John Mearsheimer über den Ukraine-Krieg: Die Zukunft sieht düster aus

Die Hauptakteure halten an maximalistischen Zielen fest, weswegen ein praktikabler Friedensvertrag unmöglich erscheint – die jüngste Veröffentlichung des US-Politikwissenschaftlers und ein Kommentar.

Für den Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer erscheint ein sinnvolles Friedensabkommen in der nächsten Zeit fast unmöglich; das beste Ergebnis wäre ein eingefrorener Konflikt, das schlimmste ein Atomkrieg. In seinen weiter unten folgenden Ausführungen begründet er, warum er glaubt, dass Russland den Krieg letztlich gewinnen wird.

Nationalismus auf beiden Seiten und das fehlende Vertrauen erschweren seiner Auffassung nach mögliche Friedensverhandlungen, sodass der Krieg weitergehen und die Ukraine noch mehr zerstören wird. Für Mearsheimer ist diese Katastrophe von der unverantwortlichen US-Politik der Nato-Erweiterung mitverursacht worden und hätte leicht vermieden werden können.

Seit Beginn des Ukraine-Krieges habe ich mehrfach auf die klarsichtigen und mutigen Analysen über den Ukraine-Krieg des renommierten US-Politikwissenschaftlers hingewiesen. Seit vielen Jahren versucht er, in Video-Interviews und mit wissenschaftlichen Fachartikeln dem Mainstream in den USA und dem Westen eine realistische Einschätzung der Ukrainekrise entgegenzusetzen.

Beispiele aus 2022 habe ich hier angeführt.1

Jetzt ist von ihm ein weiterer "Augenöffner" erschienen, bei dem es sich um einen Text handelt, der am 23.06.2023 unter dem Titel "The darkness ahead: Where the Ukraine war is headed" (zu Deutsch: "Die Dunkelheit, die vor uns liegt: Wohin der Ukraine-Krieg steuert") auf der US-Website Substack veröffentlicht worden ist.2

Es lohnt sich, diesen umfangreichen Text zu lesen, der hier Leserinnen und Lesern von Telepolis möglichst vollständig vorgestellt wird. Anschließend werde ich auf eine wichtige inhaltliche Ergänzung hinweisen und einige Einschätzungen von Mearsheimer kurz kommentieren.

Der Artikel von John J. Mearsheimer wurde mit seiner ausdrücklicher Erlaubnis ins Deutsche übertragen, wobei der Autor dieses Beitrags mehrere Zwischenüberschriften ergänzt hat. Im Original finden sich umfangreiche Verweise auf den zugehörigen Anhang am Schluss.

Weiterhin hat sich der Autor dieses Beitrags erlaubt, den Text Mearsheimers um einen längeren Abschnitt zu kürzen, in dem es um spezielle militärische Aspekte des Ukraine-Krieges geht. Wo diese Kürzung erfolgt ist, ist in der Übersetzung markiert. (Der gekürzte Abschnitt kann im Original im Bereich der Hinweis-Ziffern 33 bis 41 leicht aufgefunden werden.)

John J. Mearsheimer: "Die Dunkelheit, die vor uns liegt: Wohin der Ukraine-Krieg steuert"

In diesem Beitrag wird untersucht, wie sich der Ukraine-Krieg voraussichtlich entwickeln wird. Ich werde mich mit zwei Hauptfragen befassen.

Erstens: Ist ein sinnvolles Friedensabkommen möglich? Meine Antwort ist nein. Wir befinden uns jetzt in einem Krieg, in dem sich beide Seiten – die Ukraine und der Westen auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite – gegenseitig als existentielle Bedrohung sehen, die es zu besiegen gilt. Angesichts der allseitig maximalistischen Ziele ist es fast unmöglich, einen praktikablen Friedensvertrag zu erreichen.

Darüber hinaus haben beide Seiten unüberbrückbare Differenzen in Bezug auf das Territorium und das Verhältnis der Ukraine zum Westen. Das bestmögliche Ergebnis wäre ein eingefrorener Konflikt, der sich jedoch jederzeit wieder leicht in einen heißen Krieg verwandeln könnte. Das schlimmstmögliche Ergebnis wäre ein Atomkrieg, der zwar nicht wahrscheinlich ist, aber auch nicht ausgeschlossen werden kann.

Zweitens: Welche Seite wird den Krieg wahrscheinlich gewinnen? Russland wird den Krieg letztlich gewinnen, auch wenn es die Ukraine nicht entscheidend besiegen wird.

Mit anderen Worten, Russland wird nicht die gesamte Ukraine erobern, was notwendig wäre, um drei von Moskaus Zielen zu erreichen: den Sturz des Regimes, die Entmilitarisierung des Landes und den Abbruch der Sicherheitsbeziehungen Kiews mit dem Westen.

Aber am Ende wird es einen großen Teil des ukrainischen Territoriums annektieren und die Ukraine in einen dysfunktionalen Rumpfstaat verwandeln. Mit anderen Worten, Russland wird einen hässlichen Sieg erringen.

Drei Vorbemerkungen

Bevor ich diese Fragen direkt anspreche, sind drei Vorbemerkungen angebracht.

Zunächst einmal: Ich versuche vorherzusagen, was in der Zukunft geschehen wird. Das ist angesichts der Tatsache, dass wir in einer unsicheren Welt leben, nicht einfach. Ich behaupte also nicht, dass ich die Wahrheit gefunden habe. In der Tat können sich einige meiner Einschätzungen als falsch erweisen.

Außerdem sage ich nicht, was ich gerne sehen würde. Ich drücke nicht die Daumen für die eine oder andere Seite. Ich sage Ihnen lediglich, was meiner Meinung nach passieren wird, wenn der Krieg voranschreitet.

Schließlich rechtfertige ich weder das russische Verhalten noch die Handlungen eines der am Konflikt beteiligten Staaten. Ich erkläre nur ihre Handlungen.

Lassen Sie mich nun zur Substanz meiner Ausführungen kommen.

Wo wir heute stehen

Um zu verstehen, wohin sich der Ukraine-Krieg entwickeln wird, ist es notwendig, zunächst die aktuelle Situation zu bewerten. Es ist wichtig zu wissen, wie die drei Hauptakteure – Russland, Ukraine und der Westen – über ihr Bedrohungsumfeld denken und ihre Ziele konzipieren.

Wenn wir über den Westen sprechen, sprechen wir jedoch hauptsächlich über die Vereinigten Staaten, da ihre europäischen Verbündeten ihre Befehle aus Washington erhalten, wenn es um die Ukraine geht.

Es ist auch wichtig, die aktuelle Situation auf dem Schlachtfeld zu verstehen. Lassen Sie mich also mit dem Bedrohungsumfeld Russlands und seinen Zielen beginnen.

Russlands Bedrohungslage

Seit April 2008 ist klar, dass die russische Führung die Bemühungen des Westens, die Ukraine in die Nato aufzunehmen und sie zu einem westlichen Bollwerk an den Grenzen Russlands zu machen, allseits als eine existentielle Bedrohung betrachtet.

In der Tat haben Präsident Putin und seine Gefolgsleute diesen Punkt in den Monaten vor der russischen Invasion wiederholt betont, als ihnen klar wurde, dass die Ukraine fast de facto Mitglied der Nato ist. Seit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 hat der Westen dieser existentiellen Bedrohung eine weitere Ebene hinzugefügt, indem er eine neue Reihe von Zielen verabschiedet hat, die die russische Führung als äußerst bedrohlich empfinden muss.

Ich werde weiter unten mehr über die Ziele des Westens sagen, aber es genügt hier zu sagen, dass der Westen entschlossen ist, Russland zu besiegen und es aus der Reihe der Großmächte zu verdrängen, wenn nicht einen Regimewechsel herbeizuführen oder sogar ein Auseinanderbrechen Russlands auszulösen, wie es bei der Sowjetunion 1991 der Fall war.

