Indien startet heute zweiten Versuch, eine Großrakete ins All zu katapultieren

400 Millionen Menschen leben unter der Armutsgrenze. Doch Neu-Delhi will in den Weltraum - sogar zum Mond

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Indien will unbedingt als sechste Nation in der Lage sein, geostationäre Satelliten in die Umlaufbahn zu katapultieren. Bislang können dies nur die USA, Japan, Russland, China und "Europa". Seit vergangenem August befindet sich Indiens neueste Rakete auf dem Abschussgelände der Insel Sriharikota. Ursprünglich sollte sie schon im Oktober 2000 mit dem 1,5 Tonnen schweren Versuchssatelliten GSAT-1 an Bord starten. Am 28. März wäre dies fast geschehen, hätte nicht eine Booster-Rakete gestreikt. Vor kurzem vermeldete die indische Raumfahrtorganisation ISRO überraschend, dass der Start am 18. April, also heute wiederholt werden soll. Gelänge das Unternehmen, würde das indische Raumfahrtprogramm einen gewaltigen Satz nach vorn machen

SHAR Startkomplex

Hätten Sie je gedacht, dass ein Staat in der Größe von Hessen oder ein Land mit nur 4,3 Millionen Einwohnern sich den Luxus erlauben würde, eine landeseigene Raumfahrtagentur zu bilden und auch zu unterhalten. Nun, bei den Staaten Israel mit seinen 21.000 Quadratkilometern Fläche und dem bevölkerungsarmen Norwegen trifft dies de facto zu. Nicht minder überraschend ist, dass die Austrian Space Agency ASA schon 1991 im Rahmen der Austromir-Mission den Flug ihres ersten "Austronauten" Franz Viehböck feiern durfte. Längst gehören die Israel Space Agency IAMI ebenso wie die Norwegian Space Center NSC, aber auch die österreichische ASA zumindest auf administrativer Ebene zu festen Raumfahrtgrößen.

Dass der Flug ins All stets ein immens teures, dafür aber eine national prestigeträchtiges Abenteuer ist, beweist ein Blick auf die anderen Raumfahrtbehörden. Neben der populären NASA und der gleichfalls bekannten ESA tummeln sich auf diesem Feld auch weitaus unbekanntere Kürzel, die allesamt für eine staatliche Raumfahrtorganisation stehen. Von der CNES ASI, NASDA, CSA über die NIVR und SNSB bis hin zur INPE sowie noch einigen anderen reicht das breite Spektrum.

Doch auch die beiden bevölkerungsreichsten Länder unseres Planeten partizipieren seit geraumer Zeit an dem Abenteuer Raumfahrt. Einerseits wäre da China, das seit 1950 Raumfahrt betreibt und voraussichtlich nächstes Jahr den ersten Taikonauten (Vgl.China kurz vor Sprung in bemannte Raumfahrt) ins All schießen wird. Andererseits wäre da noch die Atommacht Indien, die trotz eklatant sozial-wirtschaftlicher Spannungen und Differenzen auf dem besten Wege ist, sich zu einer festen Raumfahrtgröße zu wandeln.

Hochtechnisiertes Indien - verarmter Subkontinent

Indien, das als Subkontinent mit einer Größe von 3,29 Millionen Quadratmetern zwar flächenmäßig wesentlicher kleiner als Brasilien oder Australien, dafür aber nach China das bevölkerungsreichste Land der Erde ist, ist ein Staat der Gegensätze. Einerseits verbinden viele spätestens seit der von Kanzler Gerhard Schröder initiierten Green-Card-Aktion mit Indien eine High Tech Nation par excellence; andererseits gilt der Subkontinent nach wie vor als ein Entwicklungsland schlechthin. Die Statistik spricht in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. So liegt hier die Lebenserwartung gegenwärtig bei durchschnittlich 62,5 Jahren. Von den über eine 1 Milliarde Menschen, die zum größten Teil in Dörfern leben, müssen 400 Millionen mit weniger als zwei Mark am Tag auskommen. Daneben fördert die signifikant hohe Analphabetenquote von fast 50 Prozent (bei Frauen sogar 65,5 Prozent) und die Tatsache, dass auf dem Subkontinent nach Schätzungen bis zu 90 Millionen Kinder zur Arbeit gezwungen werden, nicht zuletzt aber das starre Kastensystem, das keine soziale Mobilität kennt, die Verarmung der Menschen auf dramatische Weise. Auf der anderen Seite verfügt Indien mit 162 Universitäten, 32 universitätsäquivalenten Einrichtungen und etwa 200.000 Absolventen pro Jahr über ein sehr großes akademisches Potential. Doch infolge der katastrophalen demographischen Entwicklung - Indien verzeichnet einen Bevölkerungsanstieg von jährlich über 2 Prozent - wird die Verelendung der Massen unaufhörlich voranschreiten.

