Jean-Luc Godard, Brigitte Bardot und eine Lampe im Lichte der #MeToo-Debatte

Seite 3: Zwischen Jägern und Zuhältern

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Mit ein paar Klicks ist es inzwischen möglich, der verborgenen Bedeutung von Godards Zitaten nachzuspüren. Weil das nicht museal sondern hochmodern ist braucht man sich nicht zu wundern, wenn man dann mitten in einer aktuellen Debatte landet. Nehmen wir das heruntergekommene Cinecittà. An den Ateliergebäuden hängen zerfledderte Plakate von Filmen einiger Vorbilder der Nouvelle Vague. In Hitchcocks Psycho will Marion Crane einen Ladenbesitzer heiraten, wird aber auf dem Weg zu ihm von einem Mann mit Mutterkomplex umgebracht. Für die Ehe von Camille und Paul Javal macht einen das nicht optimistisch.

Der Titelheldin von Roberto Rossellinis Vanina Vanini verdankt Francesca ihren Nachnamen. Aus der schönen Prinzessin, die sich in einen Rebellen verliebt (was tragisch endet), ist allerdings die Angestellte eines Produzenten geworden, der sich für einen König hält. Godard war nie ein Freund der Bescheidenheit. Auch einen seiner eigenen Filme hat er plakatiert. Die Frau im blauen Mantel, auf dem italienischen Plakat zu Vivre sa vie, ist Nana, die von einer Filmkarriere träumt, sich von ihrem Mann trennt und in die Prostitution abrutscht. Gespielt wird sie von Anna Karina, mit der Godard damals verheiratet war.

In Hatari! von Howard Hawks beliefert John Wayne europäische Zoos mit Wildtieren aus Afrika. Vor dem Plakat (blauer Titel auf gelbem Untergrund) sitzt Prokosch in seinem roten Alfa Romeo. Da ahnt man schon, dass die Farbdramaturgie ein wichtiges gestalterisches Mittel ist in diesem Film. Wenn Prokosch mit Befehlsstimme nach der herbeieilenden Francesca ruft (gelbes Oberteil) steht Camille (in Blau wie Nanas Mantel) zwischen den Plakaten zu Hatari! und Vivre sa vie. Diesen Platz nimmt dann Francesca ein. Jetzt ist sie eingekeilt zwischen Zoo und Prostitution, zwischen Tierfängern und Zuhältern, mit dem Auto des Alfamännchens als Phallussymbol. Die Frau als Beute und als Ware.

Bis er endlich losfährt tritt der Produzent ständig auf das Gaspedal. Man soll hören, wie potent er ist. In Godards Inszenierung wirkt das lächerlich, und doch ist es furchtbar ernst. Prokosch lädt die Javals auf einen Drink in seinem Palazzo ein. Camille zögert, will das nicht. Paul ist dafür. Im Auto sei nur Platz für ihn und Camille, sagt Prokosch. Paul solle sich ein Taxi nehmen. Der Drehbuchautor lässt das mit sich machen. Triumphierend fährt Prokosch davon. Camilles "Paul!" klingt nach einem Hilferuf.

In der Romanvorlage von Alberto Moravia denkt der Drehbuchautor darüber nach, wie es zum Zerbrechen seiner Ehe kam. Mit dieser Szene fängt es an. Seine Frau, berichtet er, habe im Auto des Produzenten gesessen und ihm "einen unsicheren Blick" zugeworfen, "einen Blick, der Bitte und Abscheu zugleich ausdrückt". Nicht viel anders hat Godard es inszeniert. Paul läuft dem Auto nach wie der Held in einem Mantel-und-Degen-Drama, dem der Unhold die Braut entführt hat, aber er rennt nur durch alte Filmkulissen und muss sich von Francesca überholen lassen, die auf dem Rad an ihm vorbeifährt.

Javal kann froh sein, dass ihm die entschwindende Francesca wenigstens die Adresse zuruft, zu der er nachkommen soll. Der Titel von Roman und Film, Die Verachtung, hat mit den demütigenden Situationen zu tun, in die Leute sich und andere durch ihr Verhalten bringen. Camille und Prokosch sind schon seit einer halben Stunde da, als Paul endlich beim Palazzo eintrifft und eine komplizierte Geschichte vom Zusammenstoß zweier Autos erzählt (einer von mehreren Hinweisen auf das Ende), von einem Streit unter Taxifahrern und so weiter. Niemand will das wirklich hören.