In seiner großen Rede, die Putin im vergangenen Februar (2023) hielt, betonte er, dass der Westen eine tödliche Bedrohung für Russland sei.

"In den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion", sagte er, "hat der Westen nie aufgehört zu versuchen, die postsowjetischen Staaten in Brand zu stecken und vor allem Russland als den größten überlebenden Teil der historischen Gebiete unseres Staates zu vernichten. Sie ermutigten internationale Terroristen, uns anzugreifen, provozierten regionale Konflikte entlang unserer Grenzen, ignorierten unsere Interessen und versuchten, unsere Wirtschaft einzudämmen und zu behindern."

Er betonte weiter: "Die westliche Elite macht keinen Hehl aus ihrem Ziel, nämlich, ich zitiere, 'Russlands strategische Niederlage'. Was bedeutet das für uns? Das bedeutet, dass sie planen, uns ein für alle Mal zu erledigen." Putin fuhr fort: "Das stellt eine existentielle Bedrohung für unser Land dar."

Die russische Führung sieht das Regime in Kiew auch als Bedrohung für Russland, nicht nur, weil es eng mit dem Westen verbündet ist, sondern auch, weil dieses Regime als Nachkomme der faschistischen Streitkräfte der Ukraine angesehen wird, die im 2. Weltkrieg an der Seite Nazideutschlands gegen die Sowjetunion gekämpft haben.

Russlands Ziele

Russland muss diesen Krieg gewinnen, da es glaubt, dass sein Überleben bedroht ist. Aber wie wird dieser Sieg wahrscheinlich ausehen?

Das ideale Ergebnis vor Beginn des Krieges im Februar 2022 bestand darin, die Ukraine in einen neutralen Staat zu verwandeln und den Bürgerkrieg im Donbass beizulegen, in dem die ukrainische Regierung gegen ethnische Russen und russischsprachige Menschen antrat, die eine größere Autonomie, wenn nicht sogar eine Unabhängigkeit für ihre Region wollten.

Es scheint, dass diese Ziele im ersten Monat des Krieges noch realistisch waren und tatsächlich die Grundlage für die Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau im März 2022 in Istanbul bildeten. Hätten die Russen diese Ziele damals erreicht, wäre der jetzige Krieg entweder verhindert oder schnell beendet worden.

Aber ein Deal, der Russlands Ziele befriedigt, ist jetzt nicht mehr in Sicht. Die Ukraine und die Nato sind auf absehbare Zeit eng miteinander verbunden, und keiner von beiden ist bereit, die ukrainische Neutralität zu akzeptieren.

Darüber hinaus ist das Regime in Kiew ein Gräuel für die russische Führung, die es loswerden will. Sie sprechen nicht nur von einer "Entnazifizierung", sondern auch von einer "Entmilitarisierung" der Ukraine, zwei Ziele, die vermutlich die Eroberung der gesamten Ukraine, die Erzwingung einer Kapitulation ihrer Streitkräfte und die Installation eines russlandfreundlichen Regimes in Kiew erfordern würden.

Ein solcher entscheidender Sieg wird aus verschiedenen Gründen wahrscheinlich nicht eintreten.

Die russische Armee ist nicht groß genug für eine solche Aufgabe, die wahrscheinlich mindestens zwei Millionen Mann erfordern würde. Tatsächlich hat die bestehende russische Armee Schwierigkeiten, den gesamten Donbass zu erobern.

Darüber hinaus würde der Westen enorme Anstrengungen unternehmen, um zu verhindern, dass Russland die gesamte Ukraine überrennt. Schließlich würden die Russen am Ende riesige Teile des Territoriums besetzen, das stark von ethnischen Ukrainern bevölkert ist, die die Russen hassen und sich der Besatzung erbittert widersetzen würden. Der Versuch, die gesamte Ukraine zu erobern und sie dem Willen Moskaus zu unterwerfen, würde mit Sicherheit in einer Katastrophe enden.

Abgesehen von der Rhetorik über die Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine besteht Russlands konkretes Ziel darin, einen großen Teil des ukrainischen Territoriums zu erobern und zu annektieren und gleichzeitig die Ukraine in einen dysfunktionalen Rumpfstaat zu verwandeln.

Damit wäre die Fähigkeit der Ukraine, Krieg gegen Russland zu führen, stark eingeschränkt und es wäre unwahrscheinlich, dass sie sich für eine Mitgliedschaft in der EU oder der Nato qualifizieren würde. Darüber hinaus wäre eine zerbrochene Ukraine besonders anfällig für russische Einmischung in ihre Innenpolitik. Kurz gesagt, die Ukraine wäre keine westliche Bastion an der Grenze zu Russland mehr.

Wie würde dieser dysfunktionale Rumpfstaat aussehen? Moskau hat die Krim und vier weitere ukrainische Oblaste – Donezk, Cherson, Luhansk und Saporoschje – offiziell annektiert, die zusammen etwa 23 Prozent des gesamten ukrainischen Territoriums ausmachen, bevor die Krise im Februar 2014 ausbrach.

Die russische Führung hat betont, dass sie nicht die Absicht hat, diese Gebiete aufzugeben, von denen Russland ja auch einige noch nicht ganz kontrolliert. Tatsächlich gibt es Grund zu der Annahme, dass Russland zusätzliches ukrainisches Territorium annektieren wird, wenn es über die militärischen Fähigkeiten verfügt, dies zu angemessenen Kosten zu tun.

Es ist jedoch schwer zu sagen, wie viel zusätzliches ukrainisches Territorium Moskau annektieren will, wie Putin selbst deutlich macht.

Das russische Denken dürfte von drei Berechnungen beeinflusst werden.

Moskau hat einen starken Anreiz, ukrainisches Territorium, das stark von ethnischen Russen und russischsprachigen Menschen bevölkert ist, zu erobern und dauerhaft zu annektieren.

Es wird diese vor der ukrainischen Regierung schützen wollen, die allem Russischen gegenüber feindlich gesinnt ist, und sicherstellen, dass es nirgendwo in der Ukraine wieder einen Bürgerkrieg gibt, wie er zwischen Februar 2014 und Februar 2022 im Donbass stattfand.

Gleichzeitig wird Russland die Kontrolle über Gebiete vermeiden wollen, die größtenteils von feindlichen ethnischen Ukrainern bevölkert sind, was die weitere russische Expansion erheblich einschränkt.

Um die Ukraine in einen dysfunktionalen Rumpfstaat zu verwandeln, muss Moskau schließlich erhebliche Teile des ukrainischen Territoriums einnehmen, damit es gut positioniert ist, um dessen Wirtschaft erheblichen Schaden zuzufügen. Die Kontrolle der gesamten ukrainischen Küste entlang des Schwarzen Meeres würde Moskau beispielsweise einen erheblichen wirtschaftlichen Einfluss auf Kiew verschaffen.

Diese drei Überlegungen deuten darauf hin, dass Russland wahrscheinlich versuchen wird, die vier Oblaste – Dnipropetrowsk, Charkiw, Mykolajiw und Odessa – zu annektieren, die unmittelbar westlich der vier bereits annektierten Oblaste Donezk, Cherson, Luhansk und Saporoschje liegen. In diesem Fall würde Russland etwa 43 Prozent des ukrainischen Territoriums aus der Zeit vor 2014 kontrollieren.

Dmitri Trenin, ein führender russischer Stratege, schätzt, dass die russische Führung versuchen würde, noch mehr ukrainisches Territorium zu erobern – in der Nordukraine könnte Russland nach Westen bis zum Fluss Dnjepr vorzudringen und den Teil von Kiew einzunehmen, der am Ostufer dieses Flusses liegt.

