Irak: Shengal als geopolitisches Schachbrett

Seite 2: Die KDP-Peschmerga vor und während des Überfalls des IS

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Matthew Barber, Islamwissenschaftler an der Universität von Chicago, erläuterte kürzlich in einem Beitrag auf NRT-TV sehr detailliert die Rolle der KDP-Peschmerga vor und während des Überfalls des IS im Shengal, sowie deren Auswirkung auf die politische Entwicklung in der Region. Seine wichtigsten Eckpunkte lauten wie folgt.

Spätestens seit die Peschmerga die Eziden beim Überfall des IS im August 2014 im Stich gelassen hatten, haben auch jene Eziden, die mit dem KDP-Establishment zusammengearbeitet haben, das Vertrauen verloren. Der Barzani-Clan leugnet bis heute ihr Versagen und rechtfertigt ihr Verhalten mit der Behauptung, der Überfall auf den Shengal sei ein Überraschungsangriff gewesen, die Peschmerga seien nicht ausreichend bewaffnet und sie seien vom IS überwältigt worden. Dabei war der Angriff auf das Shengal-Gebiet, das südlich von Mosul liegt schon im Juni absehbar.

Nach der Eroberung von Mosul im Juni 2014 rückte nämlich der IS kontinuierlich an Shengal heran. Die Peschmerga hatten also zwei Monate Zeit, sich vorzubereiten und die Bevölkerung zu warnen. Die Bewaffnung der Peschmerga war damals mehr als ausreichend, denn sie beschlagnahmten rechtzeitig die Waffen der irakischen Waffendepots nach der Zerschlagung des irakischen Militärs durch den IS bei Mosul.

Zivilisten im Stich gelassen

Nach der Eroberung von Tal Afar durch den IS mussten die irakischen Soldaten durch kurdisches Gebiet fliehen. Dort wurden sie gezwungen ihre Waffen, Fahrzeuge und Uniformen an die Peschmerga abzugeben, die damit das KDP-Hauptquartier in Shengal aufrüsteten. Der Rückzug der Peschmerga aus dem Shengal geschah danach auch nicht fluchtartig, wie behauptet, sondern es handelte sich um einen geordneten Rückzug, bei dem alle Waffen und militärischen Fahrzeuge mit in die KRG transportiert wurden, wie Barber dezidiert in seinem Beitrag erläutert.

Der Bitte der Eziden, ihnen wenigstens Waffen zur Verteidigung zu hinterlassen, kamen sie nicht nach. Familien, die sich in Fahrzeugen vor dem IS-Angriff retten wollten, wurden am KDP-Checkpoint zurückgewiesen. Auch Qasim Sheso, der sich mit seiner ezidischen Einheit mittlerweile den KDP-Peschmerga angeschlossen hat, bestätigte, dass die Peschmerga die Zivilisten sich selbst überlassen hatten.

In der Folge retteten die Einheiten YPG/YPJ aus Rojava sowie Einheiten der HPG (PKK) zehntausende von Eziden und sicherten in den folgenden 15 Monaten das Gebiet weitgehend vor weiteren Angriffen ab. Sie trainierten die neu gebildeten ezidischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ, damit die Eziden sich selbst verteidigen können. Dies erklärt auch die vielen Berichte von Zivilisten, die die PKK als Retter feierten und für den Verbleib der Einheiten der HPG plädierten.

Die KDP versucht seitdem mit allen Mitteln die ezidischen YBŞ-Einheiten zu denunzieren und zu vertreiben. Die KDP-Peschmerga wollen, dass sich alle Milizen in die Peschmerga-Einheiten integrieren, um so die Kontrolle über den Shengal wiederzuerlangen. Das ist ihnen teilweise gelungen, die ezidische Einheit von Qasim Sheso ist den Peschmerga beigetreten.

Vermutlich waren es die besseren finanziellen Aussichten, die das KRG-Regime anbieten konnte. Möglich, dass Deutschland mit den Waffenlieferungen und dem Support der Peschmerga auch eine Rolle spielte - Deutschland lieferte Waffen an die Peschmerga, die auch zum Schutz der Eziden dienen sollten.

Aber die ezidischen Flüchtlinge, die den Völkermord überlebten und in Flüchtlingslagern leben, hegen mehr Sympathien für die unabhängigen Selbstverteidigungseinheiten der YBŞ als für die Peschmerga. Kritik aus den Flüchtlingslagern an der KDP unterdrückt diese mit Verhaftungen und Bedrohungen. Um eine Gegenbewegung zur KDP im Keim zu ersticken, verhindert die kurdische Autonomieregierung die Rückkehr der Eziden in ihre Heimatstädte und -dörfer.

