Jean-Luc Godard, Brigitte Bardot und eine Lampe im Lichte der #MeToo-Debatte
Seite 2: Farbfilter und falsche Zitate
In Die Verachtung knüpft Godard an das an, was er in Une femme est une femme begonnen hat. Anna Karina spielt in Eine Frau ist eine Frau eine Stripperin. Einmal erleben wir sie bei der Arbeit. Sie trägt ein Matrosenkostüm und preist zunächst ihre Reize an. "Ich habe sehr schöne Brüste, Augen wie Amethyste", singt sie. Zu sehen sind dann aber nur die Amethyste und nicht die Brüste, weil Godard Karina vom Hals aufwärts zeigt, sobald sie das Kostüm auszieht. Das bringt eine verspielte Frechheit in die Schmuddelbude, von der das verschwitzte Patriarchenkino der Zeit nicht zu träumen wagte.
In Le mépris setzt sich das Muster fort. Wer mehr an den Spitzen von Brigitte Bardots Brüsten interessiert ist als an ihren schönen Augen wird enttäuscht. Frische und Verspieltheit jedoch sind einer trägen Geschäftsmäßigkeit gewichen. Die nackte Bardot liegt neben Michel Piccoli auf einem Bett. Vielleicht liegen sie da in post-coitaler Erschöpfung, oder nur, um die Zeit totzuschlagen, man weiß es nicht genau. Da wir soeben Raoul Coutard an der Kamera gesehen haben könnte es eine Drehpause sein, vor oder nach der Sexszene oder zwischen zwei Einstellungen, denn noch ist unklar, mit wem wir es zu tun haben.
Farbfilter und falsche Zitate (19 Bilder)
Andererseits zeigt uns Godard die Szene durch einen roten Farbfilter, dann ohne Filter, dann ganz in Blau. Das sorgt für Desillusionierung. Wir sehen nicht echten Menschen beim Leben zu, beim Sex und beim Nacktsein wie von der Filmindustrie so gern behauptet. Wir sehen vielmehr ein Spektakel, das nach unseren Wünschen und Bedürfnissen ins Bild gerückt wird, oder nach dem, was die Verkäufer (die Produzenten) dafür ausgeben. Im Stripteaseschuppen von Eine Frau ist eine Frau, in dem ebenfalls mit Farbfiltern gearbeitet wird, ist es nicht viel anders.
Im Kino wird uns nur etwas vorgemacht, und Godard färbt die Bilder ein, damit das gleich mal sichtbar wird. Darum ist auch das Bazin-Zitat nicht von Bazin, sondern von Michel Mourlet. In seiner Urform findet sich der - von Godard kreativ verkürzte - Satz in Mourlets "Sur un art ignoré" (Über eine ignorierte Kunst). Der Artikel erschien im August 1959 in der von Bazin gegründeten Zeitschrift Cahiers du cinéma, für die auch einige der herausragenden Köpfe der Nouvelle Vague schrieben, bevor sie ins Regiefach wechselten: Truffaut, Godard, Éric Rohmer, Claude Chabrol, Jacques Rivette. Bazin war im Jahr davor gestorben.
Godard tut also Zweierlei: Er erinnert an den toten Mentor und er macht Mourlet (auch wenn er ihn nicht nennt) das aus Sicht der Cahiers-Kritiker größtmögliche Kompliment, indem er das Zitat dem Mann zuschreibt, der die Filmkritik auf eine höhere Ebene gehoben und in Frankreich als eine intellektuell ernstzunehmende Disziplin etabliert hat. Wenn man als Zuschauer von den Texten irgendwelcher Franzosen nichts weiß ist das nicht weiter schlimm. Zum einen kriegt man nicht mit, dass das Zitat nicht von Bazin ist. Man wird auch nie mit der Nase darauf gestoßen, dass man etwas nicht verstanden hat und somit nicht als Dummkopf vorgeführt (ein beliebtes Spiel der Postmoderne).
Zum anderen wird Bazin gleichsam unsterblich, indem er in den Texten eines anderen weiterlebt. Außerdem ist es nicht verboten, sich zu informieren. Die Filmindustrie fördert das passive Konsumententum, indem sie von einem Zuschauer ausgeht, bei dem man nichts voraussetzen darf, weil er dumm und ungebildet ist (deshalb wird in Bibelfilmen sogar erklärt, wer Adam und Eva waren, oder Jesus und Maria). Godard macht das erklärtermaßen nicht. Er verlangt dem Zuschauer etwas ab, und der Zuschauerin natürlich ebenfalls. Dafür kriegen sie dann auch etwas zurück.
