Jedermanns Himmelfahrt
Seite 3: Das neue Paradigma
Privatisierung und Kommerzialisierung sind die ökonomischen Voraussetzungen für die Revolutionierung der Raumfahrt, wie sie vielen NASA-Veteranen vorschwebt. Der entscheidende Paradigmenwechsel aber, von dem Thomas Ingersoll schwärmt, besteht in der Ablösung der analogen Technik durch digitale. "Wußten Sie", fragt der USL-Präsident halb amüsiert, halb verzweifelt, "daß der Flugcomputer der Delta-Rakete bis vor zwei Jahren einen Arbeitsspeicher von acht Kilobyte hatte? Eine 50-Millionen-Dollar-Rakete mit einem Chip, der um ein Vielfaches kleiner war als der in meiner Armbanduhr! So war das Ding vor Urzeiten mal entworfen worden, und so flog es immer weiter."
Wie alle Bürokratien ist die NASA schwer innovationsbehindert. Spätestens seit der Mondlandung ließ sie die Zeit stillstehen. Die Rampen, die wichtigsten Raketen, die Start- und Steuerungsverfahren - alles ist heute mindestens 30 Jahre alt. "Die Ausnahme ist das Shuttle. Das wurde in den siebziger Jahren gebaut - dafür mit Sechziger-Jahre-Technologie", sagt Ingersoll. "Kein Mensch hatte einfach ein Interesse daran, irgend etwas besser und billiger zu machen. Der Staat war ja bereit, für das veraltete Gerät teuer zu bezahlen!"
Der beste Beweis für das antiquierte Design der Raketen und die rückständigen Verfahren ihrer Produktion ist der Umstand, daß die Techniker, die die handgefertigten Raketenteile zusammenschrauben und startfertig machen, bis zum heutigen Tag Spezialwerkzeuge benutzen, die man sich in den fünfziger Jahren selbst gedrechselt hat. "Das ist alles wahnsinnig arbeitsintensiv", schüttelt Ingersoll den Kopf: "So was kann man für kein kostenbewußtes Unternehmen heute gebrauchen."
Doch Dutzende von neuen Firmen, viele durch Venture-Kapital finanziert, haben bereits begonnen, die Branche umzukrempeln. Dabei ist der Computer nicht nur das Mittel, seine rasante Entwicklungsgeschichte bietet auch das historische Vorbild. "Wir wollen", erklärt Thomas Ingersoll, "das Weltraumgeschäft auf dieselbe Art verändern, wie der Personal Computer das Computergeschäft revolutioniert hat."
Die Aerospace-Konzerne, die sich immer noch, wenn auch eher schlecht als recht von den Militärs und der NASA nähren, erinnern aus seiner Perspektive an die Computerindustrie der sechziger und siebziger Jahre: Alles wird aufwendig gefertigt, die Produkte sind viel zu teuer, und sie sind auch viel zu kompliziert, um für den Massenmarkt tauglich zu sein. Die traditionelle Raumfahrt ist ein "großes elitäres System", zu dem die Öffentlichkeit genauso wenig Zugang hat wie einst die Mehrheit der Menschen zu den Millionen-Dollar-teuren Mainframes.
"Der Personal Computer führte damals den Paradigmenwechsel herbei", sagt Ingersoll. "So erlangten die kleinen Leute Zugang, das schuf einen Markt. Und genau das wird mit der Raumfahrt geschehen."
Dagegen liegt ein Einwand auf der Hand: Die Erfinder und Popularisierer des PC, die das teure Investitionsgut Computer in einen Konsumartikel verwandelten, Männer wie Steve Jobs oder Bill Gates, haben in der heimischen Garage angefangen. Raumfahrt jedoch ist Big-Tech. Aerospace-Outsidern dürfte die hausgemachte Karriere angesichts des Kapitalbedarfs in der Industrie kaum möglich sein.
"Warum denn nicht?" widerspricht Ingersoll. "Es ist ein Mythos, daß alles und jedes Zigmillionen kosten muß. Die vielen Vorschriften und die Bürokratie, die rund um die Aerospace-Industrie entstanden ist, haben diese Kultur von Aufwand und Verschwendung erzeugt."
Er gibt ein Beispiel: Wenn Pete Conrad und er auf der White Sands Missile Range in New Mexico einen Probeflug des Delta Clippers unternahmen, kam der Wasserstoff dazu per Tanklaster aus Ontario in Kalifornien, über Hunderte von Meilen öffentlicher Autobahn, bis er an einem einsamen Seiteneingang des Sperrgebiets eintraf. Von dort ging es weitere 30 Meilen durch verlassenes Wüstengebiet. Das allerdings durfte der Tankwagen nicht mehr allein durchfahren, denn das war Regierungsgelände, und dafür, so verlangten es die Vorschriften, bedurfte es einer kostspieligen Eskorte aus Militärpolizei und zwei Rettungswagen samt Sanitätern. "Das ist nur ein kleines Beispiel für all das, was unsere Industrie sich selbst angetan hat", sagt Ingersoll mit kaum verhaltener Wut.