Er schreibt, dass "ein logischer nächster Schritt" nach der Eroberung der gesamten Ukraine von Charkiw bis Odessa "darin bestünde, die russische Kontrolle auf die gesamte Ukraine östlich des Flusses Dnjepr auszudehnen, einschließlich des Teils von Kiew, der am Ostufer dieses Flusses liegt.

In diesem Fall würde der ukrainische Staat auf die zentralen und westlichen Regionen des Landes schrumpfen."

Die Bedrohung aus Sicht der Ukraine und ds Westens

Es mag heute schwer sein zu glauben, aber vor dem Ausbruch der Ukraine-Krise im Februar 2014 betrachteten westliche Staats- und Regierungschefs Russland nicht als Sicherheitsbedrohung.

So sprachen die Staats- und Regierungschefs der Nato auf dem Gipfel des Bündnisses 2010 in Lissabon mit dem russischen Präsidenten über "eine neue Phase der Zusammenarbeit hin zu einer echten strategischen Partnerschaft".

Es überrascht nicht, dass die Nato-Erweiterung vor 2014 nicht mit der Eindämmung eines gefährlichen Russlands gerechtfertigt wurde. Tatsächlich war es die Schwäche Russlands, die es dem Westen ermöglichte, Moskau die ersten beiden Tranchen der Nato-Erweiterung in den Jahren 1999 und 2004 schlucken zu lassen, und diese Schwäche ließ dann auch die Regierung von George W. Bush 2008 glauben, dass Russland gezwungen werden könnte, den Beitritt Georgiens und der Ukraine zum Bündnis zu akzeptieren.

Doch diese Annahme erwies sich als falsch, und als 2014 die Ukraine-Krise ausbrach, begann der Westen plötzlich, Russland als gefährlichen Feind darzustellen, den es einzudämmen, wenn nicht gar zu schwächen gilt.

Seit Beginn des Krieges im Februar 2022 ist die Wahrnehmung Russlands durch den Westen stetig eskaliert, bis zu dem Punkt, an dem Moskau nun als existentielle Bedrohung angesehen zu werden scheint. Die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten sind tief in den Krieg der Ukraine gegen Russland verwickelt.

In der Tat tun sie alles, außer den Finger am Abzug selbst zu betätigen und die Knöpfe selbst zu drücken. Darüber hinaus haben sie ihr unmissverständliches Bekenntnis zum Sieg im Krieg und zur Wahrung der Souveränität der Ukraine deutlich gemacht.

Eine Niederlage in diesem Krieg hätte also enorme negative Folgen für Washington und die Nato. Amerikas Ruf für Kompetenz und Zuverlässigkeit würde schwer beschädigt, was sich sowohl auf den Umgang mit seinen Verbündeten als auch seinen Gegnern – insbesondere China – auswirken würde.

Darüber hinaus ist praktisch jedes europäische Nato-Land der Ansicht, dass das Bündnis ein unersetzlicher Sicherheitsschirm ist. Daher ist die Möglichkeit, dass die Nato im Falle eines Sieges Russlands in der Ukraine schwer beschädigt – vielleicht sogar zerstört – werden könnte, bei ihren Mitgliedern Anlass zu tiefer Besorgnis.

Darüber hinaus stellen westliche Staats- und Regierungschefs den Ukraine-Krieg häufig als integralen Bestandteil eines größeren globalen Kampfes zwischen Autokratie und Demokratie dar, der im Kern Ausdruck eines manichäischen Weltbildes ist.

Hinzu komme, dass die Zukunft der sakrosankten, regelbasierten internationalen Ordnung davon abhänge, sich gegen Russland durchzusetzen. Wie König Charles im vergangenen März (2023) sagte: "Die Sicherheit Europas sowie unsere demokratischen Werte sind bedroht."

In ähnlicher Weise heißt es in einer Resolution, die im April in den Kongress der Vereinigten Staaten eingebracht wurde: "Die Interessen der Vereinigten Staaten, die europäische Sicherheit und die Sache des internationalen Friedens hängen von einem ukrainischen Sieg ab."

Ein kürzlich in der Washington Post erschienener Artikel beschreibt, wie der Westen Russland als existentielle Bedrohung sieht:

Die Staats- und Regierungschefs der mehr als 50 anderen Länder, die die Ukraine unterstützen, haben ihre Unterstützung als Teil eines apokalyptischen Kampfes um die Zukunft der Demokratie und der internationalen Rechtsstaatlichkeit gegen Autokratie und Aggression dargestellt, den sich der Westen nicht leisten kann, zu verlieren.

Die Ziele

Es sollte klar sein, dass der Westen fest entschlossen ist, Russland zu besiegen.

Präsident Biden hat wiederholt gesagt, dass die Vereinigten Staaten in diesen Krieg eingetreten sind, um ihn zu gewinnen. "Die Ukraine wird niemals ein Sieg für Russland sein." Es muss in einem "strategischen Scheitern" enden. Washington, so betont er, werde im Kampf bleiben, "so lange es nötig ist".

Konkret geht es darum, die russische Armee in der Ukraine zu besiegen – ihre Gebietsgewinne zunichtezumachen – und ihre Wirtschaft mit tödlichen Sanktionen zu lähmen. Im Erfolgsfall würde Russland aus den Reihen der Großmächte herausgedrängt und so geschwächt werden, dass es nicht mehr mit einem erneuten Einmarsch in die Ukraine drohen könnte.

Westliche Staats- und Regierungschefs haben weitere Ziele, darunter einen Regimewechsel in Moskau, die Anklage Putins als Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof und möglicherweise die Aufteilung Russlands in kleinere Staaten.

Gleichzeitig setzt sich der Westen weiterhin dafür ein, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, obwohl es innerhalb des Bündnisses Uneinigkeit darüber gibt, wann und wie dies geschehen wird.

Jens Stoltenberg, der Generalsekretär des Bündnisses, sagte auf einer Pressekonferenz in Kiew im April (2023), dass "die Position der Nato unverändert bleibt und dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses werden wird".

Gleichzeitig betonte er: "Der erste Schritt zu einer Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato besteht darin sicherzustellen, dass sich die Ukraine durchsetzt, und deshalb haben die USA und ihre Partner der Ukraine beispiellose Unterstützung geleistet."

Angesichts dieser Ziele ist klar, warum Russland den Westen als existenzielle Bedrohung betrachtet.

Bedrohungslage und Ziele der Ukraine

Es besteht kein Zweifel, dass die Ukraine einer existentiellen Bedrohung ausgesetzt ist, da Russland darauf bedacht ist, sie zu zerstückeln und sicherzustellen, dass der überlebende Rumpfstaat nicht nur wirtschaftlich schwach ist, sondern auch in Zukunft weder de facto noch de jure Mitglied der Nato wird.

Es steht auch außer Frage, dass die Kiewer Regierung das Ziel des Westens teilt, Russland zu besiegen und ernsthaft zu schwächen, damit es sein verlorenes Territorium zurückgewinnen und für immer unter ukrainischer Kontrolle halten kann.

Wie Präsident Selenskyj kürzlich zu Präsident Xi Jinping sagte:

Es kann keinen Frieden geben, der auf territorialen Kompromissen basiert.

Die ukrainische Führung setzt sich natürlich weiterhin unerschütterlich dafür ein, der EU und der Nato beizutreten und die Ukraine zu einem integralen Bestandteil des Westens zu machen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die drei Hauptakteure im Ukraine-Krieg alle glauben, dass sie einer existentiellen Bedrohung gegenüberstehen, was bedeutet, dass jeder von ihnen glaubt, den Krieg gewinnen zu müssen, sonst erleiden sie schreckliche Konsequenzen.

