In den Fängen der Big Four
Die EU-Kommission und Eurostat werden von der US-Wirtschaftsprüfer-Lobby über den Tisch gezogen
Nur wenige Wochen ist es her, dass der US-Senat der Apple Inc. vorwarf, einen Großteil ihrer Gewinne unter anderem über Irland dem US-Fiskus vorzuenthalten. Dort hatte Apple einen Pauschalsteuersatz von zwei Prozent ausgehandelt. Apple? Mit Sicherheit nicht. Vier weltweit tätige Wirtschaftsprüfungskonzerne, Deloitte, KPMG, Ernst&Young sowie PWC (Price Waterhouse Coopers) haben sich seit Jahrzehnten darauf spezialisiert, alle Möglichkeiten der Bilanzierung zur Steuervermeidung maximal zu Gunsten ihrer Kunden einzusetzen. Sie werden "The Big Four" genannt.
Allein bei der Bilanzierung der 100 Konzerne des Financial Times Index (FTSE) haben sie einen Marktanteil von 99 Prozent. Apple ist ein Großkunde der Big Four. Angeblich möchte die EU-Kommission seit Ausbruch der Finanzkrise Steuerlöcher schließen. Tatsächlich sorgt sie systematisch für deren Beibehaltung - dies ist ein Ergebnis der folgenden Recherche über die Bilanzierungsrichtlinien in der EU. Nun soll auch noch die staatliche Bilanzierung (Engl.: Public Accounting) privatisiert werden.
Innerhalb der EU-Kommission ist Algirdas Šemeta für Steuern, Zölle, Betrugsbekämpfung und Bilanzierung zuständig. Sein Kommissariat veröffentlicht Zahlen, wonach den EU-Staaten jedes Jahr 2 Billionen Euro durch "Schattenwirtschaft" entgehen. Dieser Begriff ermöglicht es, Steuerhinterziehung genau dort nicht festzustellen, wo sie am größten und legalsten stattfindet, nämlich in der grenzüberschreitenden Bilanzierung internationaler Konzerne.
Aktuelles Zitat von EU-Kommissar Šemeta, der von den europäischen Steuerzahlern finanziert wird:
Um die Unternehmen zu entlasten, müssen wir steuerliche Hindernisse für grenzüberschreitend tätige Unternehmen beseitigen und die Befolgungskosten senken.
Beseitigen? Gab es denn etwa für Apple Inc. und Google Inc. bisher belastende Hindernisse? Fragt man in Bilanzierungsfragen im Büro des EU-Präsidenten José Manuel Barroso an, so verweist dieser auf die Zuständigkeit von Šemeta. Aber auch Šemeta lässt eine Interviewanfrage von Telepolis ganz unbeantwortet. Er verweist stattdessen auf die Zuständigkeit von Eurostat. Dort dient der Franzose François Lequiller als Direktor für Government Finance Statistics.
Im Telefongespräch räumt Lequiller ein, dass seine Behörde bereits seit zwei Jahren von den Lobbyisten der IFAC (International Federation of Accountants) bedrängt wird, die 27 EU-Staaten dazu zu zwingen, mit Milliardenkosten ihre nationale Bilanzen auf den von ihnen selbst entwickelten Standard IPSAS (International Public Sector Accounting Standards) umzustellen.
Liebe Telepolis-Leser!
Dieser Bericht über die Manipulation der Finanzdaten der EU und den Einfluss einer US-Lobbyorganisation auf EU-Kommission und Eurostat beruht auf umfangreichen und zeitaufwändigen Recherchen. Alexander Dill wird am 29. und 30. Mai selbst an der Eurostat-Tagung teilnehmen und danach weiter berichten. Da unsere Artikel oft nur 48 Stunden in der Diskussion sind und wir keine angeschlossene Printausgabe haben, benötigen wir zur Verbreitung unserer Rechercheergebnisse auch Ihre Mithilfe. Verbreiten Sie also bitte den Link unter Kollegen, Freunden und auch in Blogs und Foren.
Vielen Dank, Ihre Telepolis-Redaktion.
Am 12. April 2012 schrieb die IFAC einen Brief an Lequiller, in der sie Eurostat dringend aufforderte, den Standard in der EU einzuführen. Bisher konnte der in den USA ansässige und von den Big Four finanzierte und kontrollierte Weltverband der Bilanzprüfer (IFAC) erst Malta, Spanien und die baltischen Staaten als Kunden gewinnen.
Es gelang Telepolis, ein Interview mit dem Vorsitzenden des 18-köpfigen IPSAS-Boards, dem Schweizer Professor Andreas Bergmann zu führen. Wie Bergmann in entwaffnender Offenheit einräumt (siehe Interview: Versprechen auf bessere Bonität und niedrigere Zinsen), sollen die neuen Bilanzierungsstandards mit den Drohungen eingeführt werden, die Staaten würden ohne IPSAS-Bilanz nicht nur höhere Zinsen zahlen, sondern stünden auch in der Gefahr, die von der EU angedrohte Strafe in Höhe von bis zu einem halben Prozent ihres Inlandsproduktes zu bezahlen, die sie maximal bei "nicht regelformer Berichterstattung" berappen müssen.
Diese Strafe wurde natürlich bisher ebenso wenig verhängt, wie die Strafen bei Überschreitung des Maastricht-Kriteriums. Sie sind Teil der Rhetorik von reformunwilligen und reformunfähigen europäischen Institutionen, die sich als Zuchtmeister geben, um an Autorität zu gewinnen.
Die Wirtschaftlichkeit des neuen Standards, dessen Einführungskosten von der EU-Kommission selbst auf 50 bis 150 Millionen Euro pro Staat und auf bis zu 0,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes geschätzt werden - dies steht in einem Brief der Kommission vom 06.03.2013 an den Europäischen Rat und das Europäische Parlament - beruht also in erster Linie darauf, dass für die Nichteinhaltung der Standards Sanktionen der EU und "der Märkte" in Form höherer Zinsen drohen.
Dass allerdings die Märkte schlechtes nationales Wirtschaften mit höheren Zinsen "bestrafen", war in der Vergangenheit nicht so. Vielmehr bewerteten die Anleihenkäufer gleich neun Jahre lang, also von 2001 bis 2009, die deutsche Haushaltspolitik genauso wie die die griechische, spanische, portugiesische und italienische.
Erst 2010 rief man einen Zinsalarm aus, als dessen Folge das ausbrach, was seitdem als "europäische Schuldenkrise" bezeichnet wird. Dass die Protagonisten hochkomplexer Märkte, in denen zudem Staatsanleihen meist die Funktion haben, Bonität und Eigenkapital für andere Geschäfte nachzuweisen - für den Kauf von Staatsanleihen muss eine Bank kein Eigenkapital nachweisen -, die Zinsen ausgerechnet für arme Staaten senken, weil diese ihre Vermögenslosigkeit (siehe Interview) nun offenlegen, ist nicht zu erwarten.