Ignorierte Kunst
Godard-Filme sind wie eine Wundertüte. Man weiß vorher nie, was drin ist. Informieren wir uns also. Michel Mourlets Artikel gilt als das Manifest der "Mac-Mahonisten". Benannt ist die Gruppe nach dem Mac Mahon, einem Lichtspieltheater in der avenue Mac-Mahon in Paris, das sich nach der Befreiung von den Nazis auf US-Filme spezialisierte, die während der Besatzungszeit verboten gewesen waren. Die "ignorierte Kunst", über die Mourlet schreibt, ist die der Mise en scène, also der Aufbau eines Filmbildes durch den Regisseur, die Anordnung der Darsteller im Raum und dergleichen.
1959 hatte Mourlets Manifest etwas Ketzerisches. Das Kritiker-Establishment reduzierte einen Film oft auf das gesprochene Wort oder die Handlung, legte bei den darstellerischen Leistungen Theatermaßstäbe an, urteilte auf Grundlage des Drehbuchs und bei der Adaption literarischer Werke nach dem Grad einer eng gefassten "Werktreue" und somit nach allem Möglichen, nur nicht nach den spezifisch filmischen Qualitäten. Bei neuen, die Aufnahmefähigkeit der Kulturkommissare überfordernden Medien ist das ein gern genommenes Verfahren.
Man vergleicht das Neue mit den bereits etablierten Künsten, der Literatur beispielsweise, und gemeindet es auf diese Weise ein. Was sich nicht einhegen lässt muss draußen bleiben. Für die Mac-Mahonisten hingegen hatte das Kino im Werk von vier Regisseuren seine höchste Perfektion erreicht, deren künstlerische Qualität sich in der Mise en scène ausdrückte, nicht in den Vorlagen, die sie verfilmten. Das waren überwiegend Krimis, Western, Abenteuergeschichten und somit "Schund", den der damalige Bildungsbürger nicht als Kulturgut akzeptierte.
Die vier Meisterregisseure der Mac-Mahonisten waren Otto Preminger, Raoul Walsh, Joseph Losey und Fritz Lang. Letzterer wird vor dem falschen Bazin-Zitat als einer von den Darstellern in Le mépris genannt, wo er ironischerweise Homers Odyssee verfilmt und damit eines der Gründungsepen der abendländischen Literatur schlechthin. So ist das häufig bei Godard. Ein Film ist noch keine Minute alt, schon tut sich eine Welt aus Anspielungen und Verweisen auf. Wenn man es nicht gleich bemerkt dauert es eben etwas länger, vielleicht bis zu der Szene, in der Fritz Lang Bert Brecht zitiert, mit dem er in Hollywood am Anti-Nazi-Film Hangmen Also Die! zusammenarbeitete.
Jonathan Rosenbaum hebt in einem schönen Text über Le mépris hervor, wie vehement sich Mourlet für Fritz Lang in die Bresche warf, als es für Der Tiger von Eschnapur und Das indische Grabmal böse Verrisse hagelte. Damit gehörte er zu einer kleinen Minderheit. Mourlet war einer der wenigen Kritiker, die erkannten, mit welcher formalen Strenge Lang die Geschichte der Tempeltänzerin erzählt, die er so einfach hält wie ein Comic. Für Le mépris ist das von Belang, weil die Indien-Filme den Schlüssel zum Verständnis von Langs Version der Odyssee liefern.
In Außer Atem übrigens, Godards erstem Spielfilm, flüchtet Jean Seberg in das Mac Mahon, um ihren Verfolger abzuschütteln. Dort läuft gerade Premingers Whirlpool. Gene Tierney trifft da den dämonischen Dr. Korvo und wird von ihm hypnotisiert. Danach weiß sie nicht, ob sie einen Mord begangen hat oder nicht. Korvo ist die Westentaschenausgabe von Langs Dr. Mabuse, der die modernen Medien und die Massen manipuliert und auf eine mitunter unheimliche Weise den Aufstieg von Hitler und Goebbels ankündigt, und der "Herrschaft des Verbrechens", wie es in Das Testament des Dr. Mabuse heißt.
