Inflation in Deutschland so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr

Sie hat mit 4,1 Prozent eine weitere Marke überschritten und wird kurzfristig nicht sinken, sondern wegen der Energiepreise vermutlich weiter steigen

Es war zu erwarten, dass auch die offizielle Inflationsrate in Deutschland eine Vier vor das Komma bekommen würde. Nun hat das Statistische Bundesamt (Destatis) in einer ersten Schätzung bekannt gegeben, dass die Verbraucherpreise im September offiziell um 4,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat angestiegen sind.

Man muss 28 Jahre bis ins Jahr 1993 nach der Wiedervereinigung zurückschauen, um eine noch höhere Inflationsrate (4,3 Prozent) zu finden. Die Inflationsrate steigt weiter an. Im August lag sie bei der ersten Schnellschätzung noch bei 3,8 Prozent. Sie musste aber später auf 3,9 Prozent nach oben korrigiert werden. Es ist nicht auszuschließen, dass dies erneut der Fall ist, sie könnte sich also noch näher an die Marke von 4,3 Prozent heranschieben.

Die Deutsche Bundesbank hatte kurz vor der Veröffentlichung der neuen Zahlen geschrieben, das sie "ab September bis zum Jahresende vorübergehend Raten zwischen vier Prozent und fünf Prozent für möglich" hält. Sie meint aber, was vermutlich mehr eine Hoffnung ist, dass "die Teuerung Anfang 2022 zwar spürbar nachlassen wird, aber bis zur Jahresmitte noch bei über 2 Prozent liegen wird".

Diese als Einschätzung verkaufte Hoffnung, die auch von den Notenbanken zu hören ist, wird inzwischen von Experten infrage gestellt. "Die Argumentation der Notenbanken, der Teuerungsschub sei nur vorübergehend, bekommt zusehends Risse", titelte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) gerade. "Die Inflation ist gekommen, um zu bleiben", führt sie weiter aus. So wird zum Beispiel der Chief Investment Officer der Saxo Bank, Steen Jakobsen, mit folgenden Worten zitiert:

Die Notenbanken sollen endlich aufhören, uns weismachen zu wollen, dass der weltweite Inflationsanstieg nur vorübergehender Natur sei.

Steen Jakobsen, Saxo Bank

Es ist inzwischen also geklärt, dass es nicht nur "German Angst" vor der Inflation war, mit der diverse Ökonomen die Inflationstendenzen im Frühjahr abzuqualifizieren versuchten. Über die starke Inflationsentwicklung ist man offensichtlich auch bei der Europäischen Zentralbank (EZB) überrascht.

Im Wissen um die schlechten Inflationszahlen zum vergangenen Wochenende hatte sich die EZB-Chefin Christine Lagarde schon im Vorfeld um Schadensbegrenzung bemüht. Sie sprach von einer großen Herausforderung für die Notenbank, die jetzt allerdings nicht "überreagieren" dürfe.

Das sagte sie am vergangenen Dienstag zur Eröffnung des zweitägigen EZB-Forums zur Geldpolitik. Es gebe nun eine "atypische Erholung" der Wirtschaft, die zu einem Anstieg der Inflationsraten führe. Sie erwartet derweil eine schnelle Erholung:

Wir gehen davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt des Euroraums bis Ende dieses Jahres das Vorkrisenniveau übertreffen wird - drei Quartale früher, als wir im vergangenen Dezember prognostiziert hatten.

Christine Lagarde

Und die Zinsen?

Das wäre aber eher ein guter Grund, endlich die Zinsen zu normalisieren, statt weiter im verschärften Krisenmodus mit Null- und Negativzinsen sowie umfassenden Anleihekäufen zu bleiben. Doch von einer Normalisierung ist in Frankfurt keine Spur, lieber verschiebt man in der EZB vorsorglich die Zielmarke und spricht davon nun auch mittelfristig "stärkere Abweichungen nach oben oder unten" bei der Inflation, die man über einen längeren Zeitraum akzeptieren will.

