Irakische Teilungspläne

Schiiten wollen eine autonome Region im Süden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Anschläge, Bürgerkrieg, Milizen, Todeschwadrone, sunnitische Guerillas, Kidnapper und Debatten über die Einsatzstärke der irakischen Sicherheitskräfte dominierten in den vergangenen Wochen die Berichterstattung aus dem Irak. Mit dem Streit um die irakische Flagge in Kurdistan rückte wieder ein politisches Thema in die Schlagzeilen, das längere Zeit im Pulverdampf verschwunden war, das aber essentiell für die Zukunft des Landes ist: der Verfassungtext, der im vergangenen Oktober eiligst vorgelegt und von einem umstrittenem Referendum (vgl. "Anekdotische Irregularitäten") bestätigt wurde, obwohl wichtige Fragen ungeklärt blieben. Angesichts einer schwachen Zentralregierung zeigen sich nun lang verdeckte Aspirationen wieder sehr deutlich auf der irakischen Politik-Bühne: Autonomiebestrebungen der Kurden - und der Schiiten.

Die langwierigen Verhandlungen und die wütenden Drohungen im Streit um die irakische Verfassung waren schon beinahe vergessen, kein Thema mit größerer Priorität mehr, in einem Land, das täglich dauernd vor anderen drängenden Problemen gestellt wird, jetzt ist das Thema wieder auf dem Tisch und mit ihm jene Probleme, deren Lösung man auf später verschoben hatte: der Status bestimmter Regionen im föderalistischen System, die Regelung von Machtbefugnissen und Geldeinnahmen der semi-autonomen Regionalregierungen gegenüber der Zentralregierung.

Den Auftakt zu den neu entbrannten politischen Diskussionen zur Verfassung machten die Kurden vor wenigen Tagen mit dem Flaggenstreit, der eine Lücke in der Verfassung offenbarte, das Aussehen der neuen irakischen Flagge. Im Streit darüber zeigte sich, wie präsent der Gedanke bei wichtigen Kurdenführern ist, aus dem nationalen Verbund auszuscheren, um sich den alten Traum von einem völlig autonomen Kurdistan zu erfüllen.

Die Zeit der Drohungen aus Bagdad sei vorbei, wird Masud Barzani, Kurdenführer und Präsident der kurdischen Region, von einer schweizer Zeitung zitiert, "denn das Schicksal der Kurden liegt nicht mehr in anderen Händen. Wenn immer das kurdische Parlament es für vorteilhaft hält, die Unabhängigkeit zu erklären, werden wir das tun und uns vor niemandem fürchten".

Gestern dann ein weiterer Paukenschlag, diesmal von schiitischer Seite: Juristische Experten der SCIRI-Parteien seien dabei, Vorschläge auszuarbeiten, die den Prozess, das Land in autonome Regionen aufzuteilen, genau definieren sollen, wie die New York Times meldet. Auch das ein politischer Traum (vgl. Sumer und Jerusalem im Irak), der in den letzten Monaten völlig untergegangen war: der Verbund mehrerer schiitischer Provinzen im Süden zu einer großen, (semi-)autonomen Region.

Ein Artikel in der Online-Ausgabe der pakistanischen Zeitung Dawn geht sogar noch weiter als der Bericht in der New York Times. Dort ist nicht mehr nur von Vorschlägen die Rede, die noch ausgearbeitet, auf verfassungsrechtliche Möglichkeiten geprüft und diskutiert werden, sondern von einem Entwurf, der bereits vorliegt. Demnach sieht der Gesetzesentwurf zur Bildung von Regionen vor, dass der schiitische Süden einen Status nach Vorbild der kurdischen Region im Norden erhält.

Die türkische Zeitung Sabah berichtet in ihrer englischsparchigen Online-Ausgabe ebenfalls davon, dass die schiitische Koalition heute dem Parlament einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorgelegt hat. Nach Informationen des amerikanischen Irak-Kommentators Juan Cole soll innerhalb von 15 Tagen über den schiitischen Gesetzesvorschlag abgestimmt werden.

Verfassungsrechtlicher Ansatzpunkt sind die Zusätze zur Verfassung, die seinerzeit vereinbart wurden, um die Verfassung zeitgerecht durchzubringen (vgl. Meilenstein Potemkin). Die USA hatte einiges Interesse daran, der Bevölkerung zuhause diesen Erfolg zu präsentieren, weshalb nicht geringer Druck auf die Verfassungsgeber ausgeübt wurde. Kritiker bemängelten schon damals, dass man sich mehr Zeit hätte nehmen müssen, um Einigung über strittige Punkte zu erzielen, die wesentlich für die Konstitution des Landes sind. Man einigte sich schließlich auf einen Aufschub der Probleme. Verfassungszusätze ("Amendments") sollten das Provisorium "neue Verfassung" irgendwann zu einem Schriftstück machen, dem alle zustimmen könnten.

Der größte Widerstand kam von den Sunniten, die argwöhnten, dass sie bei der Aufteilung des Irak in weitgehend selbstverwaltete Zonen mit einem wenig verbindlichen föderalistischen Überbau, vor allem was die Verteilung der Öleinnahmen betrifft, schlechter abschneiden würden als Kurden, denen aller Wahrscheinlichkeit nach die Ölfelder um Kirkuk zugesprochen würden, und die Schiiten mit den reichen Ölfeldern im Süden des Landes.

Anscheinend sträuben sich die Sunniten jetzt weniger gegen die Pläne der Schiiten, die die Bildung einer semi-autonomen Region jetzt schnell vorantreiben wollen, wie es an verschiedenen Stellen heißt.

Nach Informationen der International Herald Tribune gab es heute bei einer Parlamentssitzung jedoch erheblichen, hitzigen Widerstand von Sunniten, der obendrein einiges darüber verrät, wie politische Mänover im Irak aussehen und weit der Weg zur Transparenz im politischen System des neuen Irak noch ist.

Mahmud al-Maschadani war verärgert darüber, dass schiitische Abgeordnete einen Gesetzesentwurf zirkulieren ließen, der eine föderales System im Irak schaffen will, das in drei Teile gegliedert ist und einen separaten autonomen Staat im Süden errichten will (..).

"Der Sprecher des Parlaments weiß nichts von diesem Gesetzesentwurf? Kann man das glauben? Wer sonst soll darüber Bescheid wissen, wenn nicht einmal der Sprecher Kenntnis davon hat? Wann wurde es denn bekannt gegeben?"

In den irakischen Nachbarländern dürften solche Autonomie-Bestrebungen ebenfalls auf besorgte Aufmerksamkeit treffen und die Alarmglocken anstoßen: was die Kurden betrifft in der Türkei, aber auch in Iran und unter Umständen auch in Syrien. In anderen Ländern der Region, wie Saudi-Arabien, Jordanien und Kuweit dürften die Ambitionen der irakischen Schiiten indes weiter Ängste vor einem "schiitischen Aufstieg in der Region" nähren, die zuletzt im Libanonkrieg deutlich geäußert wurden.