Produzenten-Palazzo mit Guru und Bordell

Was in der halben Stunde zwischen Camille und Prokosch passiert ist bleibt genauso offen wie die Frage, ob es den Unfall wirklich gab oder ob Paul ihn erfunden hat. Wollte er Prokosch Zeit für die sexuelle Annäherung an Camille lassen? Ist der Drehbuchautor bereit, dem Produzenten seine Frau ins Bett zu legen, weil er sich berufliche und finanzielle Vorteile davon erhofft? Der Film gibt darauf keine Antwort, wohl aber eindeutige Hinweise auf die Absichten des amüsierten, erkennbar zufriedenen Prokosch, der Camille anstelle seiner Briefmarkensammlung ein Buch über die Kunst der alten Römer gezeigt hat.

Prokosch bietet Javal einen Drink an, reicht ihm ein blau gefärbtes Glas. Blau wie auf dem Plakat zum Film, in dem Anna Karina eine Hure spielt und blau wie das Kostüm und das Haarband von Camille. Stehen da also ein Zuhälter und ein Freier am Gartentisch mit der rosaroten Decke, mit Camille als Verhandlungsobjekt, für das der Preis in Form einer Drehbuchgage zu entrichten ist? Auf dem Tisch liegt der Kunstband. Prokosch hat ihn aus dem schmucklosen grauen Pappschuber gezogen, in dem er sonst steckt wie die Pornographie im neutralen Umschlag.

Produzenten-Palazzo mit Guru und Bordell (12 Bilder)

Le mépris

Camille nimmt das Buch in die Hand, schlägt es auf. Man sieht Frauen und Männer in verschiedenen Stellungen beim Geschlechtsverkehr. Ein Teil der Abbildungen in dem Buch stammt aus dem Lupanar, einem Mitte des 19. Jahrhunderts ausgegrabenem Bordell in Pompeji. Der Produzent stellt sich hinter Camille, blickt ihr über die Schulter. Im Hintergrund huscht Francesca vorbei. Die Assistentin mit den vielen Aufgaben ist inzwischen mit dem Fahrrad eingetroffen. Prokosch folgt ihr ins Haus. Die Abbildungen, die er soeben noch betrachtet hat, erlauben eine Vorstellung davon, woran er denkt.

Paul tritt zu Camille. Auf ihren Schenkeln liegt das nun zugeschlagene Buch, mit der neutralen Rückseite des Schutzumschlags nach oben wie bei etwas, das man nicht zeigen will, weil es einem peinlich ist. Kein Wunder, dass Paul keine Antwort auf seine Frage erhält, was Prokosch und Camille in der halben Stunde gemacht haben, in der sie alleine waren. Das könnte aus der #MeToo-Debatte sein. Frauen schweigen. Männer stellen sich dumm. Wenn die Frauen schließlich ihr Schweigen brechen müssen sie sich fragen lassen, warum sie früher nichts gesagt haben. So wird überspielt, dass die, die damals Zeugen waren, nichts unternommen haben.

Godard hat damit die Bühne bereitet für einen der zentralen Momente seines Films, der sich im ersten Bild (Giorgia Moll im gelben Oberteil, begleitet von Raoul Coutards Tracking Shot) schon ankündigt. Es handelt sich um eine fast dreiminütige, in einer einzigen Einstellung gedrehte Plansequenz. Paul betritt einen Raum im Palazzo. Francesca kommt soeben die Treppe herunter. Paul will nach oben gehen, um sich - ein symbolischer Akt - die Hände zu waschen. Er merkt, dass etwas vorgefallen ist, geht Francesca hinterher.

Auch Coutards Kamera setzt sich in Bewegung, holt per Tracking Shot den gelben Pullover zurück ins Bild, den Francesca soeben ausgezogen hat. Die Inneneinrichtung zeugt von Prokoschs Reichtum. Das Gemälde mit den nackten Frauen an der Wand hat ihn bestimmt eine Stange Geld gekostet. "Was ist los?", fragt Paul. "Sie sehen niedergeschlagen aus." "Nichts", sagt Francesca und tauscht das gelbe Oberteil gegen eines in Rot. "Haben Sie geweint?", fragt Paul. "Nein", sagt Francesca. In ihrer Stimme hört man noch die Tränen.

Es sei sicher hart, für einen Chef wie Prokosch zu arbeiten, meint Paul und raspelt ein wenig Süßholz: Es sei eine Schande, ein hübsches Mädchen wie Francesca so traurig zu sehen blabla. Als das nichts hilft erzählt er eine "witzige Geschichte", um Francesca aufzuheitern. Die Geschichte geht so: Einer von Ramakrishnas Schülern ist mit dem Unterricht nicht zufrieden und zieht hinaus in die Welt. Nach 15 Jahren kommt er zurück, geht mit dem Guru zum Fluss und zeigt ihm, was er gelernt hat: Er kann über Wasser gehen.

