In Israel wurde getrauert, im Libanon überschwänglich gefeiert

Der erneute Gefangenenaustausch mit Hisbollah öffnete alte historische Wunden, könnte aber auch ein Schritt in Richtung Verhandlungen sein

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Am Mittwoch, dem 12. Juli 2006, wurde eine Patrouille der Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) an der Grenze zum Libanon in einen Hinterhalt gelockt. Hisbollah entführte zwei der Soldaten, was die Regierung Israels als Anlass zum Krieg nahm (Die Lage im Nahen Osten eskaliert weiter).

Bis zum Waffenstillstand am 14. August zerstörte die israelische Luftwaffe die Infrastruktur des Libanons, darunter 91 Brücken und 125.000 Wohnungen. 1 Million Menschen mussten flüchten. 1.200 libanesische Zivilisten wurden getötet, 4.400 verletzt, 700 davon bleiben auf Dauer geschädigt. Auf israelischer Seite kamen 160 Menschen ums Leben, die meisten davon Soldaten. Für den Libanon entstand ein direkter ökonomischer Schaden von rund 5 Milliarden, langfristig sind es 15 Milliarden.

Aber die Zerstörung, die Toten und Verwundeten waren umsonst. Israel konnte weder ihre entführten Soldaten befreien, noch Hisbollah einen empfindlichen Schlag versetzen, geschweige denn ganz vernichten. Zwei Jahre nach dem militärischen Desaster Israels kehrten nun die beiden Soldaten, Ehud Goldwasser und Eldad Regev in ihr Heimatland zurück. Nicht wie erhofft als Lebende, sondern in Särgen.

Bester Gesundheit erfreuten sich dagegen vier Hisbollah-Soldaten, die während des Kriegs 2006 gefangen genommen wurden, und Samir Kantar, der fast 30 Jahre in israelischen Gefängnissen saß. Zusammen mit 199 toten Guerillas der schiitischen Milizen von Hisbollah und Amal sowie palästinensischer Gruppen wurden sie gegen die beiden Israelis ausgetauscht. Hisbollah Generalsekretär Hassan Nasrallah nannte den Tausch erneut einen großen Sieg. Doch im Vergleich zu vorangegangenen Gefangenenaustauschen erscheint die "Ausbeute" diesmal relativ gering. 2004 erzielte man die Freilassung von 435 Gefangenen im Austausch von drei toten Soldaten und dem israelischen Geschäftsmann Elhanan Tannenbaum (Ungleicher Tausch). 1998 kamen 40 Hisbollah-Kämpfer gegen einen Soldaten frei und 1996 waren es 123 Libanesen für die Überreste von zwei Militärs.

Der freigelassene Samir Kantar vereinte die Kräfte im Libanon

Hisbollah wollte, wie bereits 2004, auch diesmal palästinensische Häftlinge mit einbeziehen, aber Israel ließ nicht mit sich handeln. Der Grund war Samir Kantar, der 1980 zu 542 Jahren Gefängnis verurteilt worden war. In Israel gilt er als Ausgeburt des palästinensischen Bösen, das ganz Israel zerstören und alle Israelis ins Meer treiben würde. 1979 war Kantar Teil eines Kommandos der Befreiungsfront Palästinas (LFP), das mit einem Boot nach Israel fuhr, um dort Bewohner zu kidnappen. Das Unternehmen wurde entdeckt und Kantar verhaftet. Er soll einen Polizisten und einen Familienvater mit seiner Tochter ermordet haben. Die Tochter auf brutale Art und Weise: Während eines Feuergefechts mit der Polizei soll er ihr mit dem Gewehrkolben den Kopf zerschmettert haben. Eine Tat, die Kantar bis heute leugnet. Er habe sich nichts vorzuwerfen und würde alles noch einmal so machen.

Im Libanon wurde der ehemalige marxistische Freiheitskämpfer wie ein Held gefeiert. Staatspräsident, Premierminister und alle wichtigen religiösen Würdenträger des Libanons empfingen Kantar und die anderen vier frei gekommenen Hisbollah-Guerillas am Beiruter Flughafen. „Euere Rückkehr ist ein Segen für uns alle“, erklärte der erst kürzlich gewählte Staatspräsident Michel Suleiman und pries den Kampf und die Stärke des Widerstands (Hisbollah).