Die militärische Lage

Was die Ereignisse auf dem Kampffeld betrifft, so hat sich der Krieg zu einem Zermürbungskrieg entwickelt, in dem jede Seite hauptsächlich damit beschäftigt ist, die andere Seite auszubluten und zur Kapitulation zu bewegen.

Natürlich geht es beiden Seiten auch darum, Territorium zu erobern, aber dieses Ziel ist zweitrangig gegenüber dem Bemühen, die andere Seite zu zermürben.

Das ukrainische Militär hatte in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 die Oberhand, was es ihm ermöglichte, in den Regionen Charkiw und Cherson Gebiete von Russland zurückzuerobern. Aber Russland reagierte auf diese Niederlagen, indem es 300.000 zusätzliche Soldaten mobilisierte, seine Armee neu organisierte, seine Frontlinien verkürzte und aus seinen Fehlern lernte.

Schauplatz der Kämpfe im Jahr 2023 war die Ostukraine, vor allem in den Regionen Donezk und Saporoschje. Die Russen hatten in diesem Jahr die Oberhand, vor allem, weil sie einen erheblichen Vorteil bei der Artillerie besitzen, die die wichtigste Waffe im Zermürbungskrieg ist.

Moskaus Vorteil zeigte sich in der Schlacht um Bachmut, die endete, als die Russen diese Stadt Ende Mai (2023) eroberten. Obwohl die russischen Streitkräfte zehn Monate brauchten, um die Kontrolle über Bachmut zu übernehmen, fügten sie den ukrainischen Streitkräften mit ihrer Artillerie große Verluste zu.

Kurz darauf, am 4. Juni, startete die Ukraine ihre lang erwartete Gegenoffensive an verschiedenen Orten in den Regionen Donezk und Saporoschje. Ziel ist es, die Verteidigungslinien Russlands zu durchbrechen, den russischen Streitkräften einen entscheidenden Schlag zu versetzen und einen beträchtlichen Teil des ukrainischen Territoriums zurückzuerobern, das jetzt unter russischer Kontrolle steht.

Im Kern geht es darum, die Erfolge der Ukraine in Charkiw und Cherson im Jahr 2022 zu wiederholen.

Die ukrainische Armee hat aber bisher kaum Fortschritte bei der Erreichung dieser Ziele gemacht und steckt stattdessen in tödlichen Zermürbungskämpfen mit den russischen Streitkräften fest.

Im Jahr 2022 war die Ukraine in den Feldzügen in Charkiw und Cherson erfolgreich, weil ihre Armee gegen zahlenmäßig unterlegene und überforderte russische Streitkräfte kämpfte. Das ist heute nicht der Fall: Die Ukraine greift angesichts gut vorbereiteter russischer Verteidigungslinien an.

Aber selbst, wenn die ukrainischen Streitkräfte diese Verteidigungslinien durchbrechen würden, werden die russischen Truppen die Front schnell stabilisieren und die Zermürbungskämpfe werden weitergehen.

Die Ukrainer sind in diesen Begegnungen im Nachteil, weil die Russen einen erheblichen Feuerkraftvorteil haben.

Wohin der Krieg steuert

Lassen Sie mich jetzt einen Gang höher schalten, die Gegenwart verlassen und über die Zukunft sprechen, beginnend mit der Frage, wie sich die Ereignisse auf dem Schlachtfeld wahrscheinlich in Zukunft entwickeln werden.

Wie bereits erwähnt, glaube ich, dass Russland den Krieg gewinnen wird, was bedeutet, dass es am Ende beträchtliches ukrainisches Territorium erobern und annektieren wird, wodurch die Ukraine als dysfunktionaler Rumpfstaat zurückbleibt. Wenn ich richtig liege, wäre das eine schwere Niederlage für die Ukraine und den Westen.

Es gibt jedoch einen Silberstreif am Horizont: Ein russischer Sieg verringert die Gefahr eines Atomkriegs deutlich, da eine nukleare Eskalation am wahrscheinlichsten ist, wenn die ukrainischen Streitkräfte Siege auf dem Schlachtfeld erringen und drohen, alle oder die meisten Gebiete zurückzuerobern, die Kiew an Moskau verloren hat. Die russische Führung würde sicherlich ernsthaft darüber nachdenken, Atomwaffen einzusetzen, um die Situation zu retten.

Wenn ich mich jedoch irre, wohin der Krieg führt, und das ukrainische Militär die Oberhand gewinnt und beginnt, die russischen Streitkräfte nach Osten zu drängen, würde die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Einsatzes natürlich erheblich steigen, was jedoch nicht heißt, dass das eine Gewissheit wäre.

Warum die Russen den Krieg wahrscheinlich gewinnen werden

Der Ukraine-Krieg ist, wie betont, ein Zermürbungskrieg, in dem die Eroberung und das Halten von Territorien von untergeordneter Bedeutung sind. Das Ziel im Zermürbungskrieg ist es, die Kräfte der anderen Seite so weit zu zermürben, dass diese entweder den Kampf aufgibt oder so geschwächt ist, dass sie umkämpftes Gebiet nicht mehr verteidigen kann.

Wer von zwei Parteien einen Zermürbungskrieg gewinnt, hängt weitgehend von drei Faktoren ab: dem Ausmaß der Entschlossenheit, mit der der Krieg geführt wird, der Bevölkerungszahl der beiden Parteien und der Zahl der soldatischen Kriegsopfer einschließlich der Möglichkeit, diese durch neue Kämpfer zu ersetzen.

Die Russen haben einen entscheidenden Vorteil bei der Bevölkerungszahl und einen deutlichen Vorteil beim Verhältnis von Kriegsopfern und deren möglichem Ersatz. Die beiden Seiten dürften in Bezug auf die Entschlossenheit, den Krieg zu führen, in einer vergleichbaren Position sein.

Betrachten wir zunächst das Gleichgewicht bei der Entschlossenheit. Wie bereits erwähnt, sehen sich sowohl Russland als auch die Ukraine einer existentiellen Bedrohung gegenüber, und natürlich sind beide Seiten fest entschlossen, den Krieg zu gewinnen. Daher ist es schwer, einen bedeutsamen Unterschied in ihrer Entschlossenheit zu erkennen.

In Bezug auf die Bevölkerungszahl hatte Russland vor Beginn des Krieges im Februar 2022 einen Vorteil von etwa 3,5 zu 1. Seitdem hat sich das Verhältnis merklich zu Gunsten Russlands verschoben.

Etwa acht Millionen Ukrainer sind aus dem Land geflohen, die man von der ukrainischen Bevölkerung abziehen muss. Etwa drei Millionen dieser Auswanderer sind nach Russland gegangen, was die Bevölkerung dieses Landes erhöht.

Darüber hinaus leben wahrscheinlich etwa vier Millionen weitere ukrainische Bürger in den Gebieten, die Russland jetzt kontrolliert, was das Bevölkerungsungleichgewicht weiter zu Gunsten Russlands verschiebt. Rechnet man diese Zahlen zusammen, hat Russland einen Vorteil von etwa fünf zu eins bei der Größe der Bevölkerung.

Schließlich ist da noch das Verhältnis von soldatischen Kriegsopfern auf beiden Seiten und deren möglichem Ersatz, das seit Beginn des Krieges im Februar 2022 ein umstrittenes Thema ist.

Die gängige Meinung in der Ukraine und im Westen ist, dass die Opferzahlen auf beiden Seiten entweder ungefähr gleich sind oder dass die Russen größere Verluste erlitten haben als die Ukrainer. Der Vorsitzende des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Oleksij Danilow, geht sogar so weit zu argumentieren, dass die Russen für jeden ukrainischen Soldaten in der Schlacht um Bachmut 7,5 Soldaten verloren haben.