Man sollte nicht vergessen, dass die Okkupation noch keine 15 Jahre her war, als die Nouvelle Vague entstand. Vom Kino des Jean-Luc Godard hat man bereits viel begriffen, wenn man weiß, wie stark ihn die manipulatorische Kraft des Films beschäftigte. Ein um das andere Mal lenkt er unsere Aufmerksamkeit auf die (sonst verborgene) Technik des Filmemachens, damit wir uns nicht einfach der Geschichte überlassen können, die da für uns erzählt wird. Darüber, was die Erfahrung von NS-Diktatur und Propaganda mit bestimmten stilistischen Entscheidungen zu tun hat, die Godard bei Le mépris zu treffen hatte, wird im zweiten Teil noch zu reden sein.
Hier nur soviel: Godards Konsequenz kann lästig sein. Wer vom Kino ausschließlich Unterhaltung will und keine Denkanstöße mit eingebauter Medienkritik, wer sich gern manipulieren lässt, weil das ein unbeschwertes Filmvergnügen mit sich bringt wird an Godard wenig Freude haben. Dauernd stellen sich Fragen wie diese: Wenn Fritz Lang einen Regisseur spielt, der heißt wie er selbst: Ist das der echte Fritz Lang oder tut er nur so? Wo hört die Wirklichkeit auf und wo beginnt die Fiktion? Und was ist das für eine Sexszene, die Godard ablieferte, weil sich Mussolini und King Kong auf eine hüllenlose Bardot versteift hatten?
In wechselnden Farben führen BB und Piccoli ihren seltsam leidenschaftslosen Liebesdialog, als würden sie die Einkaufsliste für das Abendessen durchgehen: "Siehst du meine Füße im Spiegel?" - "Ja." - "Findest du sie schön?" - "Ja, sehr." - "Und meine Knöchel, liebst du sie?" - "Ja." - "Und liebst du auch meine Knie?" - "Ja. Deine Knie liebe ich sehr." - "Und meine Schenkel?" - "Auch." - "Siehst du meinen Hintern im Spiegel?" - "Ja." - "Findest du sie schön, meine Pobacke?"
Und so weiter, von den Füßen (und deren Spiegelbild) über Schultern und Brüste bis zu Mund, Augen, Nase, Ohren. Dabei schwenkt die Kamera über Bardots nackten Leib, von rechts nach links und wieder zurück. Godard inszeniert hier - mehr im Wort als im Bild - die einfachste Definition von Pornographie: die Reduzierung eines Menschen auf seine Körperteile. Darum die Erotik einer Einkaufsliste. Den erwähnten Busen gibt es nicht zu sehen, weil Bardot auf dem Bauch liegt und auch so bleibt. Ihren Vorschlag, sich hinzuknien, beantwortet Piccoli mit einem "Nicht nötig.".
Das ist der pure Hohn und doch noch etwas anderes, eine Reflexion über die Realität des Kinos - über die Spiegelung der Wirklichkeit, über das Begehren, über die Fetischisierung und die Zerstückelung des Körpers durch den Filmschnitt - anstelle der von den Produzenten geforderten Ersatz- und Wunscherfüllungswelt mit den nackten Brüsten von BB, die sie dem Publikum offerieren wollten, um dessen Bereitschaft zu steigern, den verlangten Eintrittspreis hinzulegen, damit das Geld weiter zirkulieren konnte.
Im Spiegelkabinett der Zitate
Hier ist es an der Zeit für eine Inhaltsangabe: Der Drehbuchautor Paul Javal (Piccoli) und seine Frau Camille (Bardot) sind von Paris nach Rom gezogen. Fritz Lang verfilmt für den amerikanischen Produzenten Jeremy Prokosch (Jack Palance) die Odyssee. Prokosch ist unzufrieden mit den Resultaten und will, dass Javal das Drehbuch umschreibt, um den Film kommerzieller zu machen. Zwischen dem Ehepaar tritt eine Entfremdung ein, die nur noch größer wird, als Camille ihren Mann nach Capri begleitet, wo die Dreharbeiten fortgesetzt werden. Camille beschließt, ihren Mann zu verlassen und mit Prokosch zurück nach Rom zu fahren. Auf dem Weg dorthin sterben beide bei einem Autounfall.