PSLV-Rakete

Konnte Neu-Delhi bislang zwar noch alle schweren Hungersnöte und Epidemien meistern, so ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das soziale Pulverfass explodiert. Denn die Kluft zwischen Arm und Reich wird trotz oder gerade wegen des IT-Booms und der führenden Stellung Indiens im Bereich Software und Informationstechnologie und des wachsenden ausländischen Kapitals mitsamt Investorenschaft immer größer. Die Bedürftigen verarmen weiter; die Industrie steigert ihre Rendite. Mittlerweile boomt die Grundlagenforschung in den verschiedenen Entwicklungs- und Grenzbereichen von Wissenschaft & Technologie; zahlreiche große Forschungsgruppen auf Weltniveau (molekulare Biophysik, Molekularbiologie, Neurobiologie u.a.) expandieren unaufhörlich. "Doch von dieser Entwicklung profitiert nur eine kleine Minderheit der indischen Bevölkerung. Die große Masse in den Städten muss weiterhin ums Überleben kämpfen, ihre Chancen auf dem Weltarbeitsmarkt sind gleich Null", gibt der Leiter des terre des hommes-Büros in Pune/ Indien C.J. George zu bedenken.

Neues Trägersystem weltweit konkurrenzfähig

Ungeachtet dieser Misere soll die Raumfahrt das nächste wirtschaftlich-technologische Standbein Indiens werden. Gegenwärtig ist Indien gerade in der High-Tech-Weltraumforschung in der Lage, hochmoderne Kommunikations- und Fernerkundungssatelliten zu entwerfen, zu bauen und zu bedienen sowie Raumflugkörper der 1000 Kilogramm Klasse in die polare sonnensynchrone Umlaufbahn zu bringen. Wurde bislang der Großteil der indischen Kommunikationssatelliten mit amerikanischen, russischen oder europäischen Raketen gestartet, so forciert Indien im Rahmen ihres engagierten Raumfahrtprogramms die Entwicklung eigener noch leistungsstärkerer Trägerraketen. Von ihnen existieren bereits das SLV (Satellite Launch Vehicle), gefolgt vom ASLV (Advanced SLV) und PSLV (Polar SLV) und der GSLV, der jetzt in den Orbit geschossen werden soll.

Indien hatte zuerst 1980 erfolgreich einen Satelliten gestartet und 1988 mit Moskau einen Vertrag unterzeichnet, in dem festgelegt wurde, dass Russland seinem Vertragspartner bei der Entwicklung der Wasserstoff-Sauerstoff-Technologie helfen werde. Doch dieser Kontrakt wurde nach dem Zerfall der Ostblocks 1989 schnell wieder zur Makulatur. Als sich 1993 jedoch erneut eine indisch-russische Kooperation abzeichnete, intervenierten die Amerikaner. Moskau reagierte und lieferte statt des ursprünglich vorgesehenen Know-hows sieben komplette Raketenoberstufen mit dem russischen Antrieb an Indien.

