Joachim Gauck: Warum die Ostdeutschen zu doof für Demokratie sind

(Bild: Sebastian Hillig, CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Der Altpräsident zu Gast bei Markus Lanz. Thema: Rechtspopulismus und Ostdeutsche. Statt Erkenntnis gab es aufgewärmte Klischees. Warum das ein Problem ist.

Wären jetzt Wahlen, würde wohl knapp ein Fünftel der Wähler für die Alternative für Deutschland (AfD) stimmen. Das zeigt der wöchentliche Meinungstrend, der vom Institut INSA erhoben wird. Mitte Juni sind die Zustimmungswerte auf dieses Niveau gestiegen und halten sich seitdem.

In den Medien wird heftig über die Ursachen dieser Entwicklung diskutiert – und man könnte meinen, ein Tiefpunkt der Debatte folgt dem nächsten. Am Dienstag war der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck zu Gast bei Markus Lanz und durfte seine Sicht der Dinge darlegen.

Doch wer eine politische Analyse erwartet hatte, wurde enttäuscht. Denn für Gauck ist der wachsende Zuspruch für Rechtspopulisten kein politisches, sondern ein psychologisches Problem.

In jedem Land gebe es eine bestimmte Gruppe von Menschen, die psychologisch so geprägt sei, dass sie eher nach Führung als nach Mitbestimmung suche. Diese Menschen bevorzugten ein autoritäres Lebensprinzip und sähen Freiheit als problematisch an.

Markus Lanz glaubte, diese Aussage durch eine kürzlich vorgestellte Studie des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Universität Leipzig bestätigt zu sehen. Auf die Kritik an der Studie ging er jedoch ebenso wenig ein wie auf das Ergebnis, dass es einen Zusammenhang zwischen rechtsextremen Einstellungen und der sozioökonomischen Lage der Menschen gibt.

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Geschenkt, könnte man meinen. Doch Joachim Gauck ging zu dem über, was er in den Augen vieler Ostdeutscher am besten zu können scheint: Ossi-Schelte. Natürlich gebe es auch im Westen Anhänger des Nationalpopulismus. Aber im Osten gebe es eine "sehr starke Bindung an autoritäre Führung".

Kann Gauck den Rechtspopulismus in Europa erklären

Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen seien keine Konstrukte, sondern statistisch so gut belegt, dass es töricht sei, daran zu zweifeln. Letztlich sei aber die DDR für das Wahlverhalten der Ostdeutschen verantwortlich. "Lange politische Ohnmacht bleibt nicht ohne Folgen", so Gaucks Fazit.

Ein Blick ins europäische Ausland widerlegt Gaucks Thesen. In zahlreichen demokratischen Staaten, die nicht wie die DDR 44 Jahre "zusätzliche Diktatur" erleiden mussten, sind Rechtspopulisten fester Bestandteil des demokratischen Parteienspektrums und keine Randerscheinung.

Ministerpräsidentin Italiens ist etwa die Postfaschistin Giorgia Meloni. In Frankreich steht die Rechtspopulistin Marine Le Pen kurz vor dem Einzug in den Élysée-Palast. In Österreich ist die FPÖ seit Jahrzehnten keine Randerscheinung mehr. In Finnland hat ein rechtspopulistisches Parteienbündnis die Regierung übernommen.

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Klischees über Ostdeutsche

Was Gauck in der Sendung von Markus Lanz vortrug, sind Klischees, die es seit der sogenannten Wiedervereinigung gibt. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk schrieb in seinem Buch "Die Übernahme" dazu:

Der Westler gilt als durchsetzungs- und meinungsstark, freiheitsliebend, forsch, laut, arrogant, auf seinen Vorteil bedacht, weltläufig, mehr Schein als Sein. Daher auch der Witz, warum die Westler 13 Jahre für Abitur benötigen, ein Jahr mehr als im Osten: weil ein Jahr Schauspielunterricht notwendig sei. Der Ostler hingegen ist zurückhaltend, geht im Kollektiv auf, jammert, meckert, hat keine eigene Meinung, hat mehr Sein, als er Schein verbreitet.

Und diese Klischees kamen nicht von der Straße, so Kowalczuk, sondern wurden von Medien, Politik, Kultur und vielen einflussreichen Einzelstimmen gefördert, verbreitet, produziert.

Zu den Stimmen, die sich in den 1990er-Jahren um die Abwertung der Ostdeutschen und ihrer Lebensleistungen verdient gemacht haben, gehört der umstrittene Historiker Arnulf Baring.

Jahrzehntelange Abwertung von "Ossis"

Umstritten war er unter anderem wegen seiner politischen Thesen, die große Schnittmengen mit den Positionen der NPD und anderer nationalkonservativer Gruppierungen aufwiesen. Seiner Medienpräsenz tat dies keinen Abbruch.

So konnte er den Ostdeutschen die Fähigkeit absprechen, richtig zu arbeiten. Die meisten Ostdeutschen waren in seinen Augen Ausschuss, also Menschen, die wegen angeblich fehlender Fachkenntnisse nicht mehr zu gebrauchen waren.

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Ein anderes Beispiel ist Johannes Niermann. Als er 1991 vom Bundestag als Sachverständiger geladen wurde, galt er als Experte für die Psychologie der DDR-Bürger. Die Frauen seien unfähig, ihre Kinder zu lieben, sagte er. Die Kinder würden nur in den Kindergarten gebracht, weil man froh sei, sich nicht um sie kümmern zu müssen.

Um den Ostdeutschen ihre Stellung in der Gesellschaft zu verdeutlichen, empfahl Niermann, ihnen den Weg zum Abitur weitgehend zu versperren. Nur noch 2.000 bis 6.000 Schüler pro Jahr sollten zum Abitur zugelassen werden.

Berufstätige Frauen scheinen Niermann ein Graus gewesen zu sein. Sie hätten zum allgemeinen Verfall der Gesellschaft beigetragen. Schließlich sollten sie sich in Zukunft vorwiegend der Hauswirtschaft widmen und sich auf eine "kindgerechte Erziehung" konzentrieren.

Zum Unterschied in der Mentalität in Ost und West dürften eher solche aggressiv verbreiteten Klischeevorstellungen beigetragen haben. Schließlich kennen sie Ostdeutsche nun schon seit über 30 Jahren. Und es verwundert, dass sie in abgewandelter Form immer noch kursieren. Lagen die konservativen Populisten damals mit ihnen falsch, so auch heute.

Über welche Ostdeutsche spricht Gauck eigentlich

Bei Joachim Gauck stellt man sich zwangsläufig die Frage, von welchen Ostdeutschen er eigentlich spricht. Wer zur Zeit der sogenannten Wiedervereinigung ein Kind war, dürfte in vielen Fällen inzwischen selbst (erwachsene) Kinder haben.

Beide Generationen haben ihre soziale Prägung primär in Westdeutschland erhalten und bei ihnen will die Leipziger Studie auch hohe Zustimmungswerte für Chauvinismus, Sozialdarwinismus und für das Befürworten einer Diktatur gefunden haben.

Nicht zu vergessen sind die vielen tausenden Westdeutschen, die in den vergangenen 33 Jahren einen Wohnsitz in den "neuen Bundesländern" gewählt haben. Auch sie wählen mitunter AfD.

Vor diesem Hintergrund scheint aus Gauck weniger Sachkenntnis zu sprechen als ein über viele Jahre antrainierter und zelebrierter Selbsthass eines Ostdeutschen.

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