In der Mitte der Gesellschaft

Seite 2: Ging der Jude durch den Wald

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Handwerklich weniger gelungen als Armer Hansi, im Vergleich jedoch sehr aufschlussreich, ist ein Trickfilm von 1940. Er zeugt auch von der Schizophrenie vieler Leute, die sich für die NS-Propaganda hergaben. Ein wichtiger Teil dieser Propaganda waren die Kultur- und Naturfilme. In Berichten über Flora und Fauna, die Heimat und fremde Völker ließ sich die Ideologie unter dem Deckmantel des Dokumentarischen und vermeintlich "Wahren" verstecken. Die Firma Naturfilm Hubert Schonger produzierte außerdem noch Märchenfilme und ab 1938 auch Trickfilme. Wer im Fernsehen mal einen von den Märchenfilmen aus den 1950ern gesehen hat: der war ebenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit von Hubert Schonger. Nennenswerte Probleme, seine Produzententätigkeit nach dem Krieg fortzusetzen, hatte er nicht. Märchen sind nämlich Volksgut und darum unpolitisch. Und so nett.

An ihnen kann man gut nachvollziehen, wie eine bestimmte Weltsicht von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Kinder sehen im Dritten Reich Märchenfilme. Später haben sie selber Kinder. Die sehen auch wieder Märchenfilme, vom selben Produzenten. Die Eltern haben nichts dagegen, weil sie diese neuen Märchenfilme an die alten erinnern, die sie in ihrer eigenen Kindheit gesehen haben. Sie sind ihnen vertraut, und das Vertraute kommt einem unbedenklich vor - nicht weil es unbedenklich ist, sondern weil es vertraut ist. Das ließe sich ändern, indem man in eine Medienerziehung investiert, die den Namen auch verdient, und in Bildung ganz allgemein. So etwas ist mühsam, braucht Zeit und kostet Geld. Da verbieten wir doch lieber die NPD. Oder wenigstens diskutieren wir darüber, ob wir ein Verbotsverfahren einleiten sollen. Dann kann hinterher keiner sagen, dass wir es nicht probiert hätten.

Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt

Hubert Schonger wollte für die Kinder nur das Allerbeste. 1938 bat ihn der Film-Kurier (7.12.) zu einer Unterredung. Resultat: "Nur Familienväter sollten Märchenfilme drehen. Disneys ‚Schneewittchen’ ist ein Erwachsenen-Erfolg. Wir brauchen Märchenfilme für Kinder." Schonger forderte deutsche Verfilmungen von Märchen der Gebrüder Grimm oder von Wilhelm Hauff, aber bitte "zeitnah" und

ohne daß man die Dichtung vergewaltigt und etwa, wie es mir zum Schneewittchen-Film vorgeschlagen wurde, der bösen Stiefmutter jüdische Züge verleiht. Denn man darf nicht vergessen, daß unser Publikum noch nicht oder gerade eben erst schulpflichtig ist, infolgedessen manche Erwachsenenbegriffe überhaupt nicht verstehen würde.

1940 führte Schonger vor, wie er selbst zu verstehen war. Der im Trickfilmstudio von Heinz Tischmeyer hergestellte Schonger-Film Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt ist die Bebilderung des Gedichts von Friedrich Rückert, im Off - etwas verändert - von einer Frauenstimme im Tonfall einer Kindergartentante aufgesagt. Das Bäumlein steht im Wald und grämt sich, weil es spitze Nadeln an den Ästen hat, keine Blätter wie die anderen. Es wünscht sich goldene Blätter, dann schläft es ein. Am nächsten Morgen ist der Wunsch in Erfüllung gegangen.

Aber wie es Abend ward,
Ging der Jude durch den Wald
Mit Sack und großem Bart,
Der sieht die goldnen Blätter bald;
Er steckt sie ein, geht eilends fort
Und läßt das leere Bäumlein dort.

Schneewittchens böser Stiefmutter im Nachhinein "jüdische Züge" zu verleihen, lehnte Schonger ab, weil es "die Dichtung vergewaltigt". Gegen den Juden im Wald hatte er nichts, denn das war Werktreue. Ihn gibt es schon im Gedicht von 1813 (nach 1945 wurde er durch einen Bauern ersetzt). Im Film sieht er aus wie eine Karikatur aus dem Stürmer. Das ist dann wohl das "Zeitnahe", das Schonger gefordert hatte. In Büchern und Aufsätzen zum NS-Kino, die den Trickfilm erwähnen, wird immer auf diesem Juden herumgeritten. Geschenkt. Das ist das Offensichtliche. Ein großer Erkenntnisgewinn ist damit nicht verbunden.

Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt

Die NS-Propaganda, und Propaganda überhaupt, setzt auf den Gewöhnungseffekt, auf Assoziation und Kontextualisierung. Ich würde mich nicht zu sehr auf den karikierten Juden konzentrieren (und auch nicht auf die anderen Merkmale, die bei uns dazu führen, dass ein Film aus der Nazizeit als propagandistisch gilt: SS-Uniformen, Hitlerbilder, Hakenkreuze). Der Jude sagt primär etwas über die Zeit aus, in der dieser Trickfilm entstand. In einer totalitären Gesellschaft war die antisemitische Judenkarikatur normal, weil überall zu sehen. Heute ist die Wirkung eine völlig andere. Vermutlich würden sogar die Neonazis die Judenfigur in Schongers Film ablehnen (und sie gedanklich durch einen bärtigen Muslim oder einen türkischen Dönerverkäufer ersetzen).

Nicht berührt

Mich beunruhigen Passagen wie die, die ich in einer Bestandsaufnahme der Medienboard Berlin-Brandenburg GmbHzur "Animation in der Region" gefunden habe, veröffentlicht 2005 (Animated Films in Berlin-Brandenburg). Inhaltlich ist sie mehr oder weniger deckungsgleich mit vergleichbaren Stellen in anderen Publikationen, aus denen ich hier zitieren könnte. Sie zeigt, was dabei herauskommt, wenn man sich zu sehr auf die offensichtlichen Merkmale der NS-Propaganda einschießt. In der Bestandsaufnahme der Filmförderungsanstalt ("die erste Anlaufstelle für alle Kreativen der Film- und Medienwirtschaft in Berlin-Brandenburg") heißt es:

Während die Zeichenfilm GmbH bewusst nicht mit politischer Propaganda in Berührung kam, lässt sich das nicht für den Betrieb von Svend (Heinrich August) Noldan (1883-1978) sagen. Hier entstanden die Kartenanimationen ebenso wie die Trickteile für die Kriegsfilme "Feldzug in Polen" und "Sieg im Westen" sowie für den antisemitischen Hetzfilm "Der ewige Jude". 1940 produzierte die Naturfilm Hubert Schonger darüber hinaus einen farbigen Zeichenfilm, "Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt", in dem Animator Heinz Tischmeyer (*1913) die infame Stürmer-Karikatur eines Juden auftreten ließ.

Aha. Kriegsfilme und antisemitische Hetzfilme: Propaganda. Trickfilme mit Vögeln ohne Uniform: keine Propaganda. Die Zeichenfilm GmbH, die nicht mit ihr in Berührung kam, stellte Armer Hansi her. Drei Absätze weiter oben haben die Autoren der Bestandsaufnahme Armer Hansi noch als "Durchhaltefilm" bezeichnet. Haben sie das gleich wieder vergessen, oder zählt das nicht zur Propaganda? Und was wäre davon zu halten, wenn man "die infame Stürmer-Karikatur eines Juden" durch einen ganz normalen Juden ersetzen würde (wie immer der aussehen würde)? Wäre der Bäumlein-Film dann sympathischer? Wären die Herren Tischmeyer und Schonger dann auch nicht mit Propaganda in Berührung gekommen?

Das Dumme an solchen Passagen ist, dass sie sich schnell verbreiten. Ich habe mehrere Veröffentlichungen entdeckt, deren Autoren die Behauptung über die Zeichenfilm GmbH übernehmen. Seit 2011 gibt es Armer Hansi auf DVD (siehe unten). Jetzt kann sich jeder selbst ein Bild machen. Wer sich zu sehr auf Judenkarikaturen, Hakenkreuze und dergleichen konzentriert, kratzt nur an der Oberfläche. Ich würde das die museale Betrachtungsweise nennen, weil man etwas in den Mittelpunkt stellt, das die Nazis inzwischen selbst entfernen würden. Würde Goebbels heute leben, in einer Gesellschaft, in der solche Karikaturen eben nicht alltäglich sind, würde er das mit dem Juden ganz schnell ändern. Propaganda funktioniert nicht, wenn sie zu offensichtlich ist.

