John le Carré und das Vermächtnis der Spione

Tinker Tailor Soldier Spy

Eine literarische (und filmische) Reise weg von der Demenz. In zwei Etappen.

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My story really begins in 1938.

George Smiley in Call for the Dead

David Cornwell, besser bekannt unter dem Pseudonym John le Carré, hat einen Roman geschrieben, in dem seine berühmteste Figur einen letzten Auftritt hat, der Meisterspion und zeitweilige Geheimdienstchef George Smiley. Das Buch heißt A Legacy of Spies und führt uns zurück in die Nachkriegszeit, um uns daran zu erinnern, was wir seitdem vergessen haben. Der Roman ist eine Absage an den neuen Nationalismus, an das Errichten von Mauern und an den Wunsch, auf die in einer verbrecherischen Vergangenheit erbrachten Leistungen stolz sein zu dürfen.

George Smiley, der Gegenentwurf zu James Bond, ist legendär. Le-Carré-Leser lieben ihn. Für den Autor ist das ein Segen und zugleich ein Fluch. Insbesondere in der Verkörperung durch den genialen Alec Guinness in zwei Mehrteilern der BBC hat sich der kleine rundliche Mann mit den schlecht sitzenden, wie die Haut einer Kröte wirkenden Anzügen, der ihn permanent betrügenden Gattin und dem Faible für deutsche Barockliteratur von seinem Schöpfer emanzipiert und ein Eigenleben gewonnen. Le Carré hielt es seinerseits für nötig, sich von seiner Romanfigur und den mit ihr verknüpften Erwartungen zu befreien.

Nachdem 1979 die "Karla-Trilogie" mit Smiley’s People abgeschlossen war (Karla ist Smileys Gegenspieler beim KGB) hielt der pensionierte Geheimagent 1990 noch eine Rede in The Secret Pilgrim, um sodann, nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges, aus der Romanwelt des Autors zu verschwinden. Jetzt ist er also wieder da, und mit ihm ist ein alter Plan zurück, zu dem le Carré einst die Lektüre von Honoré de Balzac inspirierte: eine Reihe von Romanen mit Charakteren zu schreiben, die in einem Buch als Nebenfigur agieren und in einem späteren ins Zentrum der Handlung rücken wie in Balzacs Romanzyklus La Comédie humaine (Die menschliche Komödie).

Zwischen Atlantikwall und Stonehenge

In A Legacy of Spies taucht George Smiley erst ganz am Schluss auf, obwohl er - wie es sich für eine Legende gehört - in den Gedanken und Gesprächen der handelnden Personen ständig präsent ist. Hauptfigur ist Peter Guillam, der als junger Mann von Smiley rekrutiert wurde und ihn in Tinker Tailor Soldier Spy (1974) dabei unterstützt hat, den für den KGB arbeitenden Maulwurf in der Führung des "Circus" zu enttarnen, einer fiktionalen Mischung aus den Geheimdiensten MI6 (Ausland) und MI5 (Inland). Mittlerweile muss er über 80 sein.

Tinker Tailor Soldier Spy

Guillam hat sich im Heimatdorf seiner Mutter zur Ruhe gesetzt, auf einem von ihr geerbten Bauernhof in der Bretagne. Auf dem Weg dorthin kommt man am Schrottplatz eines übel beleumundeten Herrn namens Honoré vorbei, bei dem man Krimskrams, alte Autoreifen und Pferdemist zum Düngen kaufen kann. Das ist le Carrés selbstironischer Kommentar zum von Balzac übernommenen, mit der Abwendung von George Smiley eingestellten und nun wiederbelebten Verfahren. Auch dieses Buch ist - wie alle Romane le Carrés - mit subtilen Hinweisen durchwirkt, was von einem Respekt gegenüber dem Leser zeugt, der den meisten Bestsellerautoren völlig fremd ist.