So hatte die EZB schon im Sommer ihr Inflationsziel angepasst. Sie ist nun bereit, zeitweise Inflationsraten zu akzeptieren, die "moderat über dem Zielwert" (nun 2 Prozent) liegen. Bisher sollte die Quote eigentlich unter der Marke von 2 Prozent liegen. Der Unterschied scheint gering, ist er aber nicht, wie an dieser Stelle schon ausgeführt wurde.

Die Inflationsrate ist auch in Deutschland oder im Euroraum ohnehin schon deutlich höher als offiziell angegeben wird, da die "Vermögenspreisinflation" überhaupt nicht in die Inflationsrate einbezogen wird. Die aufgeblähte Geldpolitik der Notenbanken bildet sich aber schon seit langer Zeit auch an den Börsen ab. Telepolis hatte ebenfalls bereits angeführt, dass die Inflationsrate in den USA schon länger sogar über der Marke von fünf Prozent liegt.

USA: Inflationsquote ist ehrlicher

Auf der anderen Seite des Atlantiks lag sie im August bei 5,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Sie ist damit gegenüber dem Vormonat (5,4 Prozent) leicht zurückgegangen. Die Quote ist in den USA etwas ehrlicher als in der Eurozone, da in den USA auch Hauspreise, die zum Beispiel in Deutschland signifikant gestiegen sind, teilweise in die Berechnung einfließen.

Auch für einfache Verbraucher in Deutschland dürfte die reale Inflation deutlich höher ausfallen, als die offizielle hohe Quote von 4,1 Prozent angibt. Denn nicht nur Energie ist viel teurer geworden, sondern auch die Preise für Nahrungsmittel sind deutlich angestiegen und für beide Posten geht bei Menschen mit geringen Einkommen gewöhnlich besonders viel Geld drauf.

Sehr stark war der Preisanstieg für Öl, Gas und Benzin. Energie hat sich insgesamt um fast 15 Prozent in Deutschland verteuert. Aber auch bei Nahrungsmitteln ist schon ein überdurchschnittlicher Anstieg von fast 5 Prozent festzustellen.

Man darf deshalb davon ausgehen, dass die letzte Inflationsspitze von 4,3 Prozent aus dem Jahr 1993 überschritten wird. Dass die Marke von fünf Prozent gerissen wird, auf die die Teuerungsrate 1992 gestiegen war, ist wahrscheinlich. Ob sogar die Marke von 6,3 Prozent erreicht wird, auf die die Rate mit der Ölkrise 1981 gestiegen war, kann auch nicht ausgeschlossen werden. Denn klar ist, dass sich steigende Energiepreise mittelfristig in steigenden Preisen für Güter und Dienstleistungen niederschlagen, wie in den Ölkrisen der 1970-er und 1980-er Jahren.

Inzwischen ist auch offensichtlich, dass die Inflation nicht nur in Deutschland besonders hoch ist - sie wird nun von Eurostat auch für die Eurozone auf 3,4 Prozent geschätzt. Im August lag die offizielle Teuerungsrate im Euroraum noch bei 3 Prozent.

Die Geldpolitik der EZB

Neben Deutschland sticht unter den großen Euro-Ländern vor allem Spanien hervor. Auch dort steigt die Inflationsrate stark und wird inzwischen auf mindestens 4 Prozent geschätzt. Besonders hoch ist sie inzwischen in den baltischen Staaten Estland (6,4 Prozent) oder Estland (6,3 Prozent) und auch die Slowakei sticht mit 5,1 Prozent hervor.

Eine besondere Bedeutung kommt mit Blick auf die Inflationsrate auch der zukünftigen Geldpolitik der Notenbanken zu, die ja bisher weiter extrem expansiv und damit inflationstreibend ausgerichtet ist. Die durch die Geldschwemme provozierte Vermögenspreisinflation scheint derweil zurückzugehen. Inzwischen entweicht offenbar Luft aus der Blase an den Kapitalmärkten.