So oder so ähnlich kann man es meistens lesen, gelegentlich ergänzt um die Information, dass Camille Paul dabei ertappt, wie er Prokoschs Assistentin Francesca Vanini (Giorgia Moll) Avancen macht, was die Ehekrise verstärke oder sogar erst auslöse. Durch die #MeToo-Debatte, nehme ich an, hat sich die Betrachtungsweise geändert, weshalb die Autoren das so nicht mehr schreiben würden. Dabei lag eine ganz andere Interpretation stets auf der Hand. Man hat nur nicht gesehen, was man vor sich hatte. Bei Godard ist das öfter so. Weil er den Ruf eines durchgeistigten Intellektuellen hat übersieht man schon mal, was sonst noch da ist.
Im Spiegelkabinett der Zitate (15 Bilder)
Doch der Reihe nach. Im Anschluss an die entsexualisierte Sexszene trifft sich Paul mit Prokosch in Cinecittà. Camille holt ihn dort ab. Paul stellt ihr Fritz Lang vor, dessen Rancho Notorious er und Camille im Kino gesehen haben. Camille mochte den Western, in dem Marlene Dietrich als ehemalige Prostituierte Verbrechern gegen Gewinnbeteiligung Unterschlupf gewährt. Ihm persönlich sei M lieber, sagt Lang in seiner Rolle als Filmlegende. Schade eigentlich, dass die Information, Brigitte Bardot heiße mit bürgerlichem Namen Camille Javal, eine Ente ist.
Ich habe das zum ersten Mal im sehr renommierten Biographical Dictionary of Film von David Thomson gelesen. Seitdem frage ich mich, ob sich Thomson einen Bären hat aufbinden lassen oder ob er die Sache mit dem angeblichen Geburtsnamen des Sexsymbols erfunden hat, um dem Spiel mit Realität und Fiktion, die sich bei Godard gegenseitig bedingen und fließend ineinander übergehen, noch eins draufzusetzen? Leider scheint es so zu sein, dass Brigitte die Tochter von Anne-Marie Mucel und Louis Bardot ist. Vater Javal ist unauffindbar.
Eine Bardot, die in Le mépris den Künstlernamen ablegt wie in den von den Produzenten erzwungenen Nacktszenen die Kleider und gewissermaßen ihr bürgerliches Ich verkörpert, das hätte gut gepasst. So müssen wir uns damit zufrieden geben, dass BB sich selbst als Filmstar spielt und zugleich, als Gattin von Javal/Piccoli, die unglaubwürdigste Tippse ist, die je in einem Film zu sehen war, als Verfremdungseffekt sozusagen (vor der Heirat scheint Camille die von Paul im Nebenjob verfassten Krimis abgetippt zu haben wie die Damen im Schreibbüro von Pulp die Schundromane von Michael Caine).
Godard hat aus einer an sich banalen Geschichte über den Zerfall einer Ehe eine wilde Mischung aus Zitaten, Selbstreflexivität, Hölderlin, Homer, Dante, griechischer Mythologie, Comics, Stars und den von ihnen dargestellten Charakteren, Medienkritik, Parodie und biographischer Selbstbefragung gemacht (um nur einiges zu nennen), das Ganze zu einer überraschenden Einheit verwoben und daraus einen der ganz großen europäischen Filme der 1960er gemacht, der bis heute erstaunlich widerständig, mitunter auch enervierend und rätselhaft geblieben ist, statt im Museum für in Ehren ergraute und dann friedlich entschlafene Meisterwerke zu enden.
Natürlich ist man als Zuschauer besser dran, wenn man hin und wieder etwas von dem kennt, worauf sich Godard bezieht. Man kann die ewigen Querverweise, das Nachdenken über Filme, das Nennen von Titeln und Regisseuren aber auch als Einladung verstehen, die eigenen Wissenslücken zu füllen und so mehr über das Medium zu erfahren, das unser Bewusstsein vermutlich stärker geprägt hat als irgendein anderes zwischen der Erfindung des Buchdrucks und der des Internets. Heute ist das Füllen dieser Lücken viel leichter als früher. Manchmal kommt es einem vor, als habe Godard geradezu darauf gewartet, dass die von ihm anzitierten Filme auf DVD und Blu-ray oder durch Streaming-Dienste verfügbar werden.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.