Diese Behauptungen sind falsch. Die ukrainischen Streitkräfte haben sicherlich viel größere Verluste erlitten als ihre russischen Gegner, und zwar aus einem einfachen Grund: Russland verfügt über viel mehr Artillerie als die Ukraine.

Im Zermürbungskrieg ist die Artillerie die wichtigste Waffe auf dem Schlachtfeld. In der U.S. Army ist die Artillerie weithin als "König der Schlacht" bekannt, weil sie hauptsächlich für die Tötung und Verwundung der kämpfenden Soldaten verantwortlich ist.

Daher ist das Gleichgewicht der Artillerie in einem Zermürbungskrieg enorm wichtig. Nach fast allen Berichten haben die Russen einen Vorsprung zwischen fünf zu eins und zehn zu eins in der Artillerie, was die ukrainische Armee auf dem Schlachtfeld erheblich benachteiligt.

Ceteris paribus würde man erwarten, dass das Verhältnis von soldatischen Kriegsopfern und deren Ersatz ungefähr den Verhältnissen bei der Artillerie entspricht. Ergo ist ein Verhältnis der Opfer beider Seiten in der Größenordnung von zwei zu eins zu Gunsten Russlands eine sehr konservative Schätzung.

(... )3

Das Beste, was der Westen tun kann – zumindest für das nächste Jahr – ist, das bestehende Ungleichgewicht der Artillerie zwischen Russland und der Ukraine aufrechtzuerhalten, aber selbst das wird eine schwierige Aufgabe sein.

Die Ukraine kann wenig tun, um das Problem zu lösen, weil ihre Fähigkeit, Waffen herzustellen, begrenzt ist. Es ist fast vollständig vom Westen abhängig, nicht nur bei der Artillerie, sondern bei allen Arten von großen Waffensystemen.

Russland hingegen verfügte vor Beginn des Krieges über eine beeindruckende Fähigkeit zur Herstellung von Waffen, die seit Beginn der Kämpfe verstärkt wurde. Putin sagte kürzlich:

Unsere Rüstungsindustrie gewinnt jeden Tag an Dynamik. Wir haben die Rüstungsproduktion im letzten Jahr um das 2,7-fache gesteigert. Unsere Produktion der wichtigsten Waffen hat sich verzehnfacht und nimmt weiter zu. Die Werke arbeiten in zwei oder drei Schichten, und einige sind rund um die Uhr beschäftigt.

Kurz gesagt, angesichts des traurigen Zustands der industriellen Basis der Ukraine ist diese nicht in der Lage, allein einen Zermürbungskrieg zu führen. Das kann sie nur mit westlicher Unterstützung. Aber selbst dann ist sie zum Verlieren verurteilt.

Russlands Luftüberlegenheit

In jüngster Zeit gab es eine Entwicklung, die den Vorteil bei der Feuerkraft Russlands gegenüber der Ukraine weiter erhöht. Im ersten Kriegsjahr hatte die russische Luftwaffe wenig Einfluss auf das Geschehen im Bodenkrieg, vor allem, weil die ukrainische Luftabwehr effektiv genug war, um russische Flugzeuge von den meisten Schlachtfeldern fernzuhalten.

Aber die Russen haben die ukrainische Luftabwehr ernsthaft geschwächt, was es der russischen Luftwaffe nun ermöglicht, ukrainische Bodentruppen an oder direkt hinter den Frontlinien anzugreifen. Darüber hinaus hat Russland die Fähigkeit entwickelt, sein riesiges Arsenal von 500-Kilo-Bomben mit Lenksätzen auszustatten, die sie besonders tödlich machen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Opfer-Verhältnis auf absehbare Zeit weiterhin zugunsten der Russen ausfallen wird, was in einem Zermürbungskrieg von enormer Bedeutung ist. Darüber hinaus ist Russland viel besser in der Lage, einen Zermürbungskrieg zu führen, da seine Bevölkerung weitaus größer ist als die der Ukraine.

Kiews einzige Hoffnung, den Krieg zu gewinnen, besteht darin, dass es in Moskau zu einer politischen Krise kommt, aber das ist unwahrscheinlich, da die gesamte russische Führung den Westen als existentielle Gefahr betrachtet.

Die Aussichten auf ein Friedensabkommen?

Auf der ganzen Welt mehren sich Stimmen, die alle Seiten des Ukraine-Krieges auffordern, Diplomatie zu betreiben und ein dauerhaftes Friedensabkommen auszuhandeln.

Dazu wird es jedoch wahrscheinlich nicht kommen. Es gibt zu viele gewaltige Hindernisse, den Krieg in absehbarer Zeit zu beenden, geschweige denn ein Abkommen zu schaffen, das zu einem dauerhaften Frieden führt.

Das bestmögliche Ergebnis ist ein eingefrorener Konflikt, in dem beide Seiten weiterhin nach Möglichkeiten suchen, die andere Seite zu schwächen, und in dem die Gefahr neuer Kämpfe allgegenwärtig ist.

Auf der allgemeinsten Ebene ist Frieden nicht möglich, weil jede Seite die andere als tödliche Bedrohung betrachtet, die auf dem Schlachtfeld besiegt werden muss. Unter diesen Umständen gibt es kaum Spielraum für Kompromisse mit der anderen Seite.

Es gibt auch zwei spezifische Streitpunkte zwischen den Kriegsparteien, die unlösbar erscheinen. Das eine betrifft das Territorium, das andere die ukrainische Neutralität.

Fast alle Ukrainer sind fest entschlossen, ihr gesamtes verlorenes Territorium zurückzuerobern – einschließlich der Krim. Wer kann es ihnen verdenken? Aber Russland hat die Krim, Donezk, Cherson, Luhansk und Saporoschje offiziell annektiert und ist fest entschlossen, diese Gebiete zu behalten. Tatsächlich gibt es Grund zu der Annahme, dass Moskau noch mehr ukrainisches Territorium annektieren wird, wenn es das kann.

Der andere gordische Knoten betrifft das Verhältnis der Ukraine zum Westen. Aus verständlichen Gründen will die Ukraine nach Kriegsende eine Sicherheitsgarantie, die nur der Westen bieten kann. Das bedeutet entweder de facto oder de jure eine Mitgliedschaft in der Nato, da kein anderes Land die Ukraine schützen kann.

Praktisch alle russischen Führer fordern jedoch eine neutrale Ukraine, was bedeutet, dass es keine militärischen Verbindungen zum Westen und damit keinen Sicherheitsschirm für Kiew gibt. Es gibt keine Möglichkeit, diese Quadratur des Kreises zu beenden.

Es gibt zwei weitere Hindernisse für den Frieden: den Nationalismus, der sich inzwischen in einen Hypernationalismus verwandelt hat, und das völlige Fehlen von Vertrauen auf russischer Seite.

Nationalismus auf ukrainischer und russischer Seite

Der Nationalismus ist seit weit über einem Jahrhundert eine mächtige Kraft in der Ukraine, und der Antagonismus gegenüber Russland ist seit langem eines seiner Kernelemente.

Der Ausbruch des gegenwärtigen Konflikts am 22. Februar 2014 schürte diese Feindseligkeit, was das ukrainische Parlament dazu veranlasste, am folgenden Tag ein Gesetz zu verabschieden, das den Gebrauch von Russisch und anderen Minderheitensprachen einschränkte, ein Schritt, der dazu beitrug, den Bürgerkrieg im Donbass auszulösen.

Die Annexion der Krim durch Russland kurz darauf verschlimmerte die schlechte Situation. Entgegen der landläufigen Meinung im Westen verstand Putin, dass die Ukraine eine von Russland getrennte Nation sei und dass es bei dem Konflikt zwischen den im Donbass lebenden ethnischen Russen und den russischsprachigen Menschen einerseits und der ukrainischen Regierung andererseits um "die nationale Frage" gehe.

