In den Mühlen der afghanischen Justiz
Afghanistan droht ein Rückfall in die Scharia
Nachdem der afghanische Journalistikstudent Parvez Kambakhsh im Januar 2008 wegen Blasphemie zum Tode verurteilt wurde, ging er seine Unschuld bekundend in die Revision. Ein Berufungsgericht in Kabul Link auf /tp/blogs/8/117738 den Angeklagten nun zu 20 Jahren Haft. Damit ist der Fall noch nicht beendet. Kambakhsh letzte Chance ist der Druck der internationalen Gemeinschaft gegen das Unrechtsurteil und eine zweite Revision vor dem Obersten Gerichtshof in Kabul.
Der Vater, ein Buchhändler, rief seinen sechsundzwanzigjährigen Sohn, Sayed Yaqub Ibrahimi, eigentlich derzeitiger Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte aus Deutschland zurück nach Afghanistan. Er möge doch sein journalistisches Talent dazu nutzen, um seinen Bruder aus dem Gefängnis zu befreien, so die Bitte des unglücklichen Vaters für seinen dreizwanzigjährigen Sohn, Parvez Kambakhsh, der in den Mühlen der afghanischen Justiz festzustecken droht. Zufall oder politisches Kalkül?
Bis heute beteuert Parvez Kambakhsh seine Unschuld. Ihm wird vorgeworfen, einen Bericht von einer Farsi-Webseite heruntergeladen zu haben, in dem stand, die Fundamentalisten, die den Koran heranziehen, um Frauenunterdrückung zu rechtfertigen, würden die Ansichten des Propheten Mohamed falsch interpretieren. Diesen solle er unter den Studenten der Balkh-Universität in der nordafghanischen Stadt Mazar-e-Sharif verteilt haben. Parvez sieht sich weder als Frauenrechtler noch als vermeintlicher Autor des Textes. Die Unterschrift unter dem Text sei gefälscht. Nun hofft er nicht auf Begnadigung, sondern plädiert für Freispruch, der seine Unschuld bestätigen würde.
Sein Bruder Sayed Yaqub Ibrahimi, der seit 2004 als Chefreporter für das Institute for War and Peace Reporting (IWPR) über die Drogenmafia und Warlords schreibt (Die Macht der afghanischen Warlords), sowie die Direktorin Kean Mackenzies vom IWPR vermuten hinter dem Fall eine politische Verschwörung. Mit der Verhaftung seines jüngeren Bruders Parvez sollte Yaqub als Journalist mundtot gemacht werden. Afghanische Geheimagenten kamen an die Universität und setzten die Professoren unter Druck, um aus ihnen Zeugenaussagen herauszupressen. Die Professoren schwiegen. Doch ein Kommilitone hielt dem Druck nicht stand und sagte gegen Parvez aus.
Am 26. Oktober 2007 verhaftete der Inlandsgeheimdienst (NDS) Yaqubs Bruder Sayed Parvez Kambakhsh. Kambakhsh wurde in sechs verschiedene Gefängnisse geschleppt und sollte zuletzt in eine Anstalt mit Hochsicherheitstrakt außerhalb Kabuls verlegt werden, was jedoch sein Anwalt noch verhindern konnte. Parvez nahm zehn Kilo ab und erlitt Folter, wobei ihm gemäß den Gepflogenheiten der Scharia Hand und Nase gebrochen wurden. Doch die Folter ist gerichtlich nur schwer nachweisbar, da sich die Gefängnisbehörden geschickt äußern und angeben, er habe sich seine Hand nur verstaucht. „In den medizinischen Gutachten können keine Hinweise auf Folter gefunden werden, da die Misshandlungen Monate zurückliegen und die Ursachenkette schwer nachzuvollziehen ist“, erklärt Ulrich Delius von der Gesellschaft für bedrohte Völker.
Darauf folgte ein unfaires Gerichtsverfahren. Bei Prozessbeginn am 23.01.2008 waren neben dem Richter nur zwei Zeugen und der Angeklagte selbst zugegen. Die Verhandlung dauerte vier Minuten. Das Todesurteil lag schon zur Unterschrift bereit. Danach erklärte das Gericht das Urteil für gültig.
Parvez ging wegen schwerer Verfahrensfehler in die Berufung. Der Prozess wurde vor dem Obersten Gerichtshof am 18. und 25. Mai erneut aufgerollt und bis Oktober 2008 vertagt. „Afghanistan nennt sich heute demokratisch, wird aber von Fundamentalisten regiert. Mein Bruder hat nichts getan.“, verteidigt Sayed Yaqub Ibrahimi seinen Bruder Parvez. Am 21.10.2008 revidierte ein Berufsgericht in Kabul das Todesurteil und verhängte eine Haftstrafe von 20 Jahren für den Angeklagten.