Der Frankfurter Leitindex war monatelang von Allzeithoch zu Allzeithoch gestürmt. Lag er zum Jahresbeginn noch bei 13.890 Punkten, in etwa schon wieder auf dem Niveau vor dem Ausbruch der Covid-Pandemie, schaffte er es Mitte August sogar, die Marke von 16.000 Punkten zu überschreiten.

Aber genau mit der Tatsache, dass es nun zu einer Normalisierung in der Covid-Krise kommt, geht er inzwischen langsam in die Knie. Am vergangenen Freitag ging der DAX nun mit 15.236 Punkten aus dem Handel.

Der große Aufschwung lässt auf sich warten

Denn aus verschiedenen Gründen zeigt sich, dass der große Aufschwung in diesem Jahr jedenfalls nicht, wie allgemein erwartet, kommen wird, wobei Lieferengpässe - die ebenfalls inflationstreibend wirken - auch eine Rolle spielen.

Einige Beobachter sehen deshalb schon die Gefahr des "Schmetterlingseffekts" aufziehen. Thomas Meier, Portfoliomanager bei MainFirst Asset meint, dass eine "Disruption der Lieferketten" zu den kleinen Veränderungen mit großen Wirkungen führen könnten.

Dass die Wirtschaft wieder durchstarten würde, wenn es gelingen würde, die Pandemie wieder in den Griff zu bekommen, erweist sich inzwischen als Trugschluss. Das hatte die große Mehrheit der Ökonomen noch im Frühjahr gepredigt. In Spanien musste die Regierung gerade eingestehen, dass ihre bisherigen Prognosen viel zu optimistisch waren.

Die Statistiker im Königreich gehen nun davon aus, dass die Wirtschaft im zweiten Quartal nur um schwache 1,1 Prozent gewachsen ist, dabei waren zuvor 2,8 Prozent erwartet worden. Hier machen sich, wegen der enormen Strompreise und der Spekulation am Strommarkt, auch verstärkt Konjunktursorgen breit. Es wird befürchtet, dass die hohen Energie- und extremen Strompreise die Wirtschaft abwürgen könnten.

Das Münchner ifo-Institut hat gerade seine Wachstumsprognose für Deutschland im laufenden Jahr um fast einen Prozentpunkt auf 2,5 Prozent gesenkt und spricht dabei auch das Problem der Lieferketten an. "Die ursprünglich für den Sommer erwartete kräftige Erholung nach Corona verschiebt sich weiter", sagt ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser.

Es geht nun davon aus, dass es im kommenden Jahr eine kräftige Erholung um 5,1 Prozent geben wird. "Derzeit schrumpft die Produktion der Industrie als Folge von Lieferengpässen bei wichtigen Vorprodukten." Die Konjunktur sei gespalten, meinte er.

Weniger Geld für die Haushalte

Ob die Entwicklung tatsächlich im kommenden Jahr deutlich besser wird, bleibt abzuwarten und darf mit Fragezeichen versehen werden. Denn die hohe und steigende Inflation bringt auch mit sich, dass den Haushalten das Geld aus der Tasche gezogen wird, die durch Lohnerhöhungen nicht aufgefangen werden. Kaufkraft wird abgezogen, der Konsum könnte darüber alsbald schwächer werden. Zudem wird der Druck auf die Notenbanken stärker, die Geldschwemme zurückzufahren, was auch die Konjunktur belasten dürfte.

Zaghaft beginnt die EZB schon, auf die Entwicklung zu reagieren. Sie will die Anleihekäufe nun im vierten Quartal etwas zurückfahren. Der Erwerb von Staats- und Unternehmenspapieren soll im Rahmen des Corona-Notkaufprogramms PEPP "moderater" als bisher ausfallen, wurde auf der letzten Sitzung des EZB-Rats entschieden.

Dabei wird so getan, als wären die Anleihekäufe allein der Corona-Lage geschuldet. Dabei waren die sogar wieder ausgeweitet worden, als sich schon vor der Corona-Krise Rezessionszeichen mehrten. Real hatte die EZB sie nie eingestellt.

