Jo Cox: Worüber niemand spricht

Die ermordete britische Parlamentarierin war Feministin; die Person, die ihr das Leben nahm, ein Mann

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Helen Joanne Cox, geborene Leadbeater, war Ehefrau, Mutter von zwei Kindern (3 und 5), Sozialistin und Feministin, setzte sich aktiv für Flüchtlinge, für eine multikulturelle Gesellschaft und den Verbleib Großbritanniens in der EU ein. Sie war Tochter einer Schulsekretärin und eines Fabrikarbeiters, die erste ihrer Familie, die einen Uniabschluss machte. Neben ihrer Abgeordnetentätigkeit war sie die Vorsitzende des Frauennetzwerks der Labour-Party.

Der Mörder: ein Rechter

Der mutmaßliche Mörder Thomas M. hatte nachweislich psychische Probleme und interessierte sich für die rechtsextreme Szene. Nicht nur die britische Neonazi-Partei "Britain First" fand sein Augenmerk, sondern auch die US-amerikanische Neonazi-Organisation "National Alliance" (NA), der er dem Spiegel zufolge zwischen 1999 bis 2003 mehr als 620 US-$ überwiesen hat.

Auf Sozialen Netzwerken wird behauptet, es gebe Fotos, auf denen er bei Aufmärschen von "Britain First" zu sehen sei. Weiter heißt es im Spiegel-Bericht, M. habe "Neonazi-Magazine abonniert sowie Gebrauchsanleitungen für den Eigenbau von Schusswaffen und Sprengsätzen gekauft, etwa ein Buch mit einer Anleitung zur Konstruktion einer .38-Kaliber-Pistole aus haushaltsüblichen Materialien" .

Was heißt hier "oder"?

Also wurde eine feministische Sozialistin von einem Neonazi ermordet. Oder von einem Psychopathen. Oder von einem psychopathischen Neonazi. Oder einem rechten Psychopathen. Das herauszufinden, hat sich die zuständige Justiz zur Aufgabe gestellt.

Doch egal, was am Ende dabei raus kommt: In jedem Fall wurde eine Frau von einem Mann ermordet. Was immer in seinem Kopf vorgegangen sein mag - ER hat sich entschieden, SIE zu töten.

Nur wird das quasi nirgendwo so benannt. Auch ist in den meisten Berichten mehr über den Täter, seine physischen und psychischen Maläsen und seine politische Einstellung zu lesen als über die Lebensgeschichte des Opfers.

Der unverhohlene Frauenhass, der - nicht nur britischen - Frauen, die sich in der Öffentlichkeit bewegen, entgegenschlägt, so wie die Tatsache, dass Cox Feministin war, wird in der Berichterstattung geflissentlich verschwiegen. Ebenso in den vielen Solidaritätsbekundungen. Allerorten wird in diesen gegen Rassismus, Hass und Gewalt demonstriert. Das geht am Problem vorbei - und wird Jo Cox nicht gerecht. Gewalt ist nicht geschlechtsneutral! Wenn wir wollen, dass diese Gewalt ein Ende findet, müssen wir begreifen, dass wir von Männergewalt sprechen.

Ob Taliban, Boko Haram, der IS oder verwirrte oder auch nicht so verwirrte Einzeltäter: Sie alle sind Männer, die sich entschieden haben zu morden. Gewalt, ausgeübt von Männern - gegen Frauen und Männer. Die Gotteskrieger von Boko Haram z.B. metzeln Jungen genauso dahin wie Mädchen.

Nein, Thomas M. hat Jo Cox nicht ermordet, "nur" weil sie eine Frau war. Sondern weil sie eine Frau war, die laut und vernehmlich ihre Meinung äußerte. Eine Meinung, die seiner offenbar diametral entgegengesetzt war. Sie hatte die Macht, ihre Meinung öffentlichkeitswirksam kundzutun. Er nicht. Ebenso hatte er keine Möglichkeit, sie legal und gewaltfrei daran zu hindern, für ihre Überzeugungen einzutreten. Außer sie nicht zu wählen, was er vermutlich auch nicht getan haben wird.

Das reichte ihm aber nicht. Deshalb maßte er sich an, sie zum Schweigen zu bringen. Auf seine Weise. Für immer. Er nahm ihr das Leben, zwei Kindern die Mutter, einem Mann die Ehefrau, der Politik eine engagierte Linke und den Frauen eine Stimme im Parlament.

Sexistisches Mobbing im Internet

Vielleicht gehörte Thomas M. zu den unzähligen Verfassern der Hassbotschaften, die weibliche britische Abgeordnete scheinbar in schönster Regelmäßigkeit erhalten, als Mail oder in den sozialen Netzwerke im Internet: wüste (sexistische) Beschimpfungen, offene Drohungen, Ankündigungen von Vergewaltigung und Mord.

Auch Cox war davon betroffenen. Im März 2016 kontaktierte sie deswegen die Polizei. Daraufhin wurde ein Mann festgenommen, der beschuldigt wurde, solche Hassbotschaften an sie verfasst zu haben. Dieser erhielt eine Verwarnung. Laut Auskunft der zuständigen Polizeidienststelle handelt es sich bei dem Beschuldigten vom März nicht um Thomas M.