KDP erschwert den Wiederaufbau

Matthew Barber berichtet, dass seit dem Dezember 2014, seit der Norden Shengals befreit ist, acht große Städte und über 25 Dörfer für den Wiederaufbau bereit stünden. Aber die KDP verhindert, dass Baumaterialien in die Region gelangen.

Am Haupt-Checkpoint, der die Zufahrt von Duhok (Fishkhabor, nahe dem Dorf Suheila) nach Shengal kontrolliert, erlaubt es die kurdische Polizei den Eziden nicht, ihre Waren nach Shengal einzuführen. Waren, die Viehzucht wieder ermöglichen würden, Saatgut für Agraranbau, selbst Grundgüter und Grundnahrungsmittel, dürfen nicht in den Shengal eingeführt werden. In dem Bericht von Barber finden sich weitere Beispiele für die Blockade der KDP in der Shengal-Region.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warf der kurdischen Regierung ebenfalls vor, den Wiederaufbau des Shengals durch die Eziden zu verhindern. Die Folge ist die massenhafte Migration der Eziden ins europäische Ausland, wo schon durch die Vertreibung der Eziden aus der Türkei in den 1980er und 1990er Jahren viele Verwandte leben. Die KDP arbeitet seit 2015 an einem Umsiedlungsprogramm für Eziden, da ihre Rückkehr in ihr Siedlungsgebiet zu teuer sei. So die offizielle Argumentation der KDP.

Der Umgang der kurdischen Autonomieregierung mit den Eziden ähnelt dem Erdogan-Regime gegenüber den Kurden in der Türkei: Taxifahrer wurden verhaftet, weil sie YBŞ-nahe Fahrgäste als Kunden in ihrem Taxi befördert haben. Einige Taxifahrer hatten keine Kenntnis von den Identitäten ihrer zahlenden Kunden, aber wurden dennoch festgenommen und eingesperrt. Vereine und Hilfsorganisationen wie zum Beispiel der Verein ‚Yazda‘ wurden verboten, Mitarbeiter aus der KRG vertrieben.

"Hezar Dinar" (Tausend Dinar) war ein einflussreiches Projekt mit enormer Wirkung. Yezidische Ehrenamtliche sammelten kleine Spenden von einer großen Anzahl von Menschen in der Region, um sie an die Bedürftigen in den Flüchtlingscamps umzuverteilen. Das Projekt wurde im Sommer 2016 verboten, weil Mitglieder der Organisation eine andere Flagge als die der KDP hielten.

Innerkurdische Differenzen

Die Peschmerga sind keine homogene Armee. Neben den KDP-Peschmerga gibt es auch die um Macht konkurrierenden PUK-Peschmerga. Sie arbeiten strategisch mit der HPG und den ezidischen Einheiten zusammen, scheitern aber ebenfalls an den KDP-Checkpoints, die bspw. keine Medikamentenlieferungen der PUK ins Shengalgebiet zuließen.

All diese Vorgänge erklären, warum die Eziden kein Vertrauen in die Kurdische Autonomieregierung von Barzani haben und ihren eigenen Weg gehen wollen. Die Demokratische Föderation Nordsyrien ist dabei für sie ein Orientierungspunkt. So wird auch nachvollziehbar, weshalb die Eziden auf die Einheiten der PKK für ihren Schutz bauen und ihre Unterstützung dankbar angenommen haben.

Für Barzani bedeutet die PKK-Präsenz eine direkte Bedrohung seiner Roadmap für einen kurdischen Nationalstaat. Deshalb fordert der kurdische Premierminister Nechirvan Barzani als Vorbedingung der Aufhebung der Blockade in den Shengal den Abzug der HPG (PKK) und die Auflösung der YBŞ. Die Eziden vor Ort wollen Autonomie. Weder die KDP noch die PKK, sondern eigene Vertreter sollen die Region regieren.

Der PKK sprechen sie weiterhin großes Gewicht beim Schutz der Eziden zu, da diese sie bisher nicht enttäuscht habe. Die neu gegründete ezidische Partei für Frieden und Demokratie, PADE, kooperiert mit den Einheiten der PKK und auch mit der schiitischen Miliz Hashd al-Shaabi.