Alle Streitigkeiten mit der Opposition, die vor einem Monat noch beinahe zum Bürgerkrieg führten, schienen vollkommen vergessen. Selbst Walid Jumblatt, ein erbitterter Gegner von Hisbollah, organisierte mit dem ansonsten so verhassten, rivalisierenden Drusen-Führer Talal Aslan eine Willkommensfeier. Schließlich ist Samir Kantar ein Druse und wurde obendrein als Linker im Kampf gegen Israel gefangen, was der Progressiven Sozialistischen Partei Walid Jumblatts gut zu Gesicht steht. Wie schon am Beiruter Flughafen, wurde auch hier allseits die Widerstandsbewegung gepriesen und Samir Kantar kündigte die Fortsetzung seines Kampfes an.

Eine seltsame nationale Eintracht unter den Führungsfiguren der libanesischen Politik, auf die sie sich auch schon vor mehreren Monaten hätten besinnen können. Dann wären die 81 Menschen, die bei den Straßenkämpfen im Mai in Beirut oder in Tripoli getötet wurden, noch am Leben.

In Israel war man entsetzt über das Ausmaß der Feierlichkeiten im Libanon

„Die Freude einer Nation ist ein deutlicher Hinweis auf ihr Wertesystem“, sagte Premierminister Ehud Olmert. "Wehe einer Nation, die die Freilassung eines Tiers feiert, der den Kopf eines Kindes zerschmetterte,“ Er sprach damit aus, was die israelische Öffentlichkeit dachte und in fast allen Zeitungen diskutiert wurde

Ganz unabhängig davon, ob nun Samir Kantar der schreckliche Mörder ist oder auch nicht, wie er behauptet, die Reaktionen in Israel zum Gefangenaustausch spiegeln ebenfalls das „Wertesystem einer Nation“ wieder. Zu Selbstkritik, die man so sehr auf der anderen Seite der Grenze beklagt, ist man nicht fähig. Israel fühlt sich als das unschuldige Opfer, das ohne jeden Grund von Terroristen heimgesucht wird. Eine Haltung, die im Libanon ihre gegensätzliche Entsprechung findet. Der Tod des jungen Mädchens, das in Israel als Inkarnation der Grausamkeit angesehen wird, ist im Libanon nichts, worüber man sich groß Gedanken machen müsste. An derartige Vorfälle ist man durch den 15 Jahre langen Bürgerkrieg (1975-1990) gewöhnt.

Dalal Moghrabi und Ehud Barak

Außerdem ist Israel für Libanesen alles andere als eine Instanz, die den moralischen Zeigefinger heben könnte. Bei den sich seit den 70er Jahren wiederholenden israelischen Invasionen und Angriffen wurden Tausende von libanesischen Zivilisten von Israelis gefoltert, ermordet und massakriert. Alleine 2000 Menschen, die meisten davon Zivilisten, starben 1978 während der Operation Litani, die drei Monate dauerte und bei der 25.000 israelische Soldaten in den Libanon eindrangen.

Eine Invasion, die durch einen Anschlag eines palästinensisches Kommandos ausgelöst wurde, das die 19-jährige Dalal Moghrabi angeführt hatte. Ihre Überreste waren unter den 199 Leichen, die als Bestandteil des Austauschs zurück in den Libanon kamen. Dalal Moghrabi gilt heute als Ikon der palästinensischen Befreiungsbewegung. Die junge Frau war im März 1978 mit einer 11-köpfigen Gruppe nach Israel eingedrungen und hatte einen Bus gekapert, den man in Tel Aviv ins Parlamentsgebäude rammen wollte. Aber so weit kam es nicht. Das israelische Militär stoppte die Aktion, bei der über 40 Menschen starben.

Ehud Barak, der spätere Premierminister und heutige Verteidigungsminister Israels, gehörte zu den Soldaten, die sich mit dem Kommando ein über 12-stündiges Feuergefecht lieferten. Auf einem Video ist dokumentiert, wie Barak die Leiche von Dalal Moghrabi über die Strasse schleift und noch einige Male auf sie schießt. 30 Jahre nach dem Vorfall stimmte Barak als Mitglied des israelischen Kabinetts für die Auslieferung der Leiche der jungen Frau.

Die Rückkehr von Dalal Moghrabi und Samir Kantar, die zu einer längst vergangen linken Guerilla-Bewegung gehörten, zeigt, wie sehr der neue Gefangenenaustausch von der Vergangenheit überlagert ist. Entsprechend hoch sind die Emotionen auf beiden Seiten der israelisch-libanesischen Grenzen.

Im Libanon ließ dieser historische Bezug, zumindest für ein paar Tage, alte Animositäten zwischen Opposition und Regierung vergessen. Hassan Nasrallah hat der leidgeprüften Nation ihre Märtyrer wieder gegeben, die für das Land gestorben sind. Mit Samir Kantar brachte er sogar einen lebenden nach Hause, den letzten Libanesen aus israelischer Haft, der obendrein kein Schiit ist, geschweige denn ein islamistischer Radikaler. Die vier freigelassenen Hisbollah-Soldaten spielen im Vergleich dazu, nur eine untergeordnete Rolle.

