Indien: Die tödlichen Folgen der Ausgangssperre

Dhaka, Bangladesch - Viele Wohlhabende tun so, als hätte es vor Covid-19 keinen Grund gegeben, radikal einzuschreiten. Bild: Gilbert Kolonko

In Indien bestätigt sich, was viele von Anfang an gesagt haben: Die knallharte Ausgangssperre ohne Plan und Vorbereitungszeit hat großen Schaden angerichtet. Die Armen trifft sie doppelt und dreifach - Covid-19 inklusive

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Am 19. April behauptete die indische Regierung, dass die Kurve der mit Covid-19 Infizierten abflacht. Experten bezweifelten dies mit der Begründung, dass bisher in Indien viel zu wenig getestet wurde, um Genaueres sagen zu können. Einen Tag später ging die Zahl der Neuinfizierten wieder steil nach oben. Bis zum 23. April hatten sich in Indien 23.500 Menschen mit Covid-19 infiziert. 722 sind am Virus gestorben.

Andere Zahlen sagen da schon mehr aus: Zwischen dem 14. Februar dieses Jahres und dem 29. Februar wurden in Indien 114.460 Tuberkulosefälle gemeldet. Vom ersten April bis zum 14. April waren es nur 19.145. Doch die Ärzte erklären sich den Rückgang nicht mit einer Eindämmung dieser bakteriellen Infektionskrankheit.

Ganz im Gegenteil befürchten sie, dass sich die Krankheit schneller ausbreitet und zu mehr Todesopfern führt, da sich die Erkrankten wegen der Ausgangssperre nicht mehr bei den Behörden melden und nicht gezielt behandelt werden können. Schon vor Corvid-19 starben jeden Tag 1.400 Menschen in Indien an Tuberkulose.

Vor Corona starben in Indien Millionen an Tuberkulose und Luftverschmutzung. Jetzt an Tuberkulose und Covid-19. Schon bald an Luftverschmutzung, Tuberkulose und Covid-19. Bild: Gilbert Kolonko Bild: Gilbert Kolonko

Dazu leiden auch viele der 77 Millionen Inder mit Diabetes besonders unter der Ausgangssperre.

Ebenso leiden Menschen mit Nierenerkrankungen und chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, weil auch sie ihre Medikamente nicht mehr regelmäßig geliefert bekommen: Zum einen weil die Lieferdienste wegen der Ausgangssperre nur stark beeinträchtigt arbeiten können. Zum anderen, weil auch die Krankenhaus-Mitarbeiter wegen Corona keine Zeit mehr haben, die Medikamente zusammenzustellen.

Polizeigewalt, Mangelernährung und Wanderarbeiter

Wie Indiens politische Verantwortliche die Menschen mit Polizeigewalt und Erniedrigungen von den Straßen hat prügeln lassen, ist auf vielen Videos zu sehen. Im nördlichen Problem-Bundesstaat Uttar Pradesh wurde am 16. April ein Jugendlicher von Polizisten totgeschlagen, weil er sich trotz Ausgangssperre an einem Kiosk mit Keksen versorgen wollte.

Dieser "unglückliche" Ausgang einer Erziehungsmaßnahme ist kein Einzelfall, hat aber wohl auch damit zu tun, dass die indischen Polizisten mit bis zu 14 Stunden täglich völlig überarbeitet sind.

Arbeiter einer Sandalenfabrik mit Chemikalien im Gesicht - "Hauptsache billig". Bild: Gilbert Kolonko

Auch das Problem der Millionen Wanderarbeiter hat sich nicht erledigt. Viele hängen nach der Ausgangssperre weiter mittellos in den Großstädten herum oder sind immer noch zu Fuß auf den Straßen unterwegs. Dazu gibt es Berichte von Wanderarbeitern, die in sogenannten Quarantäne-Lagern an Mangelernährung gestorben sind.

