"In der Ukraine haben wir zurecht die Proteste gegen die Abwendung von der EU unterstützt"
Seite 2: "Es darf nicht mehr jedes Land einfach machen, was es will"
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Teilen Sie die Kritik an den Verhandlungen zum TTIP-Abkommen mit den USA?
Sven Giegold: Wir Grünen fordern den Stop der Verhandlungen, weil das Verhandlungsmandat auf der gesamten Breite die sozialen, ökologischen wie auch die Verbraucherschutzstandards zur Disposition stellt - und was noch schlimmer ist: Es schränkt in Zukunft die Möglichkeit ein, schärfere Standards festzulegen. Außerdem können Unternehmen Staaten auf Schadensersatz verklagen, wenn sie ihre Gewinnmöglichkeiten durch mehr soziale, ökologische oder Verbraucherschutzstandards eingeschränkt sehen.
Was mir hier aber wichtig ist anzumerken: Das TTIP-Verhandlungsmandat wurde - wie ganz ähnliche Mandate für das Abkommen mit Japan, Kanada und Singapur - stets mit der Mehrheit von Sozialdemokraten, Konservativen und Liberalen (beziehungsweise den Handelsministern der Parteien) gemeinsam beschlossen. Wenn nun einzelne Abgeordnete wie Herr Schulz auf Distanz gehen, wird dies erst ab dem Moment glaubwürdig, wenn sie auch ein neues Verhandlungsmandat fordern. Auf der Basis des jetzigen Verhandlungsmandats müssen diese Verhandlungen so schnell wie möglich beendet werden.
Wie groß ist die Chance, dass Sie ihre Position in der Fraktion auch durchsetzen und die Gefahr, dass die Grünen TIPP nicht doch zustimmen - so wie aktuell bei der Durchsetzungsrichtlinie zur Entsendungsrichtlinie und vorher bei anderen Richtlinien?
Sven Giegold: Das sind jetzt zwei grundverschiedene Sachen: Die Fraktionslinie zum TTIP-Abkommen ist ganz eindeutig, wir haben fast einvernehmlich das Verhandlungsmandat abgelehnt. Die Entsenderichtlinie zielt sozial aber in eine ganz andere Richtung, denn sie verschärft die Kontrollen gegen Lohndumping in ganz Europa. Die Entsenderichtlinie nicht zu beschließen, hätte im neuen Parlament bedeutet, mit schlechteren Mehrheitsaussichten am Ende schlechtere Rechte für die Arbeitnehmer zu bekommen.
Deshalb haben wir der Entsenderichtlinie zugestimmt und ich bin auch stolz darauf, weil dies dazu führen wird, dass die unsäglichen Arbeitsbedingungen wie zum Beispiel in deutschen Schlachthöfen, wo deutsche Unternehmen osteuropäische Arbeitnehmer ganz brutal ausbeuten, eingeschränkt werden. Die Entsenderichtlinie verpflichtet jetzt die einzelnen Länder dagegen vorzugehen. Das ist ein Fortschritt, während TTIP einen Rückschritt für die europäische Demokratie darstellt.
[Anmerkung: Bei der Gewerkschaft IG Bau sieht man das ganz anders]
Lässt die EU ihren Mitgliedsstaaten generell genug Spielräume, um eine den besonderen Begebenheiten adäquate Wirtschaftspolitik machen zu können? Falls nein: Was muss sich ändern?
Sven Giegold: Hier muss man zwei Sachen unterscheiden: Erst einmal gibt es im Rahmen der Binnenmarktregulierung viel zu oft den Versuch, Verschiedenheit durch EU-Regulierung gleich zu machen. Wir haben zum Beispiel in Deutschland die Sparkassen und Genossenschaftsbanken, die immer wieder durch Bankenregeln aus Brüssel bedroht werden, die wir dringend für die Großbanken brauchen, aber die kleinen kaputt machen. Es kann nicht Aufgabe des Binnenmarktes sein, die Unterschiede wegzubürsten.
Die andere Frage ist makroökomischer Natur: Vor allem innerhalb der gemeinsamen Währungsunion ist der Spielraum für eine eigenständige Wirtschaftspolitik eingeschränkt, denn die Nicht-Euro-Länder besitzen nach wie vor die Möglichkeit der Auf- und Abwertung ihrer Währung und haben auch noch andere wirtschaftspolitische Instrumente zu ihrer Disposition. Lediglich die Handelspolitik ist hier vergemeinschaftet.
Innerhalb der Euro-Zone ist hingegen die Geldpolitik eine gemeinsame. Das bedeutet aber umso mehr, dass wir bei der Fiskalpolitik (wie auch bei anderen Instrumenten der Wirtschaftspolitik) Koordinierung brauchen. Es darf nicht mehr jedes Land einfach machen, was es will. Das war der Fehler bei der Einführung des Euros: Man hat die Geldpolitik vergemeinschaftet und ansonsten die Mitgliedsländer im Wesentlichen ihre eigenen Entscheidungen treffen lassen. Das hatte fatale Folgen. In Zukunft müssen zentrale Punkte europäisch kontrollieren. Es kann zum Beispiel nicht mehr sein, dass Deutschland zehn Jahre lang seine Reallöhne nicht steigert und auf Kosten der Euro-Partnerländer immer höhere Überschüsse erwirtschaftet.
Es kann auch nicht sein, dass Länder wie Irland und Spanien es zulassen, dass eine Kreditblase mit einem Immobileinboom entsteht und hinterher das Land geschwächt ist, weil es sich damit massiv verschuldet hat. Vor allem jedoch muss Europa das Steuerdumping beenden. Wir brauchen Mindeststeuersätze überall in Europa und einen gemeinsamen Kampf gegen Steuerhinterziehung. Dann können alle Staaten in Europa ihre öffentlichen Defizite ausgleichen, ohne weitere einseitige Sparorgien zu betreiben.
Der Euro braucht eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik, weil der Euro insgesamt betrachtet ein Fortschritt ist: Denn, was viele vergessen, die Auf- und Abwertungspolitik war ja seinerzeit nicht lustig. Ich erinnere daran, dass dies regelmäßig mit großen Arbeitsplatzverlusten und Fehlinvestitionen in den Ländern verbunden war, die unter Aufwertungsdruck standen und George Soros das britische Pfund aus dem europäischen Währungssystem spekuliert hat. In einer globalen Ökonomie mit kleinen Währungen national zu agieren, ist kein Garant für wirtschaftliche Stabilität. Die Euro-Staaten müssen jetzt unter Schmerzen lernen, dass Länder, die eine gemeinsame Währung haben, ihre Politik gemeinsam abstimmen müssen.
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