Im Süden Deutschlands lebt man länger

Die Lebenserwartung in Deutschland steigt kontinuierlich. Eine Detailanalyse des Leibniz-Instituts für Länderkunde offenbart allerdings erhebliche regionale Unterschiede

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"Im hohen Alter gibt es nur das hohe Alter als Todesursache - und dagegen kann man nichts tun", stellte der berühmte amerikanische Gerontologe Leonard Hayflick Anfang der 90er Jahre fest und erteilte damit der Sehnsucht nach einer überdimensionalen Lebensdauer eine ebenso klare und medizinisch gut begründete Absage wie dem Jahrtausende alten Traum von der Unsterblichkeit des menschlichen Körpers. Mit dieser Einsicht müsste sich unsere Spezies - bis zur vollkommenen Überwindung der "Hayflick-Grenze" und der Behebung vieler anderer Probleme - vorerst bescheiden und könnte es wohl auch, wenn die Möglichkeiten, ein hohes Lebensalter zu erreichen, annähernd gerecht verteilt wären.

Dass dem nicht so ist, zeigt eine neue Untersuchung von Paul Gans, der einen Lehrstuhl für Wirtschafts- und Bevölkerungsgeographie an der Universität Mannheim innehat. Gans analysierte im Auftrag des Leibniz-Instituts für Länderkunde den langfristigen Verlauf der Lebenserwartung in Deutschland und widmete sich dabei vor allem den regionalen Besonderheiten und den geschlechtsspezifischen Unterschieden, die in einer Reihe von Übersichtskarten visualisiert wurden.

Höhere Lebenserwartung

Die gute Nachricht vorweg: Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes, die zuletzt im August 2008 veröffentlicht wurden, nimmt die Lebenserwartung der Deutschen kontinuierlich zu. Neugeborene Jungen können derzeit davon ausgehen, im Durchschnitt 76,9 Jahre alt zu werden, für neugeborene Mädchen wurde eine Lebenszeitperspektive von 82,3 Jahren errechnet. Um das Jahr 1900 lagen diese Werte bei 46,4 und 52,5 Jahren, und selbst 1950 bewegten sich die Deutschen noch signifikant unter dem heutigen Durchschnitt.

Auch wenn Deutschland im Laufe der Jahrzehnte nicht zu den international führenden Ländern gehörte und aktuell recht deutlich hinter der Schweiz oder Japan zurückliegt, ist die positive Entwicklung unverkennbar und voraussichtlich noch lange nicht beendet. Statistiker, Mediziner und Pharmaverbände gehen davon aus, dass die durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr 2050 stolze 88 Jahre (Frauen) beziehungsweise 84 Jahre (Männer) betragen kann.

Der Rückgang der Sterblichkeit und die damit verbundene höhere Lebenserwartung hängen von mehreren Faktoren ab. Maßgeblich sind dabei die Qualität der medizinischen Versorgung, das sozioökonomische Umfeld, wie beispielsweise Einkommen und Bildungsstand, Lebensstil- und Umweltfaktoren sowie präventive Maßnahmen. Insbesondere die sinkende Sterberate bei den Haupttodesursachen Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs führt zu einer steigenden Lebenserwartung. Gabriele Doblhammer-Reiter, Direktorin des Rostocker Zentrums zur Erforschung des Demografischen Wandels

Unterschiede zwischen Ost und West und das Süd-Nord-Gefälle

Die Existenz zweier deutscher Staaten über immerhin 40 Jahre hat diese Entwicklung offenbar kaum beeinflusst. Zwar registrierte Paul Gans einen flacheren Anstieg in der DDR während der 70er Jahre und eine kurzfristige Steigerung der Mortalitätsrate nach dem Mauerfall, doch seit Anfang der 90er Jahre gleichen sich die Werte immer weiter an. Eine Deckungsgleichheit ist allerdings noch nicht erreicht. Die im Westen Deutschlands geborenen Kinder haben weiterhin eine höhere Lebenserwartung, die Abweichung beträgt 1,5 (Jungen) beziehungsweise 0,3 (Mädchen) Jahre.

Das Süd-Nord-Gefälle, das über viele Jahrzehnte zu beobachten war, hat sich in den letzten Jahren ebenfalls verringert, ist aber nach wie vor unübersehbar. Aktuelle Daten des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg zeigen, dass die Lebenserwartung für Jungen hier bei 78 Jahren und damit nicht nur über dem Bundesdurchschnitt liegt, sondern auch die Werte aus Schleswig-Holstein (um 1,4 Jahre) Niedersachsen (um 1,5 Jahre), Bremen (um 2,4 Jahre) oder Mecklenburg-Vorpommern (um 3,5 Jahre) deutlich übersteigt. Auch bei den Mädchen liegen Baden-Württemberg (83,0), Bayern (82,4), Sachsen (82,4) und Hessen (82,2) vor dem ersten norddeutschen Bundesland - in diesem Fall Niedersachsen (82,0). Der Abstand zum Saarland, das die Tabelle abschließt, beträgt allerdings nur 2,2 Jahre - damit fällt die regionale Spreizung insgesamt geringer aus als bei der männlichen Bevölkerung.