Der Tod eines Wanderarbeiters zeigt exemplarisch, was die Corona-Angst in Indien noch zusätzlich anrichtet: Der 45-jährige Ramji Mahto war nach 750 gelaufenen Kilometern in Varanasi auf der Straße zusammengebrochen. Zwei Stunden lang traute sich nicht einmal das Personal eines Krankenwagens ihn anzufassen, aus Angst sich anzustecken. Ramji Mahto war ohne Geld und Arbeit in Delhi gestrandet, als Indiens Premierminister am 24. März eine knallharte Ausgangssperre ausgesprochen hatte.

Am 14. April verlängerte Modi die Ausgangssperre bis zum 3. Mai. Am selben Tag strömten in Mumbai Tausende Wanderarbeiter aus ihren in der Regel überfüllten Unterkünften und forderten am Bahnhof-Bandra, endlich nach Hause zu dürfen.

Ähnliche Bilder gab es aus Ahmedabad, Hyderabad und weiteren Städten. Viele Gestrandete klagten, dass sie die versprochene Hilfe der Regierung auch nach drei Wochen nicht erreicht habe. Schnell wurden die Arbeiter von der Polizei auseinander geprügelt. Dann tadelte die Regierung nicht diejenigen, die es versäumt hatten, sich um die Wanderarbeiter zu kümmern, sondern die, die zu der spontanen Demonstration aufgerufen hatten.

Sündenbock-Politik und Arbeitsbedingungen

Dazu passten die Bilder von wütenden Wanderarbeitern nicht zur Selbstlobrede von Premierminister Modi am selben Tag, die im besten aller Fälle eine Aneinanderreihung von Halbwahrheiten war, wie die Kollegen des Magazins Caravan in einem Artikel Punkt für Punkt nachwiesen: Bis Anfang April lag der Wert der Menschen, die auf Covid-19 getestet worden sind, in Indien bei unter 0,05 auf 1000 Einwohner. Zuerst die Pandemie verschlafen, dann panikartig reagiert und von Anfang an zu wenig getestet, lautet das bisherige Fazit.

Einen Punkt hatten die Kollegen vom Caravan vergessen: Dass Narendra Modi die Fabrikbesitzer dazu aufrief, sich um die entlassenen Arbeiter zu kümmern. Abgesehen davon, dass die meisten Arbeiter schon vor drei Wochen und früher entlassen worden waren, will die Zentralregierung die Schuld auch noch bei den bösen, kleinen Fabrikbesitzern abladen.

Chennai: Die Wohlhabenden haben sich schon vor Covid-19 abgeschottet, jetzt noch mehr. Bild: Gilbert Kolonko

Dabei zeigte Prof. Mark Anne mit einer aufwendigen Studie über die Textilfabriken in Bangladesch den wahren Grund für die schlimmen Arbeitsbedingungen in Ländern der zweiten und dritten Welt auf: Es ist das herrschende Wirtschaftssystem in dem die westlichen Einkäufer die einzelnen Fabrikbesitzer durch Preisdruck zwingen, so billig wie möglich zu produzieren.

So wies Mark Anne mit seiner Studie ebenfalls nach, dass die westlichen Einkäufer ihre Versprechen nicht einhielten, die sie nach dem Einsturz des Rana Plaza-Gebäudes bei Dhaka gegeben hatten, bei dem am 24. April 2013 1129 Textilarbeiter gestorben waren. Anstatt, wie geheuchelt wurde, in die Sicherheit zu investieren, zahlten die westlichen Einkäufer schon vier Jahre nach dem Unglück im Schnitt 13 Prozent weniger für Textilien aus Bangladesch als vor der Katastrophe.

Schon vor Corona gehörte eine Maske in Indien in jeder Großstadt zur Normalausstattung. Bild: Gilbert Kolonko

So wundert es nicht, dass auch in Indien regelmäßig Fabriken einstürzen oder in Brand geraten, denn das Land konkurriert bei Textilien, Leder und vielem mehr im Preiskampf mit Ländern wie Bangladesch. Alleine in Delhi kam es seit Dezember 2019 zu drei solcher "Unglücke" mit bis zu 45 Toten.

