Innenansichten der Hölle

Über "Wovon die Wölfe träumen" von Yasmina Khadra

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Nach 9-11 wurde viel über den islamistischen Terrorismus und seine Ursachen geschrieben. Die soziale Lage in den Ländern, in denen er grassiert, die militanten Tendenzen einer missionarischen Erlösungsreligion, die Unterstützung genau der militantesten dieser Tendenzen durch den Westen (aus geopolitischen Gründen): Das alles war in mehr oder weniger tiefgründigen Kommentaren, Artikeln und ganzen Büchern Thema. Von Yasmina Khadra ist jetzt ein Buch auf deutsch erschienen, das genau dieses Thema in Romanform aufarbeitet. Die Expertise von Khadra ist unbestreitbar: Er hat als algerischer Armeeoffizier den Terror jahrelang bekämpft.

Nafa Walid ist eigentlich nicht zum Terroristen geboren. Der Sohn eines pensionierten Eisenbahners, aufgewachsen in der Kasbah von Algier, versteht sich als Künstler. Zum Film will er. Eine kleine Statistenrolle in einem völlig unbedeutenden Streifen hat ihn davon überzeugt, dass machbar sein muss, wovon er so sehnsüchtig träumt: Ein Star zu werden, den "Mond vom Himmel zu holen", wie er es nennt. Aber vorderhand will es nicht so recht klappen mit der Filmkarriere, und so sieht sich Nafa gezwungen, bei den reichen Leuten als Chauffeur zu jobben. Die atemberaubende Gefühlskälte und soziale Verachtung für alle Niederen, die in diesen Kreisen herrschen, verstören den verträumten Jungen bis ins Mark, und diese Verstörung erreicht einen traumatischen Höhepunkt, als er gezwungen wird, an der Beseitigung einer Mädchenleiche mitzuwirken.

Der Sohn des allgewaltigen Arbeitgebers hat eine kleine Prostituierte zu sich nach Hause geschleppt, und sie ist an einer Überdosis Heroin gestorben - oder von dem Playboy ermordet worden, aber auch das ist egal. Wichtig ist nur, dass der Makel getilgt wird. Die Brutalität, mit der die Leiche vor dem Verscharren unkenntlich gemacht wird, frisst sich tief in die Seele Nafas, und als er sich unbeholfen gegen seine Komplizenrolle wehrt, wird auch er beinahe getötet. Der Freund, der ihm den Job als Chauffeur beschafft hat, rät ihm kaltblütig, den Vorfall einfach zu vergessen, die Polizei würde am Ende ihn selbst für den Hauptverdächtigen halten, sowieso kämen solche Sachen alle Tage vor, er solle sich nicht so anstellen.

Nafa kann erst "vergessen", als er einen Ausweg aus seiner psychischen Krise findet: die Religion. Der bis dahin in seinem Leben unbedeutende Islam gibt ihm scheinbar die Möglichkeit, den schockierenden Schmutz,den er erfahren hat, abzuwaschen. Seine Sehnsucht nach einer höheren Berufung wird durch einen populären Imam gestillt, der ihm wie die Pfaffen aller Jahrhunderte und aller Religionen versichert, seine Sünden seien hinfällig, wenn er von nun an den rechten Weg einschlage:

"Du hast eine Richtschnur und Millionen Gründe, zuversichtlich zu sein. Wenn es dereinst nichts mehr auf der Welt geben wird, wenn die Erde zu Staub zerfallen sein wird, das Antlitz des Herrn bleibt ewiglich bestehen. Und am Tage des Jüngsten Gerichts wirst du unachsichtig gefragt: Nafa Walid, was hast du aus deinem Leben gemacht? Deine Antwort kannst du ab heute vorbereiten. Denn noch ist Zeit. (...) Du wolltest Schauspieler werden, dein Stern sollte am Firmament erstrahlen. Nun, ich biete dir den Himmel als Leinwand an und Gott als Zuschauer."

Starkes Gift für einen, der nach Orientierung sucht und seine Größenphantasien von früher nun in den respektablen Mantel der Religion kleiden kann. Die konkrete Bedeutung dieser Phrasen wird schnell klar: Schon während seiner kurzen Karriere als Chauffeur hat ihn ein Kollege davon zu überzeugen versucht, daß die FIS (Front islamique du salut) die einzige politische Kraft ist, die das bis ins Mark verfaulte Staatswesen in Algerien zu Fall bringen, und eine neue, reine Ordnung errichten kann. Jetzt sind überall im Viertel die Werber der FIS unterwegs, darunter nicht wenige Afghanistan-Veteranen, die von ihren Heldentaten im Kampf gegen die Sowjets berichten, und Nafa fällt ihnen in den Schoß wie ein reifer Apfel. Am Ende dieser sich ständig radikalisierenden politischen Gottessuche wird Nafa in eine Kreatur verwandelt sein, die sich fragen muss:

"Warum ist er mir nicht in den Arm gefallen, der Erzengel Gabriel, als ich ich daranmachte, dem fieberheißen Baby die Kehle durchzuschneiden?"

Dieser Endpunkt der Inhumanität stellt zugleich Beginn des Romans dar, und die besondere Kunst der Erzählung besteht darin, uns wenn schon nicht verständlich, so doch immerhin in Teilen nachvollziehbar zu machen, wie es dazu kommen konnte, dass ein Mensch wie Nafa Walid zu einer Bestie wie Nafa Walid wird.

Yasmina Khadra heißt in Wirklichkeit Mohammed Moulessehoul und war einst ein hoher Offizier in der algerischen Armee. Er konnte seine Romane lange nur unter Pseudonym veröffentlichen (dem Namen seiner Frau), und zu diesem Pseudonym kann er sich erst öffentlich bekennen, seit er in Frankreich im Exil lebt. Als ehemaliger Staatsdiener, der dem korrupten Staat nicht mehr dienen wollte und als Gegner des Islamismus saß und sitzt er zwischen den Stühlen, und für so jemand ist im Algerien der Gegenwart offensichtlich kein Platz.

Ohne Frage macht ihn diese Biographie zu einer interessanten zeitgenössischen Figur, aber er stellt einen der seltenen Fälle dar, in dem Authentizität der Biographie und erzählerische Meisterschaft miteinander korrespondieren. Er mag nicht der neue Albert Camus sein, aber seine Prosa wirkt wie das nachgelieferte Substrat der Gewalterfahrungen, aus denen der Existenzialismus seinerzeit die Philosophie der Absurdität destillierte. Die grausame Absurdität der algerischen Gesellschaft wird bestimmt von den Träumen der Wölfe, denn sie ist offenbar eine Wolfsgesellschaft. Sollte man dieses Buch lesen, um die Träume der Wölfe besser kennenzulernen? Sogar, wenn jemand wie Daniel Cohn-Bendit es auch empfiehlt? Auf jeden Fall.

Yasmina Khadra, Wovon die Wölfe träumen, Aufbau Verlag Berlin, 2002, ISBN 3-351-02938-1, 20,00 Euro