Das Statistische Landesamt führt die Vorreiterrolle Baden-Württembergs, wo überdies die jüngste Bevölkerung registriert wurde, "ganz überwiegend" auf die starke Zuwanderung zurück, da die Neuankömmlinge im Schnitt rund 10 Jahre jünger sind als die Einheimischen. Seit 1991 kamen etwa 750.000 Menschen nach Baden-Württemberg, pro 1.000 Einwohner also stattliche 73. Deutschlandweit waren in dieser Zeit lediglich 52 Zuwanderer je 1.000 Einwohner zu verzeichnen. Paul Gans konnte in seiner Analyse ergänzend und darüber hinaus eine besonders hohe Lebenserwartung im Gebiet von Dresden, Jena oder Münster, entlang der Rheinachse Köln/Bonn und in den Metropolregionen Rhein-Main, Rhein-Neckar sowie Stuttgart bis München nachweisen. Ganz anders sieht es im Saarland und im Ruhrgebiet, aber auch in den ländlichen Regionen Oberfrankens und Nordhessens und in den meisten ostdeutschen Bundesländern aus.

Diese Kreise sind eher strukturschwach und verzeichnen häufig eine überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit. Ein Vergleich lässt vermuten, dass in Kreisen mit niedriger Lebenserwartung die geschlechtsspezifische Differenz zugunsten der Frauen überproportional ausfällt.

Paul Gans

Gesundheitswesen, sozialer Stress und Individualverhalten

Der Bevölkerungsgeograf hat für die ermittelten Daten drei zentrale Erklärungsansätze gefunden. Zum einen hätten sich die Milliardeninvestitionen in das Gesundheitswesen, die zuerst zu einer Verbesserung der medizinischen Versorgung in den Städten, dann aber auch zu einem Aufwärtstrend in den ländlichen Gebieten führten, positiv auf die Lebenserwartung der ostdeutschen Bevölkerung ausgewirkt.

Darüber hinaus spielt der „soziale Stress“ eine zentrale Rolle in Gans´ Überlegungen. Die „Unsicherheit der Menschen hinsichtlich ihrer zukünftigen Lebensgestaltung“ habe sich bereits beim Fall des Eisernen Vorhangs als wichtiger Auslöser für die vorübergehende Senkung der Lebenserwartung herausgestellt. Nun sei „in allen Regionen“ mit erhöhter Arbeitslosigkeit und sozialer Instabilität ein ähnlicher Effekt zu vermuten.

Schließlich kommt dem individuellen Verhalten jedes einzelnen Menschen naturgemäß entscheidende Bedeutung zu. Hier findet sich eine Teilbegründung für den viel zitierten geschlechtsspezifischen Unterschied, denn Männer pflegen nicht nur „die Gesundheit stärker gefährdende Lebensstile“, sprich: sie trinken und rauchen häufiger und ernähren sich weniger bewusst und gesund. Darüber hinaus sind Männer – auch infolge der noch immer nicht vollständig realisierten Gleichberechtigung der Geschlechter - offenbar stärker den Risiken des Berufslebens ausgesetzt und anfälliger gegenüber sozialen Stresssituationen. Auf die Forschung warten hier noch zahlreiche interessante Aufgaben, denn die einzelnen Bereiche sind oft eng miteinander verzahnt und nicht immer quantifizierbar. Aufschlussreiche Zusammenhänge vermutet Gans aber beispielsweise auch zwischen den individuellen Verhaltensweisen und den regionalen Unterschieden.

Prosperierende Regionen zeichnen sich eher durch eine überdurchschnittliche Lebenserwartung aus. Mobile Personen sind im Allgemeinen besser ausgebildet und einkommensstärker, zwei Merkmale, die in engem positiven Zusammenhang mit gesundheitsfördernden Lebensstilen stehen.

Paul Gans

Potenziale zur Erhöhung der Lebenserwartung

Der Mannheimer Wissenschaftler sieht durch die immer noch erheblichen regionalen Unterschiede innerhalb Deutschlands sowie durch den internationalen Vergleich – etwa zu Japan und der Schweiz – „Potenziale zur weiteren Erhöhung der Lebenserwartung“. Um sie auszuschöpfen seien einerseits weitere Fortschritte in der Medizin vonnöten, dann aber auch die „präventive Unterstützung gesundheitsfördernder Lebensstile“.