Internationaler Druck
Viele Faktoren haben auf die Abmilderung des Urteils eingewirkt, denn sonst wäre Parvez „bereits im Gefängnis gestorben“, vermutet Martina Bäurle von der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte. Einerseits hat der Hauptsbelastungszeuge seine Aussage zurückgezogen, Parvez habe den islamkritischen Text geschrieben und verteilt. Der Zeuge gab zu, dieses Geständnis unter Druck geleistet zu haben, so Ulrich Delius, der in ständigem telefonischem Kontakt mit dem älteren Bruder Ibrahimi steht, der sich jedoch vor den Drohungen und Verfolgungen der Warlords schützen muss und keinen festen Wohnsitz in Afghanistan hat. Damit kann das Verfahren wieder aufgerollt werden und Berufung vor dem Obersten Gerichthof eingelegt werden. Zudem hat Ibrahimi im Herbst in 20 afghanischen Städten zeitgleiche Demonstrationen vor den Gerichten mit afghanischen Bürgerrechtlern initiiert.
Im Februar startete die britische Zeitung Independent eine Kampagne gegen das Todesurteil. Auch die Außenminister Steinmeier und Rice übten Druck auf die Regierung Karsai aus. Doch Karsai steckt derzeit in der Zwickmühle des Vorwahlkampfes, ein Jahr vor den nächsten Wahlen und will sich nicht als Marionette des Westens profilieren, ein Image, das ihn Stimmen in einem mehrheitlich muslimischen Land kosten würde. Damit zögert Karsai einen Urteilsspruch noch bis zu den nächsten Wahlen hinaus, wobei sein Ausgang aufgrund der widersprüchlichen Verschachtelung von moderner Rechtsstaatlichkeit mit islamischen Recht als ungewiss zu beurteilen bleibt.
Widersprüche im afghanischen Rechtssystem
Obgleich der Fall Kambakhsh große Aufmerksamkeit in Deutschland, Großbritannien und den USA erregt, zeichnen sich mit dem Gerichtsurteil auch deutlich die Grenzen von Rechtsstaat und Demokratie in Afghanistan ab. Überall im Land herrscht Rechtsunsicherheit. Diese ist auf die Überlappung verschiedener Rechtssysteme zurückzuführen. So existieren mindestens drei Rechtssysteme nebeneinander: das traditionell staatliche Recht, das islamische Recht und das Gewohnheitsrecht. Seit Anfang der siebziger Jahre hat sich zwar eine moderne Justiz mit Staatsanwaltschaft und Oberstem Gerichtshof etabliert, jedoch war die Rechtspraxis unter dem Taliban-Regime menschenrechtsverachtend.
Durch die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan vom Januar 2004 wurden erstmals Werte des Islam mit einer Demokratievorstellung nach westlichem Vorbild geschaffen, woraus die Semi-Rechtsstaatlichkeit sowie die Einhaltung völkerrechtlicher Mindeststandards im Land resultier4n (Weißer Rauch aus dem Zelt). Einfallstor trotz der Artikel 6 und 7 zum Schutz der Menschenrechte und Menschenwürde ist Artikel 130 der Verfassung (Kein Gesetz darf den Prinzipien des Islam widersprechen). Er ermöglicht die subsidiäre Anwendung der Scharia aufgrund der Generalverweisungsklausel, wobei die Gesetze den Grundsätzen des Islams nicht widersprechen dürfen.
Das islamische Recht ist bedeutend im Familien- und Strafrecht. Das afghanische Strafrecht regelt nur bestimmte Tatbestände, nicht aber die im islamischen Recht verankerten hadd-Delikte, sogenannte grenzüberschreitende Delikte, wie die Prophetenlästerung und Blasphemie. Diese werden nach islamischem Recht mit der Todesstrafe, Steinigung u.ä. geahndet.
Bei der Beurteilung von Rechtsfragen üben seit 2003 auch die traditionsreichen Räte der Religionsgelehrten (Ulema) beträchtlichen Einfluss auf die Rechtsprechung aus. Deren Mitglieder sind unterschiedlich ausgebildet und häufig auch Absolventen der Scharia-Fakultät der Universität Kabul. Vor allem in der Provinzverwaltung wurden 300 neue Richter, darunter islamische Geistliche eingesetzt. Die Religionsgelehrten, die in der Rechtssprechung hohes Ansehen genießen, verbitten sich jegliche Einmischung von außen und plädieren für die Urteilsvollstreckung in der ursprünglichen Form.
Die afghanische Gesellschaft steht mit dem Fall Kambakhsh vor einem Scheideweg: Rückfall oder Neubeginn nach westlichem Vorbild. Auch für Parvez wird in Hamburg zwischenzeitlich ein Stipendium bereitgestellt. Doch dafür müsste er erst einmal die Chance bekommen, aus den Mühlen der afghanischen Justiz freizukommen.