PADE wurde vom irakischen Parlament am 30. April offiziell anerkannt. Mit der Kooperation zwischen der Schiiten-Miliz und den ezidischen Einheiten hoffen die Eziden, das Referendum der KRG im Shengal verhindern zu können. Aber schon treten erste Konflikte auf: Als die ezidische Einheit YBŞ in das Dorf Dorf Siba einmarschieren wollte, hinderte sie die Miliz Hashd al-Shaabi daran. Der Grund waren die Fraueneinheiten der Eziden. Es sei nach der Sharia verboten, dass sich Frauen am Kampf beteiligen, wird ein schiitischer Kommandeur zitiert.

Auftritt der Schiiten

Der Auftritt der schiitischen Hashd al-Shaabi-Miliz sorgt neben der HPG und der YBŞ für Verstimmung bei der KDP. Die Miliz wurde im Herbst 2014 gegründet, als der IS immer mehr Territorium eroberte und die irakische Armee der Lage nicht mehr Herr wurde. Der damalige Ministerpräsident Nuri Al Maliki setzte die Miliz kurzerhand auf die Gehaltsliste der irakischen Armee.

Der Iran sorgte für die Ausrüstung mit Waffen und der iranische Kommandant der Revolutionsgarde, Kasım Süleymani, übernahm das Training der Miliz. Sie kämpften an der Seite der irakischen Armee in Ramadi, Falludscha und Mosul gegen den IS. Anlässlich der Ende 2016 gestarteten Mosul-Offensive erhielt Hashd al-Shaabi den offiziellen Status "official defense forces for Iraq". Mit einer relativ guten Bezahlung von 300 Dollar im Monat konnte die Miliz in kurzer Zeit relativ viele Gruppen für sich gewinnen.

Angeblich verfügt die Miliz nunmehr über 150.000 bis 200.000 Mitglieder aus über 70 verschiedenen Organisationen. Eine der einflussreichsten Gruppen darin sind die Badr (oder Bedir)-Brigaden, die dem iranischen Regime nahestehen. In diese Miliz wurden auch Turkmenen, Kurden und Christen integriert. Eine weitere einflussreiche Gruppe unter dem Dach Hashd al-Shaabi sind die Hisbollah Ketibe (oder Katib), die ebenfalls dem Iran und der Hisbollah nahestehen.

Mit der Ankunft der Schiiten an der syrischen Grenze sind die Expansionspläne der KDP-Peschmergas vorerst gestoppt. In dieser Situation wird interessant, wie sich auf der anderen Seite der Grenze in Syrien die vor der Eroberung Rakkas stehende SDF zu Hashd al-Shaabi verhalten.

Für die SDF ist das Erscheinen der schiitischen Milizen an der Grenze ein Problem, denn dies könnte ihre eigene fragile Kooperation mit den USA gefährden, da die USA eine Verbindung Iran-Irak-Syrien auf jeden Fall verhindern wollen. Der Sprecher der SDF, Talal Sido, erklärte denn auch kurz nachdem die Milizen die ezidischen Dörfer an der syrischen Grenze zurückerobert haben, sie würden keine Aktionen der Schiiten auf ihrem syrischem Territorium dulden.

Der Vorstoß der Schiiten-Miliz an die syrische Grenze könnte aber auch eine win-win-Situation für die Eziden im Shengal, wie auch für die SDF sein, weil sie nun den direkten Zugang zum Shengal und in den Irak haben. Das Embargo von Barzani wäre damit umgangen.

Nicht weit entfernt von Rakka liegt Deir el-Zor. Dort ist die syrische Armee (SAA) schon seit Jahren vom IS eingeschlossen. Die IS-Belagerung von Deir el-Zor könnte sowohl durch Hashd al-Shaabi als auch durch die SDF durchbrochen werden. Dazu bedarf es aber Absprachen mit Assad, egal wer sich auf den Weg macht. Die SDF sind am nächsten dran (östlich von Rakka und nördlich von Shadadi).

Eine Verhandlungsmasse der SDF könnte die Verbindung der Kantone Afrin und Kobane sein und damit verbunden, die Aufhebung des Embargos von Regimeseite gegenüber der nordsyrischen Föderation. Schon jetzt ist es möglich, über vom Regime kontrolliertes Gebiet von Afrin nach Kobane zu gelangen. Eine generelle Öffnung der Route müsste festgeschrieben werden.

Solche Entwicklungen könnten aber ebenfalls auf den Widerstand der USA stoßen, denen es zwar momentan um Rakka, letztendlich aber immer noch um die Beseitigung Assads und zumindest teilweise Befriedigung der Interessen ihres NATO-Partners Erdogan geht.