Im Krieg gegen die Wahrheit
Die alltägliche Konstruktion und Verbreitung von Halbwahrheiten zur Legitimierung des Kriegs gegen den Terrorismus
Wirklich handfeste, einer gerichtlichen Überprüfung standhaltende Beweise für die Verantwortung von Bin Ladin für die Anschläge vom 11.9. hat die US-Regierung noch immer nicht liefern können. Wie es um den Nachweis einer direkten Verantwortung für die al-Qaida-Gruppe steht, die überdies ja eine netzwerkartig strukturierte und nicht straff hierarchisch gegliederte Organisation sein soll, ist trotz aller bislang gefangenen und verhörten Mitglieder auch nicht viel sicherer. Die Gefährlichkeit der Gegner wurde auch immer durch deren möglichen Einsatz von Massenvernichtungswaffen demonstriert. Gefunden wurde aber von diesen noch keine Spur.
Um den Angriff auf das von den Taliban regierte Afghanistan als Selbstverteidigungsaktion zu rechtfertigen, wurde immer auch argumentiert, dass die al-Qaida im Besitz von nuklearen, chemischen oder biologischen Massenvernichtungswaffen seien oder diese zumindest entwickeln oder erwerben wollten (Die Welt bleibt ein gefährlicher Platz). Auch allgemein spielt militärstrategisch für den präventiven Einsatz von Nuklearwaffen der Besitz von Massenvernichtungswaffen für die US-Regierung eine wichtige legitimierende Rolle, wie sich unlängst anhand des Nuclear Posture Review Berichts erkennen ließ (Neue Atomwaffen sollen entwickelt werden). Und ob das US-Militär tatsächlich in den afghanischen Höhlen neue "Beweise" für geplante Anschläge gefunden haben, die neue Sicherheitsmaßnahmen rechtfertigen, wissen wir nicht, dafür meint US-Verteidigungsminister gegenüber Kritikern der Behandlung der Gefangenen, das seien "lediglich ein paar hyperventilierende Menschen, die keine Ahnung hatten, wovon sie sprechen". Aber wer sagt nun die Wahrheit?
Es ist nicht so, dass verschwörungstheoretische Offenbarungen nur in obskuren Internetseiten oder in paranoiden Gedankenwelten vorkommen. Mutmaßungen, Gerüchte oder andere interessegeleiteten Neuigkeiten werden auch gerne, wie man derzeit gut verfolgen kann, von oft nicht genannten Quellen vertraulich unters Volk gebracht, indem sie Journalisten übermittelt werden. Da mögen oft interne Konkurrenzen stattfinden, aber gelegentlich ist es auch, die offizielle Politik unterstützende Informationen über Medien an die Öffentlichkeit zu bringen. Und die Medien können oft nicht überprüfen, ob diese Informationen tatsächlich stimmen, sondern nur ihren "Informanten" Vertrauen schenken. Überdies sind sie geplagt von der Konkurrenz, durch allzu große Skepsis ins Hintertreffen zu geraten, gerade wenn es um quotenfördernde Nachrichten geht.
Eine der neuen Nachrichten, die etwa die New York Times gestern weitergab, wenn auch unter Verrenkungen, bestand aus Mitteilungen von "officials". Angeblich habe das für den Afghanistaneinsatz zuständige Oberkommando, so auch CNN in der Nähe von Kandahar ein Labor entdeckt, das noch im Aufbau gewesen sei und möglicherweise dafür gedient haben könnte, biologische Waffen herzustellen. Später am Tag hatte sich allerdings ein "official" geoutet - und auch der Sender, der ein Interview mit ihm führen konnte. Da nun die "News" von dem angeblich möglichen Biowaffen-Labor schon an die Öffentlichkeit gelangt war, beeilte sich NBC das Gespräch, das man mit General Tommy Franks, dem Oberkommandierenden des Afghanistan-Einsatzes, am Samstag noch geführt hatte, schon vorab in Auszügen bekannt zu machen, obwohl es erst am Sonntag gesendet werden sollte.