„Gerade, dass Kantar ein Druse ist und kein Hisbollah-Kämpfer“, erklärte Amal Saad Ghorayeb, Politikwissenschaftlerin in Beirut, „hat der Symbolkraft des Ganzen (Austauschs) noch einen zusätzlichen Wert gegeben.“ Hisbollah habe für seine Freilassung so lange und hart gekämpft, obwohl er nicht einer der ihren ist. Das würde die Wunden der Mai-Kämpfe schließen, als Milizen der Opposition West-Beirut besetzten. „Nur wegen Kantar“, so Ghorayeb weiter, „konnte es sich kein Politiker leisten, die Freigelassenen nicht willkommen zu heißen. Sie mussten alle erscheinen“. Hisbollah habe nationale Einheit zur Verpflichtung gemacht. Wie sehr, zeigt auch die Reaktion der libanesischen Regierung, den Tag des Gefangenenaustauschs kurzerhand zum nationalen Feiertag erklärte

Erster Schritt zu Verhandlungen?

In Israel und den USA wird man die neue Einigkeit zwischen Regierung und Opposition nicht gerne sehen. Hisbollah erneut als renommierter und einflussreicher politischer Faktor im Libanon wird beiden Ländern wenig gefallen. Im neuen Kabinett der nationalen Einheit unter Premier Fuad Siniora, spielt Hisbollah bereits eine entscheidende Rolle. Mit dem psychologischen Bonus des Gefangenaustauschs könnte das noch mehr werden.

Für Israel werden auch die Verhandlungen mit der palästinensischen Hamas über den gekidnappten Soldaten Gilad Schalit jetzt noch schwieriger. Der Hisbollah-Austausch, so Hamas, habe den Weg geebnet, alle Ziele der palästinensischen Organisation zu erreichen. Der Preis für den gefangenen Israeli wurde erhöht. Hamas-Führer Ismail Haniyeh versprach, „all die Helden im Gefängnis“ zu befreien.

Trotz allem kann man auf israelischer Seite nur hoffen, dass die Politik der Stärke und die Demonstration der Waffengewalt ein Ende hat und stattdessen auf Diplomatie gesetzt wird. Der Gefangenenaustausch mit Hisbollah müsste Israel deutlich vor Augen geführt haben, dass militärische Konfrontationen nichts bringen. Sicherlich existieren noch einige Hardliner alter Schule im israelischen Militär, die glauben, den Krieg gegen Hisbollah (und alle anderen Feinde) doch noch gewinnen zu können. Aber sie haben es nicht mehr, wie früher, mit einfachen Guerilla-Kämpfern zu tun.

Hisbollah verfügt über eine Armee, die ihren eigenen, kleinen Staat im Libanon eingerichtet hat und dort tun kann, was sie möchte. Israelische Quellen haben erst kürzlich berichtet, dass Hisbollah an einer neuen militärischen Taktik arbeitet. In Zukunft will die schiitische Miliz israelische Kampfflugzeuge abschießen, die seit Jahren illegal in den libanesischen Luftraum eindringen und damit gegen internationales Recht verstoßen. Auf dem Mount Sannine (2682 m) im Zentrallibanon sollen Luftabwehrraketen und Radaranlagen installiert worden sein. Zudem soll es ein System von rund 1.000 C-802 Raketen entlang der libanesischen Küste geben, die israelische Schiffe zum Ziel haben, die in libanesische Gewässer eindringen. Eine dieser Raketen, die sechs bis sieben Meter über der Wasseroberfläche fliegen, hatte während des Libanon-Kriegs 2008 ein israelisches Kriegsschiff vor der Küste Beiruts schwer beschädigt.

Der Kampf geht weiter, wie Samir Kantar nach seiner Freilassung bekräftigt hatte. Auf seiner und der Agenda von Hisbollah stehen die von Israel besetzten Shebaa Farmen, das Dorf von Ghajar und die Kfar Shuba Hügel. Die Shebaa-Farmen sind allerdings auch eine Angelegenheit von Syrien, das auf einer Pressekonferenz in Paris bereits eine Regelung ankündigte. Sobald Israel aus dem rund 20 Quadratkilometer großen Gebiet abgezogen sei, werde man mit Beirut zusammen die Grenzen festlegen und der UNO neue Landkarten vorlegen. So könnten die Shebaa-Farmen der erste Schritt zum Frieden sein. Vorausgesetzt, es bleibt die Bereitschaft zu Verhandlungen.