Die russische Invasion in der Ukraine, die die beiden Länder in einem langwierigen und blutigen Krieg direkt gegeneinander ausspielt, hat diesen Nationalismus auf beiden Seiten in Hypernationalismus verwandelt. Verachtung und Hass auf "den Anderen" durchdringen die russische und ukrainische Gesellschaft, was starke Anreize schafft, diese Bedrohung zu beseitigen – notfalls mit Gewalt.

Beispiele gibt es zuhauf. Eine bekannte Kiewer Wochenzeitung behauptet, berühmte russische Autoren wie Michail Lermontow, Fjodor Dostojewski, Leo Tolstoi und Boris Pasternak seien "Mörder, Plünderer, Ignoranten". Die russische Kultur, sagt ein prominenter ukrainischer Schriftsteller, stehe für "Barbarei, Mord und Zerstörung ... Das ist das Schicksal der Kultur des Feindes."

Wie zu erwarten war, betreibt die ukrainische Regierung eine "Entrussifizierung" oder "Dekolonisierung". Diese umfasst die Säuberung von Büchern russischer Autoren in Bibliotheken, die Umbenennung von Straßen, die Namen mit Verbindungen zu Russland haben, das Abreißen von Statuen von Persönlichkeiten wie Katharina der Großen, das Verbot russischer Musik, die nach 1991 produziert wurde, den Abbruch der Verbindungen zwischen der ukrainisch-orthodoxen Kirche und der russisch-orthodoxen Kirche und die Minimierung des Gebrauchs der russischen Sprache.

Vielleicht lässt sich die Haltung der Ukraine gegenüber Russland am besten mit Selenskyjs knappem Kommentar zusammenfassen:

"Wir werden nicht vergeben. Wir werden nicht vergessen."

Von der russischen Seite berichtet Anatol Lieven, dass "man jeden Tag im russischen Fernsehen hasserfüllte ethnische Beleidigungen gegen Ukrainer sehen kann". Es überrascht nicht, dass die Russen daran arbeiten, die ukrainische Kultur in den von Moskau annektierten Gebieten zu russifizieren und auszulöschen.

Zu diesen Maßnahmen gehören die Ausstellung russischer Pässe, die Änderung der Lehrpläne in den Schulen, das Ersetzen der ukrainischen Griwna durch den russischen Rubel, die gezielte Bekämpfung von Bibliotheken und Museen sowie die Umbenennung von Städten. Bachmut zum Beispiel ist jetzt Artemowsk und die ukrainische Sprache wird in den Schulen der Region Donezk nicht mehr unterrichtet.

Offenbar werden auch die Russen weder vergeben noch vergessen.

Der Aufstieg des Hypernationalismus ist in Kriegszeiten vorhersehbar, nicht nur, weil Regierungen stark auf den Nationalismus setzen, um ihre Bevölkerung zu motivieren, ihr Land bis zum Äußersten zu verteidigen, sondern auch, weil der Tod und die Zerstörung, die mit Kriegen einhergehen – insbesondere langwierige Kriege – jede Seite dazu bringen, die andere zu entmenschlichen und zu hassen. Im Fall der Ukraine gießt der erbitterte Konflikt um die nationale Identität Öl ins Feuer.

Hypernationalismus erschwert natürlich die Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten und gibt Russland einen Grund, Gebiete zu erobern, die von ethnischen Russen und Russischsprachigen bewohnt sind. Vermutlich würden viele von ihnen es vorziehen, unter russischer Kontrolle zu leben, angesichts der Feindseligkeit der ukrainischen Regierung gegenüber allem, was Russisch ist.

Im Zuge der Annexion dieser Gebiete werden die Russen wahrscheinlich eine große Anzahl ethnischer Ukrainer vertreiben, vor allem aus Angst, dass sie gegen die russische Herrschaft rebellieren werden, wenn sie bleiben. Diese Entwicklungen werden den Hass zwischen Russen und Ukrainern weiter schüren und Kompromisse über Territorien praktisch unmöglich machen.

Fehlendes Vertrauen aufseiten Russlands

Es gibt noch einen letzten Grund, warum ein dauerhaftes Friedensabkommen nicht machbar ist. Die russische Führung traut weder der Ukraine noch dem Westen zu, in gutem Glauben zu verhandeln, was nicht bedeuten soll, dass die ukrainischen und westlichen Staats- und Regierungschefs ihren russischen Amtskollegen vertrauen. Der Mangel an Vertrauen ist auf allen Seiten offensichtlich, aber er ist auf Seiten Moskaus aufgrund einer Reihe von Enthüllungen in jüngster Zeit besonders akut.

Die Ursache des Problems liegt in den Verhandlungen über das Minsk-II-Abkommen von 2015, das einen Rahmen für die Beendigung des Konflikts im Donbass bildete. Der französische Präsident François Hollande und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel spielten die zentrale Rolle bei der Gestaltung dieses Rahmens, wobei sie sich sowohl mit Putin als auch mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko ausführlich berieten.

Diese vier Personen waren auch die Hauptakteure in den anschließenden Verhandlungen. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass Putin sich dafür einsetzte, dass Minsk funktioniert. Aber Hollande, Merkel und Poroschenko – wie auch Selenskyj – haben alle deutlich gemacht, dass sie nicht an der Umsetzung von Minsk interessiert waren, sondern es als Chance sahen, der Ukraine Zeit zu verschaffen, ihr Militär aufzubauen, damit es mit dem Aufstand im Donbass fertig werden kann.

Wie Merkel der Wochenzeitschrift Die Zeit sagte, sei es "ein Versuch gewesen, der Ukraine Zeit zu geben ... um stärker zu werden." In ähnlicher Weise sagte Poroschenko:

Unser Ziel war es, erstens die Bedrohung zu stoppen oder zumindest den Krieg zu verzögern – acht Jahre zu sichern, um das Wirtschaftswachstum wiederherzustellen und mächtige Streitkräfte zu schaffen.

Petro Poroschenko

Kurz nach Merkels Zeit-Interview im Dezember 2022 sagte Putin auf einer Pressekonferenz:

Ich dachte, die anderen Teilnehmer dieses Abkommens seien zumindest ehrlich, aber nein, es stellt sich heraus, dass sie uns auch belogen haben und die Ukraine nur mit Waffen vollpumpen und auf einen militärischen Konflikt vorbereiten wollten.

Wladimir Putin

Er fuhr fort, dass er durch die Täuschung des Westens eine Gelegenheit verpasst habe, das Ukraine-Problem unter für Russland günstigeren Umständen zu lösen:

Anscheinend haben wir uns zu spät orientiert, um ehrlich zu sein. Vielleicht hätten wir das alles [die Militäroperation] früher beginnen sollen, aber wir haben gehofft, dass wir es im Rahmen der Minsker Vereinbarungen lösen können.

Dann machte er deutlich, dass die Doppelzüngigkeit des Westens künftige Verhandlungen erschweren würde:

"Das Vertrauen ist bereits fast bei Null, aber wie können wir nach solchen Erklärungen überhaupt verhandeln? Über was? Können wir mit irgendjemandem irgendwelche Vereinbarungen treffen und wo sind die Garantien?"

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es kaum eine Chance gibt, den Ukraine-Krieg mit einer sinnvollen Friedenslösung zu beenden.

Stattdessen wird sich der Krieg wahrscheinlich noch mindestens ein weiteres Jahr hinziehen und sich schließlich in einen eingefrorenen Konflikt verwandeln, der sich jederzeit wieder zu einem heißen Krieg entwickeln könnte.

Szenarien, falls ein tragfähiges Friedensabkommen ausbleibt

Das Fehlen eines tragfähigen Friedensabkommens wird eine Vielzahl von schrecklichen Folgen haben.