Der internationale Durchbruch gelang le Carré 1963 mit The Spy Who Came in from the Cold. William Boyd, selbst Verfasser eines geschickt konstruierten Spionageromans (Restless, 2006), hat für eine Neuauflage ein Vorwort geschrieben, in dem es heißt, das Buch sei ebenso spannend wie kompliziert. Für Boyd ist das ein unzweideutiges Kompliment: "Es gibt ganz viel herausfordernden Subtext, eine Menge ist implizit, eine Menge erscheint zunächst verwirrend."

Mit anderen Worten, das Buch ist anspruchsvoll und raffiniert, und ein Reiz des Anspruchsvollen in der Kunst besteht darin, dass die so zum Ausdruck kommenden Vorlieben, Werte und Understatements geteilt werden. Le Carrés Roman sagt gleichsam: Ich weiß, dass das übermäßig komplex und vernebelnd erscheint, aber du, der Leser, bist eine intelligente Person. Du wirst dem folgen - du wirst verstehen, was passiert; ich muss es nicht für dich ausbuchstabieren oder die Pünktchen für dich verbinden. Das ästhetische Vergnügen des Lesens wird dadurch massiv gesteigert."

Auch vom Vermächtnis der Spione sollte man nicht erwarten, dass einem ausbuchstabiert wird, was man zu denken hat. Das muss man selber machen, wenn man das ästhetische (und intellektuelle) Vergnügen haben will, das damit verbunden ist. Ein gutes Beispiel findet sich in Kapitel 2, wo Guillam beschreibt, wie man von der Stadt Lorient in sein Dorf kommt. Zuerst, sagt er, fährt man etwa eine halbe Stunde die südliche Küstenstraße hinunter. Dabei passiert man Überreste von Hitlers Atlantikwall, die sich nicht entfernen lassen und, so Guillam, dabei seien, den Status "eines neuzeitlichen Stonehenge" zu erlangen.

Le Carré hat seine Gründe, wenn er Peter Guillam in dieser Gegend wohnen lässt. Wer malerische bretonische Hafenstädte mit Jugendstilarchitektur mag macht um Lorient besser einen großen Bogen. Im Zweiten Weltkrieg wurden hier Unterstände für die deutschen U-Boote angelegt. Mit Luftangriffen waren die Betonbunker nicht zu zerstören. Darum bombardierten die Alliierten die Versorgungswege. Von Lorient blieb nicht viel übrig. Nach dem Krieg wurde die Stadt fast komplett neu aufgebaut - ohne Zugeständnisse an Nostalgie und alte Bausubstanz und als ville nouvelle, wie man in Frankreich dazu sagt.

Etwa 30 Kilometer von Lorient entfernt kommt man an Honorés Schrottplatz vorbei, und dann ist man im Dorf Les Deux Eglises, zu dem auch Guillams Bauernhof gehört. Die Post bringt Monsieur Denis, den man "le Général" nennt, weil er hoch aufgeschossen ist und vage an Charles de Gaulle erinnert. Zumindest geschichtsbewusste Franzosen beginnen da zu ahnen, warum Guillam in einem Dorf mit diesem Namen wohnt. In Colombey-les-Deux-Églises hatte der General seinen Alterswohnsitz. Heute gibt es dort eine Gedenkstätte, das Charles de Gaulle Mémorial.

Denkmal für General de Gaulle in Colombey-les-Deux-Églises. Bild: Stefan Kühn / CC-BY-SA-3.0

Colombey liegt im Nordwesten Frankreichs und nicht in der Bretagne, aber der rosa Granit, aus dem das 44 Meter hohe Lothringer Kreuz der Gedenkstätte gefertigt wurde, stammt von da. Das Lothringer Kreuz war das Symbol der von de Gaulle geführten Exilregierung (mit Sitz in London). Die wahrscheinlichste von mehreren Erklärungen für die 44 Meter ist die, dass 1944 das Jahr der Invasion der Alliierten in der Normandie war (es ist auch das Jahr, in dem Guillams Vater starb). Symbolik ist sehr wichtig. Europa krankt daran, dass die Brüsseler Bürokratie wenig Sensibilität für so etwas hat.

