Israelische Journalistin Amira Hass: Wie kann die Welt dem Gaza-Gemetzel zusehen?

Seite 2: Ich vertrete meine Eltern, die den Holocaust überlebten

Die zweite Option für sie ist, zu emigrieren, so wird es bezeichnet. Also ein Transfer, eine "Vertreibung mit Zustimmung der Vertriebenen".

Und die dritte Option ist, sollten Sie nicht einwilligen, also nicht emigrieren und sich widersetzen, wird die israelische Armee wissen, was mit Ihnen zu tun ist. Und genau das geschieht jetzt sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland. Israel führt den Plan, den politischen Plan, dieser extrem faschistischen Siedler, des kolonisierenden rechten Flügels, aus.

Seit Jahren warnen Menschen auf der israelischen Linken vor der Brutalisierung. Sollte es so weitergehen, komme es zu einer Brutalisierung, von der es kein Zurück mehr gibt, heißt es. Ich habe immer gehofft, wenn ich vor der Gefahr der Verrohung, der Möglichkeit der Verrohung, warne, dass es dann einen Effekt haben würde.

Ich habe nie gedacht, dass es so weit kommen würde. Und ich habe solche Angst, jetzt sagen zu müssen, dass wir es erreicht haben, und die Welt, vor allem die westliche Welt, auf empörende Weise nicht eingreift, um es zu stoppen.

Ich war gestern auf der Demonstration und habe geweint. Ich versuche mich zusammenzureißen, um in diesen schrecklichen Tagen nicht ständig zu weinen, nur manchmal. Aber ich habe geweint, als einige Leute über ihre Großeltern, die Überlebenden des Holocaust, gesprochen haben.

Ich hatte das Gefühl, dort zu sein, um meine toten Eltern zu vertreten, die Holocaust-Überlebende sind, beim Aufruf an die Welt: Wie kann man an der Seitenlinie stehen und nichts tun, um dieses schreckliche Gemetzel zu beenden?

Ich kann es nicht ertragen, hier in New York zu sprechen, wenn ich weiß, was mehr als zwei Millionen Menschen durchmachen müssen. Nichts kann das rechtfertigen, was Israel, was wir, mit meinen Steuergeldern, im Moment verursachen.

Ich weiß nicht, ob mein Steuergeld jetzt in einer Rakete steckt, die einen meiner engen Freunde, meiner geliebten Freunde, in Gaza töten könnte. Das ist wirklich entsetzlich, entsetzlich, unbeschreiblich entsetzlich.

Amira, in Ihrem letzten Artikel für Haaretz schreiben Sie über Ihre Familie – Ihre Freunde, die noch in Gaza sind, in Tel al-Hawa, in Gaza-Stadt. Israel hat die Palästinenser aufgefordert, den nördlichen Teil zu verlassen und nach Süden zu gehen. Dort, im Norden, liegt Gaza-Stadt. Können Sie etwas über die Palästinenser sagen, welche Möglichkeiten sie haben, über ihre Entscheidung, zu bleiben, und auch über US-Präsident Biden, der in einer Rede sagte, dass er die Grenze öffnen wird, damit 20 Lastwagen mit Nachschub hinein können?

Amira Hass: Das ist lächerlich. Es braucht einen vollständigen Waffenstillstand, einen sofortigen Waffenstillstand. Alles andere ist "ein Tropfen in einem Ozean", eine bloße Farce. Tatsächlich ist es weniger als ein Tropfen in einem Ozean.

Meine Freundin schrieb mir, dass ihr Schwager im Rollstuhl sitzt, halbseitig gelähmt. Sie konnten nicht weggehen. Sie sagen: "Wie sollen wir mit ihm das Haus verlassen? Wir können ihn nicht zurücklassen."

Ihre Mutter ist alt. Sie sind also dort. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was sie durchmachen müssen. Sie hat mir gerade heute Morgen eine Blume geschickt. Sie hatten einen kleinen Moment Internet, also schickte sie mir eine Blume als Antwort auf meine WhatsApp-Nachricht einige Stunden zuvor.

Ich habe Freunde, die in einer Schule im Flüchtlingslager Nuseirat eingepfercht sind. Eine Mutter, ein Flüchtling von 1948, damals war sie ein Kind. Sie hat seitdem so viele Kriege gesehen, wurde vertrieben aus ihrer Heimat …

Ich denke an die kranken Menschen, kranke Eltern, bei denen meine Freunde in Gaza verbleiben, weil sie sie nicht allein lassen wollen, wenn sie unter Bomben sterben. Daher haben sich auch meine Freunde nicht gerettet, weil sie bei ihren Eltern bleiben wollen.

Das Interview erscheint in Kooperation mit dem US-Medium Democracy Now. Hier geht es zum englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.