So dürften die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen auf absehbare Zeit zutiefst feindselig und gefährlich bleiben. Jede Seite wird weiterhin die andere dämonisieren und alle Anstrengungen machen, ihrem Rivalen Schmerzen und Ärger zu bereiten.

Dazu wird es sicherlich kommen, wenn die Kämpfe weitergehen. Doch selbst wenn der Krieg zu einem eingefrorenen Konflikt wird, dürfte sich das Ausmaß der Feindseligkeit zwischen den beiden Seiten kaum ändern.

Moskau wird versuchen, bestehende Risse zwischen den europäischen Ländern auszunutzen und gleichzeitig daran zu arbeiten, die transatlantischen Beziehungen sowie wichtige europäische Institutionen wie die EU und die Nato zu schwächen.

Angesichts des Schadens, den der Krieg der europäischen Wirtschaft zugefügt hat und weiterhin zufügt, angesichts der wachsenden Ernüchterung in Europa und der Aussicht auf einen nicht enden wollenden Krieg in der Ukraine und angesichts der Differenzen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten über den Handel mit China könnte die russische Führung einen fruchtbaren Boden finden, um im Westen Unruhe zu stiften.

Diese Einmischung wird natürlich die Russophobie in Europa und den Vereinigten Staaten verstärken und die derzeitige schlechte Situation verschlimmern.

Der Westen wird seinerseits die Sanktionen gegen Moskau aufrechterhalten und den wirtschaftlichen Verkehr zwischen beiden Seiten auf ein Minimum beschränken, um der russischen Wirtschaft zu schaden. Zudem wird er sicherlich mit der Ukraine zusammenarbeiten, um Aufstände in den Gebieten zu fördern, die Russland der Ukraine abgenommen hat.

Gleichzeitig werden die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten weiterhin eine hartnäckige Eindämmungspolitik gegenüber Russland verfolgen, von der viele glauben, dass diese aufgrund des Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens und die Stationierung bedeutender Nato-Truppen in Osteuropa noch verstärkt wird.

Natürlich wird sich der Westen weiterhin dafür einsetzen, Georgien und die Ukraine in die Nato aufzunehmen, auch wenn dies in naher Zukunft unwahrscheinlich ist. Schließlich werden die US-amerikanischen und europäischen Eliten ihren Bemühungen um einen Regimewechsel in Moskau und die Anklage Putins für Russlands Vorgehen in der Ukraine sicher beibehalten.

Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen werden nicht nur vergiftet, sondern auch gefährlich bleiben, da die allgegenwärtige Möglichkeit einer nuklearen Eskalation oder eines Großmachtkriegs zwischen Russland und den Vereinigten Staaten bestehen bleiben wird.

Die Zerstörung der Ukraine

Die Ukraine befand sich schon vor Beginn des Krieges im vergangenen Jahr in schweren wirtschaftlichen und demografischen Schwierigkeiten. Die Verwüstungen, die der Ukraine seit der russischen Invasion zugefügt wurden, sind entsetzlich.

Die Weltbank untersucht die Ereignisse im ersten Kriegsjahr und erklärt, dass die Invasion "einen unvorstellbaren Tribut von den Menschen in der Ukraine und der Wirtschaft des Landes gefordert hat, wobei deren Aktivität im Jahr 2022 um erstaunliche 29,2 Prozent zurückgegangen ist".

Es überrascht nicht, dass Kiew massive Finanzspritzen ausländischer Hilfe braucht, um die Regierung am Laufen zu halten, ganz zu schweigen von der Kriegsführung. Ferner schätzt die Weltbank, dass die Schäden 135 Milliarden US-Dollar übersteigen und dass etwa 411 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau der Ukraine benötigt werden.

Die Armutsquote, so heißt es, "stieg von 5,5 Prozent im Jahr 2021 auf 24,1 Prozent im Jahr 2022, was 7,1 Millionen weitere Menschen in die Armut trieb und 15 Jahre des Fortschritts zunichte machte".

62 Städte wurden zerstört, etwa acht Millionen Ukrainer sind aus dem Land geflohen und etwa sieben Millionen sind Binnenvertriebene. Die Vereinten Nationen haben 8.490 zivile Todesopfer bestätigt, wobei sie glauben, dass die tatsächliche Zahl "erheblich höher" ist. Und sicherlich hat die Ukraine weit über 100.000 Opfer auf dem Schlachtfeld erlitten.

Die Zukunft der Ukraine sieht extrem düster aus. Es gibt keine Anzeichen für ein baldiges Ende des Krieges, was weitere Zerstörungen von Infrastruktur und Wohnraum, mehr Zerstörung von Städten, mehr zivile und militärische Todesfälle und mehr Schaden für die Wirtschaft bedeutet.

Und nicht nur, dass die Ukraine wahrscheinlich noch mehr Territorium an Russland verlieren wird, sondern laut der Europäischen Kommission "hat der Krieg die Ukraine auf einen Weg des unumkehrbaren demografischen Niedergangs gebracht".

Erschwerend kommt hinzu, dass die Russen alle Anstrengungen machen werden, um die Rumpfukraine wirtschaftlich schwach und politisch instabil zu halten. Der anhaltende Konflikt dürfte auch die seit langem akute Korruption anheizen und extremistische Gruppen in der Ukraine weiter stärken.

Es ist schwer vorstellbar, dass Kiew jemals die Kriterien erfüllt, die für einen EU- oder Nato-Beitritt erforderlich sind.

US-Politik gegenüber China

Der Ukraine-Krieg behindert die Bemühungen der USA, China einzudämmen, was für die amerikanische Sicherheit von größter Bedeutung ist, da China ein wirtschaftlich ebenbürtiger Konkurrent ist, Russland jedoch nicht.

In der Tat besagt die Logik des Kräftegleichgewichts, dass die Vereinigten Staaten mit Russland gegen China verbündet sein müssten und ihre volle Kraft nach Ostasien verlagern sollten.

Stattdessen hat der Krieg in der Ukraine Peking und Moskau eng zusammengedrängt und China gleichzeitig einen starken Anreiz gegeben, dafür zu sorgen, dass Russland in der Ukraine nicht besiegt wird und die Vereinigten Staaten in Europa gebunden bleiben, was ihre Bemühungen, sich auf Ostasien zu konzentrieren, behindern würde.

Fazit: Die Rolle des Westens

Es sollte inzwischen klar sein, dass der Ukraine-Krieg eine enorme Katastrophe ist, die wahrscheinlich nicht schnell enden wird, und wenn dies trotzdem der Fall sein sollte, wird das Ergebnis kein dauerhafter Frieden sein.

Nun ein paar Worte darüber, wie der Westen in diese schreckliche Situation geraten ist.

Die gängige Meinung über die Ursprünge des Krieges ist, dass Putin am 24. Februar 2022 einen unprovozierten Angriff startete, der durch seinen großen Plan motiviert war, ein größeres Russland zu schaffen. Die Ukraine, so heißt es, war das erste Land, das er erobern und annektieren will, aber würde nicht das letzte sein.

Wie ich bereits mehrfach gesagt habe, gibt es keine Beweise, die diese Argumentation stützen, und es gibt sogar starke Hinweise, die dieser Sichtweise direkt widersprechen.

Es steht außer Frage, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist, aber die letztendliche Ursache des Krieges war die Entscheidung des Westens – und hier sprechen wir hauptsächlich von den Vereinigten Staaten –, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an der Grenze zu Russland zu machen.

Das Schlüsselelement dieser Strategie war der Plan, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, ein Schritt, den nicht nur Putin, sondern das gesamte russische außenpolitische Establishment als existentielle Bedrohung ansah, die beseitigt werden musste.