Die Geschichte vom Bäumlein im Wald geht noch weiter. Nach dem Raubzug des Juden ganz kahl, wünscht es sich Blätter aus Glas. Die zerbricht ein Wirbelwind. Der nächste Wunsch sind grüne Blätter. Die werden von einer Geiß aufgefressen. Am Ende wünscht sich das Bäumlein seine Nadeln zurück. Die kriegt es, und dann ist es froh. Jetzt kann es wieder stechen. Das Bäumlein ist glücklich und zufrieden. Es macht ihm auch nichts mehr aus, von den Laubbäumen und den Tieren im Wald ausgelacht zu werden. Das könnte man als eine Stärkung des Außenseitertums deuten, als ein Plädoyer für das Anderssein. Das Gegenteil ist der Fall.

Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt

Das Bäumlein ist von Gefahren umgeben wie der arme Hansi. Oder wie Nazi-Deutschland, das auch spitze Nadeln brauchte, und einen Käfig mit starken Gitterstäben, weil die anderen immer seine Blätter rauben wollten. Nazi-Deutschland musste sogar in andere Länder einmarschieren, um das zu verhindern. Nazi-Deutschland hatte auch gelernt, sich nicht darum zu kümmern, was die Nachbarn im Wald sagten (nur lachen taten die eher nicht). Und besonders schlimm war der Jude. Selbstverständlich ist das eine Stürmer-Karikatur, die man da sieht. Aber das Perfide ist die Konstruktion. Im NS-Kino gibt es sie oft. An ihr kann man sehen, wie geschickt das ist, weil die Propaganda auf doppelte Weise funktioniert.

Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt

Der Jude wird gleichzeitig "integriert" und ausgegrenzt. Die Geiß frisst das Laub, weil sie Milch für kleine Geißlein braucht, und dafür muss sie fressen. Der Wind ist eine Naturgewalt, die man nicht nach moralischen Kriterien beurteilen kann. Der Jude raubt aus Gier. Das macht sein Verhalten besonders verurteilenswert. Außerdem wird er durch Assoziation enthumanisiert. Er ist der einzige Mensch (der er aus Nazi-Sicht nicht war; in Der ewige Jude wird er mit Ratten verglichen) im Bäumlein-Film, umgeben von Tieren, Pflanzen und Naturgewalten. So wird er in der nicht-menschlichen Welt verortet. In so einer Konstruktion hat keiner eine Chance. Und man kann einsetzen, was gerade das Feindbild ist.

Am Ende wird dann wieder das Loblied auf das Spießertum gesungen. Das ist kein Aufruf zu Demut und Bescheidenheit. Die Botschaft: Sei brav und zufrieden mit dem, was du hast (und wir dir zugestehen), verlange keine Veränderung, sonst wird es dir schlecht ergehen. Fehlt nur noch einer von diesen Sprüchen, die man sich als Plastikschild oder in Holz geschnitzt an die Wand der guten Stube hängen kann: Schuster bleib bei deinem Leisten. Daheim ist es doch am schönsten. Damit wollen wir uns bescheiden, wie Heinz Rühmann sagt. Mein Vorschlag: Wie wäre es mit einer kommentierten DVD-Edition der Feuerzangenbowle, mit Armer Hansi und dem Bäumlein als Bonusmaterial. Man könnte noch den "Kulturfilm" Ewiger Wald (1936) mit dazunehmen, in dem aus geraden Bäumen Soldaten werden, weil es immer diese Feinde gibt, die einen bedrohen.

Durch so eine DVD würde man viel mehr über die Propaganda im Dritten Reich erfahren als durch die drei oder vier Ausschnitte aus Harlans Jud Süß, die unentwegt in Dokumentationen präsentiert werden, weil man sich da richtig gruseln und leicht distanzieren kann. Aber das geht schon darum nicht, weil sich die Murnau-Stiftung selbst finanzieren muss. Wenn sich herausstellen sollte, dass die Feuerzangenbowle - und vieles andere in solchen DVD-Reihen wie "Deutsche Filmklassiker" - gar nicht so nett und so harmlos ist, wie gern behauptet, könnte das schlecht für den Umsatz sein. Dann hätte die Stiftung bald gar kein Geld mehr für das, was ihre Aufgabe wäre: Filme praktisch zugänglich machen, nicht nur theoretisch. Schon jetzt leidet die Murnau-Stiftung darunter, dass deutsche Fernsehanstalten, früher einmal treue Abnehmer, lieber selber Heimatschnulzen, Wald- und Wiesen-Kitsch und Afrikaschmonzetten produzieren, statt Unterhaltungsfilme aus dem Dritten Reich (garantiert harmlos) und deren Aufgüsse aus der Nachkriegszeit (ohne Juden und Führerbilder) einzukaufen.

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