Trotzdem scheiterte indes der jüngste Raketenstart des neuen indischen Trägersystem GSLV-D1 (Geostationary Satellite Launch Vehicle) am 28. März um 11.17 Uhr MEZ auf dem Raketenabschussgelände Sriharikota vor der Südküste Indiens, der live im indischen Fernsehen übertragen wurde. Die Rakete mit einem 1450 Kilogramm schweren Kommunikationssatelliten vom Typ G-Sat-1 an Bord spie zwar Feuer und Flammen, hob aber nicht ab, weil eines ihrer vier Triebwerke selbst in Flammen aufgegangen war. Da der Feststoffmotor der ersten Stufe der GSLV-D1 glücklicherweise noch nicht gezündet worden war, konnte der verhältnismäßig geringe Schaden schnell behoben und der Weltraumträger abermalig startklar gemacht werden. Heute ist es so weit: Das Startfenster ist günstig; es reicht bis zum 25. April.. Spielt das Wetter mit, wagt heute die größte Rakete, die je auf dem Subkontinent gebaut wurde, erstmals den Sprung in den Orbit. Bei einer erfolgreichen Mission wäre Indien dem anvisierten Ziel, Satelliten bis zu 2,5 Tonnen Gewicht in eine stationäre, also 36.000 Kilometer hohe Umlaufbahn zu katapultieren, einen entscheidenden Schritt näher gekommen.

Sollte heute die dreistufige fast 50 Meter lange und 402 Tonnen schwere Trägerrakete den Test mit Bravour meistern, würde Indien raketentechnologisch zumindest mit der ersten europäischen Ariane-Raketen-Version gleichziehen.

Derweil üben sich die Verantwortlichen in vorsichtigem Optimismus, nicht zuletzt deshalb, da man etwa zehn Jahre in die Entwicklung der schweren Rakete und umgerechnet etwa 300 Millionen Dollar investiert hat. "Wir haben die Rakete extensiv am Boden getestet", meinte denn auch Dr. K. Kasturirangan, der Chef der Indian Space Research Organisation ISRO. "Aber es ist ein Unterschied zwischen dem, was am Boden geschieht und dem eigentlichen Flug."

Indische "GSLV-D1" Rakete beim Start (der abgebrochen wurde)

Langsam aber sicher werden die indischen Trägersystemen auch im Ausland als ernsthafte, billige und sichere Alternative eingestuft. Vieles spricht dafür, dass die neue Rakete zu einer preisgünstigen und durchaus ernst zu nehmenden Konkurrenz zu anderen Raketen ihrer Größenklasse avancieren könnte, zumal nach NASA-Angaben die Kosten, um ein Kilo Nutzlast auf die 36.000-Kilometer-Bahn zu hieven, "nur" 15.000 Dollar betragen (zum Vergleich: 20.000 Dollar pro Kilogramm bei der NASA).

Jedenfalls zeigt sich Kasturirangan sehr zuversichtlich: "Wenn wir uns eine Marktnische bei den Starts von Zweitonnensatelliten sichern können, werden sich viele Nationen für unsere Rakete interessieren."

ISRO plant Flug zum Mond

Bereits vor zwei Jahren ging Neu-Delhi mit der Meldung an die Öffentlichkeit, dass sie bis zum Jahr 2008 ein Forschungssatelliten zum Mond schicken wolle, der den Trabanten mehrere Jahre lang umkreisen, ja sogar auf dem Mond landen solle, um den Kern des Erdtrabanten zu untersuchen. Doch diese Pläne haben indes eine heftige Debatte über Kosten und Nutzen ausgelöst, da die Ausgaben für das Forschungsprogramm sich auf 3,5 Milliarden Rupien (175 Millionen Mark) belaufen würden. "Wenn wir damit weitermachen, wird die Welt sehen, dass Indien zu einer komplexen Mission fähig ist", so ISRO-Chef Dr. Kasturirangan. H. S. Mukunda vom Indischen Wissenschaftsinstitut sagte dagegen, das Projekt sei töricht. "Was andere vor 30 Jahren getan haben, versuchen wir jetzt zu tun". Statt dessen solle Indien lieber in seine Satelliten und die Trägerraketen investieren, um damit kommerziellen Erfolg zu erzielen.

Nach indischen Medienberichten könnte die Erfahrung mit großen Trägerraketen auch für die Entwicklung von militärischen Interkontinentalraketen genutzt werden. Bislang hat Indien nur Kurz- und Mittelstreckenraketen, die auch Atomsprengköpfe transportieren können. Indien hatte im Mai 1998 Atomtests unternommen, Pakistan hatte zwei Wochen später nachgezogen. Die indische Regierung hat angebliche Pläne für den Bau von Interkontinentalraketen stets bestritten.