Eine andere Parlamentarierin, die Abgeordnete Jess Phillipps, erhielt Hunderte solcher Drohbotschaften, nachdem sie öffentlich gemacht hatte, dass sie als Jugendliche vergewaltigt worden war. Sie initiierte eine Kampagne gegen sexistisches Mobbing im Internet.

Auch Phillips, ebenfalls Abgeordnete der Labour-Party, setzt sich für Frauenrechte, insbesondere für den Schutz geflüchteter Frauen, ein.

Klima der Gewalt gegen Frauen

Britische Frauenorganisationen ordnen demzufolge den Mord an Cox ein in den Kontext "Gewalt gegen Frauen und Mädchen". Die Parlamentarierin sei die 57. Frau, die in diesem Jahr im United Kingdom (Großbritannien und Wales) von einem Mann getötet worden sei, heißt es auf der Webseite everydayvictimblaming.

2013 beschuldigte die Abgeordnete Barbara Follet, ebenfalls Labour-Party, den ehemaligen Geschäftsführer der Liberalen Partei, Lord Christopher Rennard, öffentlich, Frauen sexuell belästigt zu haben. Es stellte sich heraus, dass der Vorsitzende der Liberalen Partei, Nick Clegg, von den Vorwürfen wusste. Der tat die vorgebrachten Beschwerden indes als "unkonkrete anonyme Bedenken" ab. Allerdings ging der Lord 2009 in den Ruhestand. Möglicherweise doch nicht aus gesundheitlichen Gründen. Jedenfalls nicht, was seine Person betraf, sondern als eine Art internen Heilungsprozess der Liberalen Partei.

Wie dem auch sei, Follet hatte damit sozusagen die Büchse der Pandora geöffnet. Plötzlich war die Rede von "älteren Abgeordneten, die junge Kolleginnen ganz selbstverständlich so berührten, 'als wären sie ihr Besitz'. Davon, dass Frauen im Parlamentsbetrieb, Abgeordnete und Beschäftigte, sich gegenseitig warnten, welcher Abgeordnete für Anzüglichkeiten bekannt sei".

Allerdings waren die Vorwürfe nicht öffentlich geäußert worden: "Nicht zuletzt seien viele Frauen um ihren eigenen Ruf besorgt. Sie befürchten, dass eine Beschwerde sie schwach und unprofessionell aussehen ließe."

Mit zweierlei Maß gemessen

Die wenigsten Frauen werden Abgeordnete. Dass ist in Großbritannien nicht anders als hierzulande. Viele arbeiten in repräsentativen Berufen, z.B. in der Hotelbranche oder am Empfang von großen Konzernen. Dort sind sie Zwängen unterworfen, Dresscodes z.B., die auch für männliche Kollegen gelten, aber nicht unbedingt solch nachhaltige Auswirkungen auf die Gesundheit haben wie für die weiblichen Angestellten.

Stöckelschuhe beispielsweise. Seit Dezember 2015 wehrt sich die Londoner Angestellte Nicola Thorp dagegen, dass sie dazu gezwungen werden sollte, 9 Stunden am Tag auf High Heels am Empfang eines renommierten Konzerns rumzustöckeln. Wie der Spiegel berichtete, "dürfen in Großbritannien Arbeitgeber weiblichen und männlichen Angestellten unterschiedliche Kleiderordnungen vorschreiben, solange ein 'gleiches Maß an Eleganz' gefordert wird."

Der jungen Frau erschien das eher als zweierlei Maß, und sie sammelte inzwischen mehr als 46.000 Unterschriften, um eine Gesetzesänderung zu erwirken. Dafür bräuchte sie zudem die Unterstützung engagierter Parlamentarierinnen, wie Jo Cox es war.

Brutale Tradition

Die Sicherheit von Frauen und Mädchen lag Cox am Herzen. Da gebe es - nicht nur in Großbritannien - viel zu tun, beispielsweise tausende Mädchen vor Genitalverstümmelung zu retten. Wie die Organisation Taskforce FMG (Female Genital Mutilation) mitteilt, wurden allein in den Monaten Januar bis März 2016 mehr als 1.200 neue Opfer von Genitalverstümmelung registriert.

Dabei seien 29 Opfer unter 18 Jahre alt und 11 in Großbritannien geboren worden. "Taskforce FMG" schätzt, dass die genannte Zahl der minderjährigen Mädchen "lediglich eine kleine Spitze des Eisberges sein" dürfe.

Bezeichnend dabei ist, dass mindestens die 11 Verstümmelungsopfer, die in Großbritannien geboren wurden, direkt dem Versagen britischer Politiker und Behörden zuzurechnen sind, die es seit Jahren versäumen, wirksame Schutzmaßnahmen umzusetzen, wie z.B. Unversehrtheits-Check-Ups, verbunden mit medizinischer Meldepflicht und der strikten Verurteilung insbesondere der anstiftenden Täter-Eltern.

Bis heute seien allerdings keine Täter festgenommen und verurteilt worden. Auch das zu ändern bedarf es mutiger Politikerinnen - wie Jo Cox eine war.

Sie fehlt schon jetzt

Die Verhinderung des Brexit, Unterstützung von Frauen, insbesondere von geflüchteten Frauen, die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und im Internet, Gender-Pay-Gap, sexistische Dress-Codes, Kontrollen zur Verhinderung von Genitalverstümmelungen - es gebe viel zu tun für eine engagierte linke Feministin im britischen Parlament.