Es wird oft vergessen, dass zahlreiche amerikanische und europäische Politiker und Strategen von Anfang an gegen die Nato-Erweiterung waren, weil sie verstanden, dass die Russen sie als Bedrohung ansehen würden und dass diese Politik schließlich zu einer Katastrophe führen würde.

Auf der Liste der Gegner der Nato-Erweiterung stehen Namen wie George Kennan, ebenso Präsident Clintons Verteidigungsminister William Perry wie auch sein Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff, General John Shalikashvili, weiterhin Paul Nitze, Robert Gates, Robert McNamara, Richard Pipes und Jack Matlock, um nur einige zu nennen.

Auf dem Nato-Gipfel in Bukarest Im April 2008 stellten sich sowohl der französische Präsident Nicolas Sarkozy als auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen den Plan von Präsident George W. Bush, die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen. Merkel sagte später, ihre Ablehnung beruhe auf ihrer Überzeugung, dass Putin dies als "Kriegserklärung" interpretieren würde.

Natürlich hatten die Gegner der Nato-Erweiterung Recht, aber sie verloren den Kampf und die Nato dehnte sich schrittweise nach Osten aus, was die Russen schließlich dazu veranlasste, einen Präventivkrieg zu beginnen.

Hätten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten nicht im April 2008 damit begonnen, die Ukraine in die Nato aufzunehmen oder wären sie bereit gewesen, Moskaus Sicherheitsbedenken nach dem Ausbruch der Ukraine-Krise im Februar 2014 Rechnung zu tragen, gäbe es heute wahrscheinlich keinen Krieg in der Ukraine und die Grenzen der Ukraine sähen so aus wie bei der Unabhängigkeit 1991.

Der Westen hat einen kolossalen Fehler gemacht, für den er und viele andere noch lange einen hohen Preis werden zahlen müssen.

Ende der Übersetzung des Artikels von John Mearsheimer vom 23.06.2023

Eine aktuelle Ergänzung

Hingewiesen sei noch auf ein Video-Interview mit John Mearsheimer, das ins Deutsche übersetzt worden ist und vor einigen Wochen auf Actvism Munich veröffentlicht wurde. Interviewer ist der Journalist Glenn Greenwald.4

Dieses Gespräch über den Ukraine-Krieg ist eine vertiefende kritische Analyse der Positionen von John Mearsheimer, die er in seinem Artikel vom 23.06.2023 dargestellt hat.

Kommentar

Das Wort "darkness" (deutsch: Dunkelheit) in der Überschrift seines Artikels vom 23.06.2023 benutzt John J. Mearsheimer in einem doppelten Wortsinn: Einmal, dass man die Zukunft nie sicher vorhersagen kann, und zum anderen im Sinne einer düsteren Prognose.

Der Autor kommt zu der Einschätzung, dass der Ukraine-Krieg eine schreckliche Katastrophe ist und die Ukraine einer dunklen Zukunft entgegengeht, wenn der Krieg weitergeführt wird.

Trotz dieser Aussichten sagt er und begründet das auch ausführlich, sei ein praktikables Friedensabkommen fast unmöglich zu erreichen, sondern bestenfalls komme es zu einem eingefrorenen Konflikt, d. h. einem Waffenstillstand, der jederzeit wieder in einen heißen Krieg umschlagen könne.

Aber auch ein Waffenstillstand, in dem nicht mehr geschossen wird, wäre aus meiner Sicht schon ein Fortschritt im Vergleich zu der jetzigen Situation und darf nicht kleingeredet werden.

Weiterhin begründet er, warum letztendlich Russland wahrscheinlich den Krieg gewinnen wird.

Den Argumenten von Mearsheimer, wonach ein vernünftiges Friedensabkommen zwischen den Kontrahenten (Russland, Ukraine und die USA bzw. der Westen) in absehbarer Zeit von ihm für unwahrscheinlich gehalten wird, liegt folgende Einschätzung zugrunde:

Alle Kriegsparteien sehen sich in diesem Krieg einer existentiellen Bedrohung ausgesetzt und werden deshalb versuchen, den Krieg unbedingt zu gewinnen. Dass das für Russland und auch die Ukraine zutrifft, ist für mich aufgrund der Ausführungen von Mearsheimer gut nachzuvollziehen.

Für die USA, die auf westlicher Seite die entscheidenden Weichen im Ukraine-Krieg stellen und aus sicherer Entfernung eines dazwischen liegenden Ozeans diesen Krieg hauptsächlich befeuern, trifft die Einschätzung von Mearsheimer aus meiner Sicht aber nicht in gleicher Weise zu, solange die USA eine direkte Beteiligung an diesem Krieg, der ja auch als Stellvertreter-Krieg eingeschätzt wird, vermeiden können, was wohl die offizielle Linie der US-Politik zu sein scheint.

Der Grund dafür ist banal: Unabhängig vom Ausgang des Krieges in der Ukraine werden die USA auch nach dessen Beendigung aufgrund ihrer wirtschaftlichen und militärischen Stärke noch lange Zeit eine der führenden Großmächte bleiben.

Dagegen geht es für Russland in diesem Krieg um seine wirtschaftliche und staatliche Existenz, so dass die Russische Föderation sich eine Niederlage nicht leisten kann. Das bedeutet andererseits, dass seine zentralen Sicherheitsinteressen in einem Friedensabkommen, wenn es zustande kommen soll, berücksichtigt werden müssen, d. h. die USA und der Westen müssten sich etwa vertraglich verpflichten, die Ukraine nicht in die Nato aufzunehmen, was sie aber bisher immer strikt abgelehnt haben.

Voraussetzung für ein derartiges Friedensabkommen mit Russland wäre jedoch, dass die USA ihre weltweiten Hegemonialbestrebungen aufgeben und ihren Unilateralismus, der seit 1945 die US-Außenpolitik beherrscht, überwinden.5 Unter Unilateralismus versteht man "Einseitigkeit" im Handeln eines Staates im eigenen Interesse ohne Rücksicht auf die Interessen anderer.

Deshalb habe ich mit Hoffnung zur Kenntnis genommen, dass in einer kürzlich erfolgten ganzseitigen Anzeige von US-Sicherheitsexperten in der New York Times der Unilateralismus, der die US-Außenpolitik prägt, im Zusammenhang mit der Nato-Erweiterung kritisch in Frage gestellt wird. Dort heißt es, "die USA sollten eine Kraft des Friedens sein".6

Dieser Unilateralismus auf Seiten der Politik der USA müsste zugunsten der Anerkennung eines Multilateralismus bzw. einer Multipolarität in den internationalen Beziehungen überwunden werden, wenn die Welt eine Zukunft haben soll.

In einer multipolaren Welt, wie sie in den letzten zwei Jahrzehnten de facto entstanden ist, könnten die Großmächte, die zugleich Atommächte sind, auf der Basis der Charta der Vereinten Nationen, der Prinzipien der Friedlichen Koexistenz und der Anerkennung einer Gemeinsamen Sicherheit zusammenleben und zusammenarbeiten und die großen Probleme der Menschheit gemeinsam lösen.

Das wichtigste gemeinsame Problem ist die Gefahr eines Atomkriegs, die heute so groß ist wie zu keiner Zeit seit der Kuba-Krise 1962.7 Dazu zählen aber auch die Bedrohungen durch den Klimawandel und den Hunger in der Welt.

Ein wesentlicher Schritt in Richtung der Anerkennung einer derartigen neuen multipolaren Weltordnung wäre die Beendigung des laufenden Ukraine-Krieges durch das Zustandekommen eines sinnvollen Friedenvertrages, der diesen Überlegungen Rechnung trägt.

Und ich hoffe darauf, dass das passiert, bevor der Krieg in der Ukraine sich ausweitet und zu einem 3. Weltkrieg und eventuell zu einem Atomkrieg eskaliert.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane.

Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de