Angesichts der Tatsache, dass die Inflation im Euroraum steigt und inzwischen auf 3,4 Prozent angelangt ist, ist diese Aussage der EZB einigermaßen skurril:

Um sein symmetrisches Inflationsziel von zwei Prozent zu unterstützen und im Einklang mit seiner geldpolitischen Strategie, geht der EZB-Rat davon aus, dass die EZB-Leitzinsen so lange auf ihrem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau bleiben werden, bis er feststellt, dass die Inflationsrate deutlich vor dem Ende seines Projektionszeitraums zwei Prozent erreicht und sie diesen Wert im weiteren Verlauf des Projektionszeitraums dauerhaft hält, und er der Auffassung ist, dass die Entwicklung der zugrunde liegenden Inflation hinreichend fortgeschritten ist, um mit einer sich mittelfristig bei zwei Prozent stabilisierenden Inflation vereinbar zu sein.EZB

Die EZB räumt dabei gleichzeitig auch ein, "dass die Inflation vorübergehend moderat über dem Zielwert liegt". Was moderat ist, sagt sie natürlich nicht. Auch mittelfristig ist ein sehr dehnbarer Begriff. Ist eine Inflation wie in Deutschland oder Spanien noch moderat, die doppelt so hoch wie das Inflationsziel ist?

Auch in Italien und Frankreich liegen die Raten schon 50 Prozent über der Zielmarke. Sind solche Werte ein halbes Jahr, ein Jahr oder zwei Jahre für die EZB akzeptabel? Klar ist, dass die Zweitrundeneffekte zunehmen werden, sie sich in höheren Lohnforderungen in Tarifauseinandersetzungen umso stärker niederschlagen werden, je länger die Inflation hoch bleibt.

Der Streik der Lokführer weist schon in diese Richtung. Da sogar die Bundesbank davon ausgeht, dass die Inflation im Euroraum weiter steigen wird, wird auch der Druck auch auf die EZB unter Christine Lagarde weiter zunehmen, die expansive EZB-Geldpolitik endlich zu drosseln.

Nullzins-Politik aufgeben

Erste Länder tun das längst, so hat Norwegen gerade die Nullzins-Politik aufgegeben und den Leitzins einen Viertel-Punkt auf 0,25 Prozent erhöht, um der steigenden Inflation zu begegnen. Die war in Norwegen mit 3,4 Prozent auf den Wert im Euroraum gestiegen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass dort in vier weiteren Schritten bis Ende 2022 der Zinssatz auf 1,25 Prozent normalisiert wird.

Allein ist das nordeuropäische Land damit nicht. Die tschechische Nationalbank hat ihren Leitzins gerade auf 1,5 Prozent verdoppelt, weil die Inflation auf 4,1 Prozent auf einen Wert wie in Deutschland gestiegen ist. In Ungarn wurde der Leitzins zuletzt sogar schon wieder auf 1,65 Prozent angehoben. Auch andere Länder haben schon die Leitzinsen erhöht oder stehen vor einer wahrscheinlichen Leitzinserhöhung wie in den USA.

Die US-Notenbank hatte, anders als die EZB, schon nach der Finanzkrise die Zinsen wieder normalisiert, bevor sie dann durch Trump nach unten geprügelt worden waren, um vor den Wahlen die Konjunktur anzukurbeln.

Zwar hat die FED noch keine Zinserhöhung und Drosselung der Anleihekäufe beschlossen, doch zumindest eine Drosselung der Anleihekäufe, die schon länger debattiert wird, wird auf der nächsten Zinssitzung im November erwartet. Die US-Notenbank bereitet die Finanzmärkte auch immer deutlicher auf eine Zinserhöhung vor, die vermutlich aber erst im kommenden Jahr realisiert wird.

Das wäre ein Jahr früher als bislang angepeilt. Die Lagarde-EZB zeigt allerdings noch keine Signale an, dass alsbald aus den Anleihekäufen ausgestiegen werden oder sogar die Leitzinsen angehoben werden könnten.