In Indien sind 90 Prozent der arbeitenden Bevölkerung im informellen Sektor tätig, ohne jegliche Rechte oder Versicherungen. Indiens hindunationalistische Regierung hat dies gefördert, indem sie noch weitere Einschnitte bei den Arbeitnehmerrechten vornahm.

Modi: "Nicht verstanden, welches Land er da regiert"

Auf die indischen Realitäten wies auch Dr. Gopal Krishna von TOXICWATCH hin, als Narendra Modi am 24. März 1,38 Milliarden Menschen ohne Vorbereitungszeit in Quarantäne steckte. " Modi scheint auch im sechsten Amtsjahr nicht verstanden zu haben, welches Land er da regiert", sagte Krishna gegenüber Telepolis.

Auf die Frage, was Narendra Modi denn hätte machen sollen, antwortet er: "Sich die Zusammenstellung seiner Bevölkerung anschauen, dann hätte er sofort verstanden, wo dieser ungeplante lockdown hinführt."

Dann schiebt er genauso trocken nach: "Es wäre auch hilfreich, wenn wir nicht der zweitgrößte Waffenkäufer der Erde wären, sondern das Land, das am zweitmeisten ins staatliche Gesundheitssystem investiert." Mangels Schutzkleidung gab es in Indien Ärzte, die in Regenmänteln steckten und einen Motorradhelm auf dem Kopf hätten, um Covid-19 Patienten zu behandeln.

Niemand von Modis Kritikern behauptet, dass Indien schadlos aus der Corona-Krise herauskommt. Doch ein tiefer Blick der Journalistin Julia Schäfer in ein Slum in Delhi gibt einen Hinweis darauf, wie die großangekündigte Regierungshilfe der indischen Regierung in der Praxis aussieht. Gestützt werden ihre Aussagen auch durch eine Arte-Reportage.

Dass Schäfer nicht zu Übertreibungen neigt, konnte ich im Dezember 2018 beim großen Marsch der Bauern auf Delhi sehen, wo sie die einzige westliche Berichterstatterin war, die ich sah. Trotz Sympathie mit den Forderungen der Bauern hinterfragte sie die hohen Teilnehmerzahlen der Veranstalter kritisch und anderes ebenfalls.

Auch aus dem größten Slum in Mumbai kommen erschreckende Berichte. Neben Angst vor Hunger und fehlendem Wasser steigt in den dichten Hütten-Labyrinthen auch die Zahl der mit Covid-19 Infizierten an.

Auch viele Journalistinnen und Journalisten haben sich dort trotz Masken schon mit dem Virus angesteckt. So ist das halt, wenn man sich Vorort umschaut - eine/r muß nun mal nachschauen, sonst braucht es keinen Journalismus mehr (die paar Euro, die es gerade in Indien noch für Artikel gibt, sind bestimmt nicht die Motivation) und was sollen erst die ehrenamtlichen Helfer sagen, die in den Slums Essen und Medizin verteilen - die bringen sogar noch Geld mit.

Dengue-Fieber, verschiedenste Arten von Lungenentzündungen oder eine gefährliche Grippe sind nicht einmal die schlimmsten Dinge, die einem beim Hinterfragen vor Ort über den Weg "laufen" können.

Mit dem Hinterfragen fangen mittlerweile auch die indischen Leitmedien an, obwohl sie Narendra Modi am 24. März in einer Videokonferenz darauf eingeschworen hatte, kritische Berichte über die Corona-Maßnahmen der Regierung zu unterlassen. Abgeschaltete Fernsehkanäle und gestrichene Werbeeinnahmen zeigten, was mit denen passiert, die nicht hören wollen.

Trotzdem veröffentlichte am 18. April auch The Hindu einen Artikel, in dem klipp und klar gesagt wurde: Die Ausgangssperre trifft die Ärmsten des Landes am meisten und damit die Mehrheit der Bevölkerung.