Allerdings gingen schon vorher Meldungen der britischen Times umher, die etwa von Reuters und der schnellen Netzeitung verbreitet wurden, dass man im Osten Afghanistans während der Operation Anaconda, deren Erfolg umstritten ist (Operation Anaconda: Kriegspropaganda), eben ein solches Labor gefunden haben wollte. Auch der Spiegel machte da gerne unter dem Titel : Biowaffen-Labor in Afghanistan gefunden. Das ZDF ist besonders elegant. Nach dem Titel: Biowaffen-Labor in Afghanistan gefunden kommt dann die Zischenüberschrift: "Keine Kampfstoffe gefunden". Nicht viel besser machen es die Tagesthemen: US-Armee bestätigt Fund von Biowaffen-Labor in Afghanistan liest man da, und dach: "US-Soldaten hätte im Süden des Landes eine mögliche Forschungsstätte der Al-Kaida-Organisation für chemische oder biologische Substanzen gefunden, sagte ein Militärsprecher. Das Labor habe sich vermutlich im Aufbau befunden." So schafft man Fakten - halbwegs, zumindest aber attraktive Titel. Der Fund soll ein Grund gewesen sein, konnte man lesen, die 1700 britischen Soldaten nach Afghanistan zu entsenden. Nichts da, berichtete die New York Times, "american officials" hätten gesagt, dass in diesem Teil Afghanistans keine biologischen Labors gefunden worden seien. Man habe nur einen verlassenen Ort entdeckt, an dem herkömmliche Sprengstoffe hergestellt worden seien.
Überhaupt müssen die Medien und General Franks einräumen, dass trotz fieberhafter Suche an über 60 Orten, an denen man Waffenlager von al-Qaida vermutet hatte, keinerlei Hinweis auf Labors zur Herstellung biologischer Waffen gefunden worden seien. Irgendwie habe man zwar "viele Beweise" entdeckt, dass al-Qaida solche Waffen herstellen wollten, gleichwohl lassen sich offenbar keine wirklichen Beweise vorstellen: "Wir haben keinen Hinweis darauf gefunden", so musste General Franks einräumen, "dass irgendetwas auf richtige Weise zusammen gemischt wurde, um eine Waffe zur Massenvernichtung zu schaffen."
Das ist aber natürlich nicht zufriedenstellend. Deswegen muss beispielsweise der CIA einspringen: "Dokumente, die in al-Qaida-Orten entdeckt wurden", so zitiert die New York Times den CIA-Chef George Tenet, "zeigen, dass bin Ladin ein ausgeklügeltes Forschungsprogramm für biologische Waffen verfolgte. Wir glauben auch, dass bin Ladin versuchte, eine nukleare Waffe zu erwerben oder zu entwickeln. Al-Qaida kann versucht haben, ein Mittel für radioaktive Verstrahlung zu erhalten, das manche eine 'dirty bomb' nennen." Potenziell ist vieles möglich, aber wirkliche Hinweise dafür bleibt man schuldig, obgleich die angebliche Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen durch al-Qaida-Angehörige eine Grundlage der amerikanischen Sicherheits- und Aufrüstungspolitik darstellt.
Deswegen spielt das entdeckte Labor eine wichtige Rolle, in dem man aber eigentlich nur medizinische Wirkstoffe, Laborgeräte und andere Materialen entdeckt hat, die dazu benutzt werden könnten, biologische Waffen herzustellen. Nach der New York Times beschrieben die "american officials" die Beweise "nicht im Detail", aber sagten, "dass sie medizinische Ausrüstung du Materialen beinhalten, die nützlich für legitime Forschung sein könnten, aber auch zur Herstellung biologischer Agenten verwendet werden könnten". Das haben viele "dual use"-Techniken so an sich. Gleichwohl habe man keine Pathogene gefunden, dafür aber "Dokumente", die darauf "hinweisen", dass "al-Qaida daran interessiert war, Anthrax herzustellen".
Immerhin zitiert die New York Times einen "american official", der meint, dass die Entdeckung dieses Labors die begrenzten Kapazitäten - also auch die begrenzte Gefährlichkeit - von al-Qaida zeige, aber fügt gleich hinzu, dass man dadurch zusätzliche Informationen über die Interessen erhalten habe.
Es gibt mithin Schwierigkeiten bei der Dämonisierung. Deswegen muss anderes nachgeschoben werden - natürlich wiederum, ohne die Beweise auch zu zeigen. Man habe Beweise in den Höhlen Afghanistans entdeckt, dass neue Anschläge geplant werden, meldet Focus, Organ der Info-Elite, von US-Verteidigungsminister Rumsfeld. Der 11.9. sei "nur die erste Salve im Krieg der Terroristen gegen Amerika" gewesen. Auf jeden Fall scheint man das geplante Office for Strategic Information nicht zu brauchen, die Dinge funktionieren auch ohne eine solche Abteilung (Rumsfeld: Pentagon lügt nicht).