Warum erzähle ich das alles? Weil es Aufschluss über die Textur des Romans gibt und weil es zeigt, wie kunstvoll das Buch organisiert ist. Churchill und de Gaulle, prägende Gestalten der Anti-Hitler-Koalition, sind zwei von den "Pünktchen" (Boyd), durch deren Verbindung man zu einem Gesamtbild aus Themen und Motiven gelangt, die den Roman charakterisieren. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs kann man so wenig ohne diese beiden Staatsmänner rekapitulieren wie die Geschichte der Europäischen Union.

Churchill hielt am 19. September 1946 in Zürich eine berühmte Rede, in der er zur Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich aufrief sowie zur Gründung einer Union, der Vereinigten Staaten von Europa, mit der Schaffung eines Europarats als erstem Schritt. Aus Churchills Sicht war das ein Friedensprojekt für den europäischen Kontinent, welches das Vereinigte Königreich wohlwollend begleiten sollte, ohne selbst mitzumachen. In den 1960ern, als ihre Wirtschaft daniederlag, wären die Briten der ökonomisch prosperierenden Union gern beigetreten, mussten aber feststellen, dass es nun der französische Staatspräsident de Gaulle war, der solche Pläne blockierte.

A Legacy of Spies beginnt mit Reminiszenzen an den Zweiten Weltkrieg und endet mit einem Bekenntnis zu Europa. Das sind die beiden Pole, zwischen denen die Handlung angesiedelt ist und die erklären, warum le Carré dieses Buch geschrieben hat. Einige Kritiker haben eine melancholische Stimmung ausgemacht. Bei einem inzwischen 86-jährigen Autor, der einen Roman über Tote und alte Männer schreibt, wäre das kein Wunder. Le Carrés Wut aber, die Wut über den Zynismus hartleibiger Bürokraten, über den Verrat an der Menschlichkeit und über die Geschichtsvergessenheit, ist jung geblieben. Die Nostalgie hat da einen schweren Stand.

Liebevolles Gift

Das Vermächtnis der Spione, das sich mit erfrischender Nonchalance über die von der Erzählpolizei erlassenen Regeln der chronologischen Berichterstattung hinwegsetzt, ist zugleich das Prequel und die Coda zu Der Spion, der aus der Kälte kam - und eine Reaktion auf Martin Ritts Verfilmung von 1965 (mit Rupert Davies, dem Hauptdarsteller der BBC-Serie Kommissar Maigret, als erstem Smiley in Kino und TV). Richard Burton spielt da Alec Leamas, der am Anfang mitansehen muss, wie Karl Riemeck - kurz nach dem Bau der Mauer - an einem Grenzübergang zwischen West- und Ost-Berlin erschossen wird. Den Auftrag dazu hat der Stasi-Offizier Hans-Dieter Mundt gegeben.

Der Spion, der aus der Kälte kam

Riemeck ist der letzte Agent eines von Leamas aufgebauten Spionagenetzwerks in der DDR. Alle anderen wurden bereits liquidiert. Wie brutal und skrupellos Mundt ist weiß man schon aus le Carrés Debütroman. In Call for the Dead (1961) ist er in London aktiv. Er tötet zwei Menschen und versucht, auch Smiley umzubringen, ehe er - überraschend problemlos - aus England fliehen kann, zurück in die DDR. Hier ist jetzt ein geeigneter Moment für eine Spoiler-Warnung. Ich werde Details und Plotelemente nennen, was manchen Usern den Spaß an der eigenen Lektüre der Romane verderben könnte.

The Spy Who Came in from the Cold

Ich persönlich finde es nicht schlimm, die Identität des Mörders zu verraten, weil le Carré keine Whodunits à la Agatha Christie schreibt. Meiner eigenen Erfahrung nach steigert ein Vorwissen sogar den Reiz der Lektüre, weil man dann das Verwirrspiel und die kunstvoll angelegten Handlungsstränge besser genießen und leichter erkennen kann, wie geschickt gewisse Wendungen vorbereitet werden. Das macht ein bewussteres, die Komplexität der Zusammenhänge im Blick behaltendes Lesen möglich, was nicht schaden kann, weil le Carré kein Autor von simplen Schwarz-Weiß-Geschichten ist.

