müssen. Außerdem ist die Utopie schon seit der Antike mit dem Topos der Insel eng verknüpft.

"Die gebaute Realität der Stadt entspricht nicht der sozialen Realität." Dies ist ein Erfahrungssatz der Stadtentwicklung, wenn Gebäude für eine festgelegte Funktion "abgeliefert" und wenn Stadträume überdeterminiert worden sind. Hilft dagegen "unfertiges" bzw. "inkrementelles" Bauen Schritt für Schritt?

Lukas Feireiss: Ich glaube, das kann man auf jedes Gebäude beziehen. Der Witz ist doch gerade, dass Architektur einzelne Generationen überlebt, wenn sie in der Lage ist, sich von ihrer ursprünglichen Nutzungsintention zu emanzipieren. Das ist wahrhaft nachhaltige Architektur.

Ludwig Engel: Da fehlt der aktuellen Stadtplanung nach ihren Effizienz- und Planungsparametern genau das, was eigentlich Stadt ausmacht, nämlich Verschwendung. Die Räume des Industriezeitalters sind von ihrer räumlichen Disposition her für heutige Maßstäbe erst einmal verschwenderisch. Das ermöglicht eine Flexibilität, ein Neu-Denken und Neu-Nutzen. Das ist unter aktuellen Planungsparametern kaum noch zu gewährleisten. Deshalb sind neue Gebäude heute sehr selten in der Lage, über einen längeren Zeitraum diese flexiblen Nutzungsmuster zu reflektieren.

Lukas Feireiss: Stimmt. Obwohl flexible Möglichkeitsräume für unvorhersehbare, zukünftige Nutzungen eigentlich gleich mitgedacht werden sollten.

Eine Ambivalenz in der Anlage...

Lukas Feireiss: Genau. Nicht nur Verschwendung. Auch Widerspruch macht Stadt aus, das Nebeneinander von disparaten Momenten. Stadt macht Appetit auf das Paradoxe.

Sollte man nicht das Nebeneinander, den Umgang mit dem Älteren, Vorhandenen, so ausweiten, dass der Bau-Bestand der Stadt dialogisch einbezogen wird? Müsste man das nicht auch auf die 60er/70er Jahre beziehen, den damaligen Beton-Brutalismus der Hochzeiten des nicht so arg verschwenderischen Sozialen Wohnungsbaus? Wären diese Wohnkomplexe, auf denen ein Abrissdruck lastet, nicht zu integrieren in jenes flexible Konzept von Architektur und Stadtplanung?

Lukas Feireiss: Selbstverständlich. Die Kraft der urbanen Collage liegt in dem Nebeneinander all dieser Ebenen. In Berlin erleben wir gerade ein fast schizoides Phänomen aufgrund der Tatsache, dass der zeitgenössische Stadtdiskurs von zwei gänzlich unterschiedlichen Denkbewegungen geprägt ist. Zum einen vom heterogenen Ansatz, basierend auf dem, was das Image dieser Stadt in den letzten zwanzig Jahren bestimmte - die Vielfalt, die Koexistenz - und zum anderen einem historisierend homogenen Ansatz, der versucht, alles wieder zu vereinen, Baulücken zu füllen und ein bizarres Stadtschloss zu bauen. Diese beiden Ansätze reiben sich momentan aneinander. Es gilt abzuwarten, ob sie in der Lage sind, in Zukunft nebeneinander zu bestehen.

Wird durch parametrisches bzw. 3D-Entwerfen der Architekt als Künstler abgelöst von der Technik als Entwerfer? Hat die Technik sich die Utopie angeeignet, ist sie die Utopie?

Lukas Feireiss: Das Instrument schreibt immer mit. Die Technologie erweitert immer nur das Begriffsfeld, sie erweitert die Palette des Künstlers, die des Architekten...

Entwirft sie nicht gleichsam aus sich selbst heraus?

Ludwig Engel: Ob die Algorithmen über die Kompetenz von Statikern und Energietechnikern hinauswachsen werden, kann ich nicht beurteilen. Aber es liegt eine unglaubliche Sprengkraft darin, wenn denn eine Maschine in der Lage ist, dem Entwurfskünstler die gesamte Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, bzw. anders herum: wenn eine möglichst transparent von der technischen und regulativen Seite abgebildete Situation alle prototypischen Möglichkeiten einer Bebauung ausspuckt. Ich würde mich nicht so weit festlegen, dass der Autor sozusagen weiter den Stift in der Hand hält. Wenn jenes Entwerfen auf allen baulichen Dimensionen abbildbar ist, dann ist die Frage, was der Architekt noch macht.

Lukas Feireiss: Aber Frank Gehry hat eine eigene Company - Gehry Technologies - welche die Software für High End Parametric Design anbietet und von Architekten auf der ganzen Welt verwendet wird.

Ludwig Engel: Die Zukunft ist schon da...

Bild: Privat

Ludwig Engel arbeitet als Zukunfts- und Stadtforscher an der Entwicklung von Zukunftsszenarien und strategischen Handlungsempfehlungen im urbanen Kontext mit verschiedenen Partnern aus Kultur, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft.

Bild: Luise Volkmann

Lukas Feireiss arbeitet als Kurator, Autor und Künstler in der internationalen Vermittlung von zeitgenössischer Kunst, Architektur und urbaner Kultur jenseits disziplinärer Grenzen. Er unterrichtet an verschiedenen Universitäten weltweit.