Kolkata: Müllberg. Indische Realitäten. Bild: Gilbert Kolonko

Der Großindustrielle Rajiv Bajaj ging am 21. April sogar noch ein paar Schritte weiter und sagte, dass die größten Probleme erst mit Modis Lockdown begonnen haben. Doch bei ihm klang es mehr so, dass man die Wirtschaft nur machen lassen soll, dann hätten die Armen auch wieder zu essen. Dass die Luft in Indiens Städten mittlerweile so sauber ist, dass Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben die Berge des Himalayas zu sehen bekommen, scheint er nicht mitbekommen zu haben.

Die schlimmen Folgen, die der Klimawandel in Indien schon jetzt angerichtet hat, wohl auch nicht - Bajaj produziert Benzin- und Diesel-Fahrzeuge und geht davon aus, dass Verkauf bald wieder in die Höhe schnellen wird.

Positives gibt es jedoch auch zu berichten und nicht zufällig aus dem südlichen Bundessaat Kerala, dessen "kommunistische" Regierung schon lange mit der Zentralregierung von Modi auf Kriegsfuß steht. Selbst konservative Medien loben Kerala für die erfolgreiche Politik im Kampf gegen Covid-19.

Die Ausnahme: Keralas Gesundheitssystem

Eine der größten Trumpfkarten Keralas ist ein staatliches Gesundheitssystem, das mit zu den besten im Land gehört. Aber genau deswegen liegt man auch mit der Modi-Regierung über Kreuz, den Kerala lehnte es ab, Modis Krankenversicherung (Modicare) zu übernehmen, die von dessen Konzernfreund Anil Ambani angeboten wird. Schon 2018 waren 4,1 Millionen Bürger Keralas Teil der staatlichen Krankenversicherung, während es unter Modis geplanter Arogya Yoojana (AB-PMJAY) "nur" 1,85 Millionen Menschen Keralas waren.

Ob Kerala noch lange den Kampf durchhalten wird, ist jedoch fraglich, denn den Regierungen der Bundesstaaten geht das Geld aus und Modis Zentralregierung sitzt am längeren Hebel, wie der 20. April zeigte: Da hatte Kerala als erster Bundesstaat Lockerungen der harten Ausgangsbeschränkungen für die Zivilbevölkerung beschlossen, musste diese jedoch auf Druck der Zentralregierung zurück nehmen.

Nun hat Narendra Modi in den letzten 5 Jahren schon eins bewiesen: Weder schlechte Wirtschaftszahlen noch Rekordarbeitslosigkeit schon vor Corona können ihn erschüttern. Auch nicht eine katastrophale Geldumtauschaktion, noch eine dilettantisch umgesetzte Umsatzsteuerreform. Schon gar nicht eine Rekord-Ungleichheit bei den Vermögen, schließlich sind die meisten der großen indischen Konzerne (noch) auf seiner Seite.

Wie kein anderer versteht Modi es Sündenböcke zu liefern, um von seinen Fehlern ablenken. Im eigenen Land sind es die religiösen und ethnischen Minderheiten. Dazu ein ganzer Bundesstaat: Kaschmir. Außerhalb Indiens sind es China und Pakistan. Mittlerweile hat Modi sogar das letzte gute Verhältnis zu einem der Nachbarländer geopfert, indem er auch die illegalen Einwanderer aus Bangladesch als Sündenböcke benutzt.

Dazu ist Indien im aktuellsten Index der Pressfreiheit auf Platz 142 von 180 Ländern abgerutscht. Als Begründung schrieb Reporter ohne Grenzen wortwörtlich:

…Hasskampagnen gegen Medienschaffende bis hin zu Aufruf zum Mord sind in sozialen Netzwerken alltäglich und werden von Trollarmeen aus dem Umfeld der hindunationalistischen Regierung befeuert.

Das nutzt die Modi-Regierung auch jetzt in der Krise aus, um beinahe täglich unliebsame Journalisten, Studenten und Aktivisten im angeblichen "Kampf gegen den Terrorismus" anzuklagen.

So bleibt als Schlusssatz nur einer: Es ist schon "böse geworden in Indien" und es wird gewaltig böse werden.