Sowas Dummes, staunt Ramakrishna. Ich überquere den Fluss schon seit zehn Jahren, ohne nass zu werden. Dazu brauche ich nur eine Rupie für den Fährmann, sagt der Guru. Die Geschichte ist denkbar einfach. Nur das Zuhören fällt einem furchtbar schwer. Vorgeführt wird, wie man einen Witz auf keinen Fall erzählen sollte. Michel Piccoli legt Kunstpausen ein und wirkt wie einer, der die Geschichte schon so oft zum Besten gegeben hat, dass er sich selber nicht mehr dabei zuhört. Inszeniert ist das Ganze wie abgefilmtes Theater. Piccoli könnte ein Schauspieler sein, der sich mühsam an seinen Text erinnert und darüber jegliche Betonung und Pointensetzung vergisst.

Eine dreiminütige Plansequenz kann extrem lang sein. Kein Filmschnitt, keine Groß- oder Detailaufnahme lenkt von der Monotonie des Vortrags ab. Auch am Dekors, an Prokoschs Antiquitäten, hat man sich schnell satt gesehen. Noch quälender wird der Witz (der keiner ist), weil wir beobachten müssen, mit welch eiserner Hilflosigkeit Paul und Francesca ignorieren, dass da, wo die Kamerafahrt nicht hinführt, in der ersten Etage, etwas passiert ist, das die Assistentin zum Weinen brachte. Als Paul mit seiner blöden Geschichte endlich fertig ist ruft der Produzent aus dem Off nach Francesca, um sich in Erinnerung zu bringen.

Francesca springt auf wie ein folgsamer Hund und läuft zu ihrem Herrn. Der Chef wartet wohl nicht gern. Paul folgt ihr, befingert sie. Schön, dass sie nicht mehr so traurig sei, sagt er, bevor Francesca abgeht. Dabei tätschelt er ihr noch den Hintern. Das sieht Camille, die soeben ins Haus gekommen ist. Alles ganz harmlos, versichert Paul. Er habe Francesca nur den Ramakrishna-Witz erzählt. Die Plansequenz endet mit einem Wortwechsel des Ehepaars und mit dem Wiederauftauchen des Buches, das sie eingeleitet hat.

Produzenten-Palazzo mit Guru und Bordell (13 Bilder)

Le mépris

Nach dem ersten Schnitt seit drei Minuten erscheint Prokosch in einer Verandatür und reicht das Buch, das wir zuletzt auf dem Schoß von Camille gesehen haben, an ihren Gatten weiter. Der Autor solle sich von der römischen Kunst inspirieren lassen, wenn er das Drehbuch zu Langs Odyssee-Verfilmung umschreibt, empfiehlt der Produzent. So werden aus dem Kunstband mit den antiken Darstellungen des Geschlechtsverkehrs die zwei Buchdeckel, mit denen Godard die Plansequenz mit der missbrauchten Francesca umrahmt. An Deutlichkeit herrscht da eigentlich kein Mangel, auch wenn nur Bilder aus einem Bordell in Pompeji zu sehen sind. Mit diesem Buch wird dafür sehr ausgiebig hantiert.

Von Weinstein weiß man, dass er sich mit einer Riege junger Assistentinnen umgab, die ihn - so einige der gegen ihn erhobenen Vorwürfe - auch mal massieren oder in seinem Hotelzimmer zur Drehbuchbesprechung erscheinen mussten, wo er sie im Bademantel empfing, wenn er nicht nackt im Bett lag oder in der Wanne saß. Prokosch hat nur eine Assistentin, die sein Mädchen für alles ist. Jetzt fungiert Francesca wieder als Übersetzerin, weil der Produzent kein Französisch und der Autor kein Englisch kann. Business as usual.

Davon, dass im Off Dinge vorgefallen sind, von denen die Akteure wissen oder zumindest etwas ahnen, ohne darüber zu reden, zeugt nur das rote Oberteil (und dass Francesca ihr Make-up in Ordnung bringen muss). Man denke an den roten Alfa, den Penisersatz des Amerikaners. Die Odyssee sei griechisch und nicht römisch, wendet Javal ein. Das sei ihm bewusst, antwortet der Produzent. Glauben tut man ihm das nicht, weil es ihm um die Sexszenen in dem Buch geht, nicht um Kunst und Kultur. Für ihn spielt es keine Rolle, ob die Frauen Griechinnen oder Römerinnen sind, wenn sie sich nur ausziehen.