Vor zehn Jahren, als er aus dem College kam, hat er ein gutes Angebot der CIA abgelehnt, weil ihm das Milieu zu abenteuerlich war. Statt dessen nahm er einen in jeder Hinsicht sichereren Job beim Aerospace-Giganten McDonnell Douglas an. Doch jetzt ist Thomas Ingersoll plötzlich gar nicht mehr der kühle, auf Normalität bedachte Buchhalter. Fast verschwörerisch lehnt er sich vor. "Sie wären schockiert, wenn ich Ihnen erzählen würde, was in unserem Bereich in einer Garage alles möglich ist. Das ist nämlich etwas, was die meisten Menschen sich im Zusammenhang mit Luft- und Raumfahrt gar nicht vorstellen können."
Experten, die früher für die großen Konzerne arbeiteten, für Rocketdyne und McDonnell Douglas und für Lockheed, haben sich in den vergangenen Jahren selbständig gemacht und basteln in kalifornischen Privathäusern und Lagerhallen an Raketen, entwerfen Satelliten und Raumgleiter. Thomas Ingersoll grinst mit jungenhafter Freude: "Da entsteht eine neue Bewegung von ganz unten, da entstehen Firmen, da geschieht etwas, dessen Folgen sich so wenig absehen läßt, wie man einst wissen konnte, was aus den Garagen von Silicon Valley über die Welt kommen würde."
Von frontier zu frontier
Daß die überwiegende Mehrzahl der neuen privaten Aerospace-Unternehmungen vom amerikanischen Westen aus operiert, daß der Aufbruch zur "high frontier" wieder an der alten Frontier beginnt, von der aus schon der Cyberspace erobert wurde, ist kein Zufall. Denn Kalifornien und seine Nachbarstaaten bilden nicht nur das Entwicklungszentrum der Computerisierung, sie sind auch traditionell die Heimat der US-Luft- und Raumfahrt. Hier etablierte sich seit den zwanziger Jahren die Flugzeug- und Rüstungsindustrie, und in ihrem Gefolge entstand ein dichtes Netz von Spitzenforschungseinrichtungen für Luftfahrt und Raketentechnik. Als es dann galt, die russische Raumfahrt zu übertrumpfen, verstärkten die Militärs und ab 1958 die NASA die vorhandene Konzentration von wissenschaftlichem Talent. Heute drängeln sich zwischen San Francisco und San Diego mehr Weltraum-Institutionen und Aerospace-Konzerne als an jedem anderen Ort der Erde:
- führende Forschungsinstitute wie das NASA Ames Research Center in Moffett Field, das SETI-Institute zur Erforschung außerirdischer Intelligenzen in Mountain View, das NASA Dryden Flight Research Center in Edwards oder das NASA Jet Propulsion Labaratory in Pasadena, die Steuerzentrale für alle wichigen Expeditionen zu Venus, Mars, Saturn und Merkur;
- private und gemeinnützige Organisationen wie AeroPac in der Bay Area, JP Aerospace bei Sacramento, die Pacific Rocket Society in Los Angeles und die Aerospace Corporation in El Segundo;
- die Labors und Fabriken der führenden Aerospace-Konzerne der Welt, Loral Space Systems in Palo Alto, Lockheed Martin in Sunnyvale, Orbital Sciences in Pomona und ebenfalls im Großraum Los Angeles das Hughes Space and Communications Center, Rocketdyne, die McDonnell Douglas Corp., jüngst für 13,3 Milliarden Dollar von Boeing aufgekauft, sowie Boeings eigenes bahnbrechendes Sea-Launch-Project mit dem Heimathafen Long Beach.
"Es gibt im Westen einfach eine gewaltige Anhäufung von menschlichen Ressourcen", sagt Thomas Ingersoll, "weshalb ganz zwangsläufig die meisten Neugründungen hier geschehen." Dabei befruchten sich nicht nur gegenseitig zwei High-Tech-Kulturen, die Raumfahrt- und die Computerszene. In den meisten der neugegründeten Firmen kommt es dabei auch zum Schulterschluß zwischen den Generationen, zwischen Ex-"Helden der Nation", die längst Großeltern sind, und viel jüngeren Geeks und Nerds, die ihre Kinder oder gar Enkel sein könnten.