The Spy Who Came in from the Cold

Leamas also hat seine Agenten verloren und wird zurück nach London beordert, wo er einen Termin bei Control hat, dem Chef des Circus. Beim MI6 hieß er Chief, schrieb mit grüner Tinte und hatte einen alten grünen Tresor im Büro, in dem - wie sich le Carrés The Pigeon Tunnel entnehmen lässt - jahrzehntelang die graue Hose verwahrt wurde, die Hitlers Stellvertreter Rudolph Hess trug, als er nach Schottland flog, um Friedensverhandlungen aufzunehmen. Der Geheimdienstchef, dem Leamas gegenübersitzt, hat aber gar nichts Komisches.

Control ist ein Zyniker und als Stratege so skrupellos wie Mundt beim Töten von Leuten, die ihm im Wege stehen. Cyril Cusacks Darstellung dieses Mannes in Ritts Film ist ein Bravourstück und macht deutlich, wie abgründig die geheime Welt des John le Carré ist. Le Carré selbst war nicht wirklich glücklich über die Besetzung der Leamas-Rolle mit Richard Burton (als Zugeständnis an die Geldgeber war ursprünglich sogar Burt Lancaster im Gespräch), doch von Cusack war er hellauf begeistert. Man könne da die Maschine sehen, die einen Schauspieler zu großen Leistungen antreibt, sagt er in einem Interview (enthalten im Bonusmaterial der Criterion-DVD).

The Spy Who Came in from the Cold

Die britischen Nachrichtendienste, der MI5 und der MI6, stehen in der Tradition der Special Irish Branch, einer mit Angelegenheiten der nationalen Sicherheit befassten Polizeieinheit, die 1883 als Reaktion auf Terroranschläge der Irish Republican Brotherhood gegründet wurde und dabei wenig zimperlich zu Werke ging (das "Irish" ließ man weg, als sich der Aufgabenbereich erweiterte). Die unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten wenig ruhmreiche Geschichte setzte sich fort, als nach dem Ersten Weltkrieg die Black and Tans, eine paramilitärische Kampftruppe, mit geheimdienstlicher Unterstützung Aktionen gegen die Sinn Féin und die IRA durchführten, die nichts anderes waren als Staatsterrorismus.

Cusack, geboren als Sohn eines irischen Polizisten im von den Briten kolonisierten Südafrika, war ein irischer Patriot und verachtete die Engländer. Die Chance, den Chef eines Geheimdiensts zu spielen, der einen schmutzigen Krieg gegen die IRA und ihre Sympathisanten geführt hatte (und noch führte), ohne Rücksicht auf moralische Bedenken, nahm er dankend an. Den Control spielt er - zur Steigerung der Wirkung fein dosiert - mit einer Bosheit und Gehässigkeit, die absolut sehenswert ist. Le Carré nennt es "loving venom", liebevolles Gift.

Schwieriger Frontverlauf

Das Abgründige kommt durch Leamas ins Spiel, weil er irische und deutsche Vorfahren hat. Trotz (oder vielleicht gerade wegen) seiner Herkunft arbeitet er für eine Organisation, die den Unterdrückungsapparat unterstützt, unter dem seine irischen Verwandten zu leiden haben. Das hilft dabei, sich die mal latente und mal sehr direkte Aggressivität des Alec Leamas zu erklären. Nichts davon wird explizit angesprochen, trotzdem ist es immer da. Le Carré hat ein feines Gespür für die innere Zerrissenheit von Angehörigen diskriminierter Gruppen und für die komplizierten Lagen, in die sie mitunter geraten - sei es durch einen Hang zur Selbstdestruktivität, sei es als Opfer von Umständen, für die sie gar nichts können.

In Legacy erfährt man, fast beiläufig und doch in einem für Guillam sehr wichtigen Moment, dass der Vater von Honoré, dem Schrotthändler von Les Deux Eglises (30 km von Lorient entfernt), im Krieg mit den Nazis kollaboriert hat. Die Deutschen hatten den Bretonen nach dem Endsieg die Unabhängigkeit versprochen. Als der Endsieg ausblieb wurde Honorés Vater auf dem Dorfplatz vor einer johlenden Menge aufgehängt, von Kämpfern der Résistance. Ob le Carré wohl weiß, dass Lorient der Geburtsort der Sängerin Viktor Lazlo ist, die durch die Wahl ihres Künstlernamens dem von Paul Henreid gespielten Widerstandskämpfer Victor László in Casablanca die Referenz erwies? Bestimmt.