Ungeheuerliche Obskuritäten

In einem der ersten Bücher über Godard (The Films of Jean-Luc Godard, 1969 von Ian Cameron herausgegeben) ist ein Text des wie immer erfrischenden Robin Wood enthalten, der seinem Ärger über die "Obskuritäten" im Werk des Regisseurs Luft macht. Gemeint sind "aufdringliche Ungeheuerlichkeiten" in der Präsentation, die - so Wood - unerklärlich sind und von den Kritikern einfach ignoriert werden, weil diese weder die Godard-Begeisterung stören noch zugeben wollen, dass sie auch nicht verstehen, was das soll.

Wenn man von der Hollywood-Norm ausgeht hat sich eine dreiminütige, trotz Kamerafahrt eher statische Plansequenz mit nicht enden wollendem Ramakrishna-Witz und einer Brigitte Bardot, die rätselhafterweise zweimal das Licht an- und ausmacht (dazu später mehr) für die Kategorie "aufdringliche Ungeheuerlichkeiten" ohne Zweifel qualifiziert. Statt sich jedoch zu drücken haben sich die Kritiker in eine wahre Deutungsorgie gestürzt. Im Angebot ist alles von "Godard lässt uns nachempfinden, wie langweilig das Leben ist" über "Godard verarscht uns" bis zu "Als den Fortgang der Handlung stoppender Fremdkörper wird die Guru-Episode zum Ausdruck der kulturellen Fragmentierung in der modernen Welt".

Le mépris

Auffallend ist, was fehlt. Francesca kommt nur als die Frau mit dem von Paul Javal begraptschten Hintern vor. Dieser Version nach wird Camille klar, dass sie ihren Mann nicht mehr liebt, nachdem sie gesehen hat, wie Paul mit der Assistentin anbändeln will. So reduziert man Francesca Vanini auf ihre Pobacken. Prokosch ist fein raus, weil er in dieser Variante der Geschichte nicht mehr benötigt wird. Mit ihm verschwinden auch die Fragen, die man dann nicht mehr stellen muss: Was hat Prokosch mit Francesca gemacht? Warum hat sie geweint? Weshalb musste sie ihr Oberteil wechseln?

Mag sein, dass das Publikum die dreiminütige Plansequenz langweilig findet, postmodern oder revolutionär, weil sie die Hollywood-Regeln aus den Angeln hebt. Zuallererst zeigt sie uns eine Frau, der gerade etwas angetan wurde und einen Mann, der sie mit Ramakrishna ablenken oder die Gelegenheit zur Anmache nützen will, oder vielleicht beides. In jedem Fall erleben wir Pauls totale Hilflosigkeit angesichts dieser Situation. Keine kunstvolle Montage, kein Inszenierungsschnickschnack lenkt davon ab. In den drei Minuten hat man ausreichend Zeit, darüber nachzudenken, wie man sich selbst verhalten würde, an seiner Stelle.

Javal hat die Wahl: Reagiert er, oder lässt er sich auf das Buch mit der Erotik aus Pompeji ein, das ihm Prokosch zeigt? Er entscheidet sich dafür, dem kulturlosen Amerikaner gegenüber den europäischen Intellektuellen herauszukehren (Homer war doch kein Römer!), weicht auf das Feld der schönen Künste und in die Antike aus, statt sich den unschönen Seiten einer Gegenwart zu stellen, in der Prokosch teils wie ein machtgeiler Alleinherrscher agiert, teils wie ein Forscher, der Paul mit spöttischer Miene beobachtet, als wolle er sein Verhalten studieren.

Alles deutet darauf hin, dass Prokoschs Gewalt gegen Francesca eine sexuelle und sein Produzententum an den Geschlechtstrieb gekoppelt ist. Auch Javals Frau, Camille, hat er offenbar belästigt. Pauls Schweigen, sein Versagen gegenüber Machtmissbrauch, Geld und Hierarchie, macht der Film so beredt, dass es einem wehtut. Hier, würde ich vermuten, liegt der tiefere Grund dafür, dass Camille anfängt, ihren Mann zu verachten, und nicht beim Klaps auf Francescas Po, den sie beobachtet hat. Durch diese Pograpscherei macht sich Javal mit dem Täter gemein, statt sich mit dem Opfer zu solidarisieren.

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