Was sich hinter dieser unangreifbaren Formulierung verbirgt, lässt Gans offen. Beim Blick auf seine Ergebnisse darf jedoch vermutet werden, dass eine erfolgreiche Sozialpolitik durchaus zur „präventiven Unterstützung“ gezählt werden könnte. Diese Annahme unterstützt der gerade veröffentlichte World Health Report 2008 der Weltgesundheitsorganisation. Demnach liegt die durchschnittliche Lebenserwartung in den führenden Industriestaaten vielfach doppelt so hoch wie in den ärmsten Entwicklungsländern. Entsprechend weisen die jährlichen Gesundheitsausgaben pro Einwohner eine Bandbreite von rund 4.400 Euro (Industriestaaten) bis 15 Euro (Entwicklungsländer) auf.

Mancherorts prallen die Gegensätze unmittelbar aufeinander. So hat die Weltgesundheitsorganisation festgestellt, dass in den wohlhabenden Vierteln der kenianischen Hauptstadt Nairobi 15 von 1.000 Kindern vor dem Erreichen des fünften Lebensjahres sterben. In den Slums von Embakasi – ebenfalls in Nairobi - sind es 254.

Gesundheitsziele

Dass die persönliche Lebenssituation, das Einkommen, der soziale Status und das Wohngebiet unmittelbar mit der Höhe der Lebenserwartung zusammenhängen, ist freilich seit langem bekannt und auch für einzelne Regionen und Städte in Deutschland hinreichend belegt. Das gilt für das vermeintliche Vorzeigeland Bayern, das gilt aber auch für die Metropole Berlin. So gab die dortige Gesundheitssenatorin Katrin Lompscher (Die Linke) Anfang des Jahres anlässlich der Vorstellung des Gesundheits- und Sozialberichts 2006/2007 zu Protokoll:

Dass zwischen Lebenserwartung sowie gesundheitlicher und sozialer Lage ein enger Zusammenhang besteht, zeigt die Spannweite von 2,8 Jahren bei Frauen und 4,1 Jahren bei Männern zwischen besser und schlechter gestellten Bezirken. (…) So wichtig die Unterscheidung nach kulturellem und Herkunfts-Hintergrund ist, bleibt beim Gesundheitszustand der Bevölkerung jedoch der soziale Status der entscheidende.

Katrin Lompscher

Die niedrigsten Werte verzeichnet der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, wo Frauen eine Lebenserwartung von 80,7 und Männer eine Lebenserwartung von 74,4 Jahren haben. Diese Zahlen liegen nicht nur deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, sondern unterscheiden sich auch erheblich von den Daten in Treptow-Köpenick, wo Frauen im Durchschnitt 83,5 Jahre alt werden, oder Charlottenburg-Wilmersdorf, wo die Männer einen Durchschnittswert von 78,5 erreichen.

Obwohl diese Tendenz seit geraumer Zeit absehbar ist, wurden erst auf der Landesgesundheitskonferenz im vergangenen Jahr erstmals konkrete Ziele formuliert, um die Gesundheitsförderung von jungen Menschen zu verbessern und dabei vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Familien und Migrantenfamilien zu berücksichtigen.

Nordrhein-Westfalen hat dagegen bereits Mitte der 90er Jahre Gesundheitsziele für die eigene Bevölkerung vereinbart. Knapp zehn Jahre später konstatierte das Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW aber erneut erhebliche regionale Unterschiede von immerhin fast fünf Jahren.

2001/2003 lag die Lebenserwartung von Frauen und Männern in Münster mit 82,4 bzw. 77,0 Jahren deutlich über, in Gelsenkirchen mit 79,8 bzw. 72,8 Jahren deutlich unter dem Landesdurchschnitt. Die Lebenserwartung von Männern erreichte im Rheinisch-Bergischen Kreis mit 77,4 Jahren einen noch höheren Wert als in Münster. Die Differenz der Lebenserwartung zwischen den Kreisen mit der höchsten und niedrigsten Lebenserwartung beträgt bei den Frauen 2,6 Jahre, bei den Männern 4,6 Jahre.

Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW

Mit der Einigung auf gemeinsame Ziele ist es also nicht getan. Um die zweifelsfrei vorhandenen Potenziale zur Erhöhung der Lebenserwartung - ohne Ansehen der Person - auszuschöpfen, müssen sie auch umgesetzt und die jeweiligen Ergebnisse, die von der nächsten statistischen Erhebung ohnehin an den Tag gebracht werden, regelmäßig evaluiert werden.