Casablanca

Jedenfalls hat er Guillam einen Vater gegeben, der bei der Special Operations Executive war. Die SOE war eine 1940 gegründete Spezialeinheit, die in den von den Deutschen besetzten Gebieten Kommandooperationen durchführte, übrigens nach dem Vorbild der IRA, um "Europa in Brand zu stecken" (Churchill). Guillams Vater beging mit der bretonischen Résistance Sabotageakte, bis er erwischt und von der Gestapo zu Tode gefoltert wurde. Auch Leamas, dem Guillam in Legacy noch immer nachtrauert, tötete im Krieg für die SOE. Das weiß man aus The Spy Who Came in from the Cold.

Wir haben nun also: Einen von der Résistance aufgeknüpften Bretonen, der mit den Nazis kollaborierte (wie viele Kämpfer der IRA); einen Engländer, der Deutsche tötet und in einem ihrer Folterkeller stirbt; einen SOE-Attentäter, der Deutsche und Kollaborateure tötet und ein halber Ire ist (Legacy, Kapitel 8: Leamas’ Mutter war eine Deutsche aus Chemnitz und sein im Süden Irlands geborener Vater erlebte noch die britische Kolonialherrschaft mit). Was uns le Carré damit sagen will? Ganz einfach.

Selbst im Zweiten Weltkrieg, als sich noch relativ leicht zwischen Gut und Böse unterscheiden ließ, war der Frontverlauf nicht ganz so übersichtlich, wie man meinen könnte. In keinster Weise soll das die Verbrechen der Nazis relativieren (im Sinne von: Die anderen haben auch schlimme Sachen angestellt, und wir ziehen jetzt einen Schlussstrich.). Es illustriert vielmehr eine europäische Tragödie, die darin besteht, dass Europäer im Namen einer Ideologie, eines Volkes oder einer Kultur, die von den anderen nicht akzeptiert wird, aufeinander losgehen und sich gegenseitig umbringen.

Der Zweck und die Mittel

Guillam ist le Carrés Version von James Bond. Früher war er Frauenheld, Sportwagenfahrer und Chef der für gefährliche Operationen (mit Gewaltanwendung) zuständigen "Skalpjäger". Durch die Information über seinen Vater erhält er viel mehr Tiefe. Aus dem Playboy-Agenten wird ein Mann, der versucht hat, in die Fußstapfen des Seniors zu treten, eines Kriegshelden und Märtyrers, und auch die Beziehung zu Leamas kriegt eine neue Facette, weil Guillam durch die SOE-Verbindung zugleich um Alec trauert, seinen besten Freund beim Circus, und um seinen Vater.

Im Vermächtnis der Spione demonstriert le Carré, wie man vor Jahrzehnten gesponnene Handlungsfäden wieder aufnimmt, neue Aspekte alter Themen sichtbar macht und wie man in die Gegenwart verlängert, was nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des aus ihm resultierenden Kalten Krieges als abgeschlossen galt. Das horizontale Erzählen der aktuellen Serienproduktion, also das Entwickeln von Plots und Figuren über einen längeren Zeitraum hinweg, beherrscht er schon lange - nur dass sich bei le Carré der Handlungsbogen nicht von der Pilotfolge zum Finale der letzten Staffel erstreckt, sondern über sein Gesamtwerk.

Man kann Legacy für sich allein lesen oder in Kombination mit anderen Romanen. Dabei müssen es nicht alle 23 Bücher sein, die le Carré sonst noch geschrieben hat. Ich empfehle vier davon, aus der Zeit des Kalten Krieges: Call for the Dead, The Spy Who Came in from the Cold, A Small Town in Germany und Tinker Tailor Soldier Spy. Wem das zu alt und zu gestrig ist und zu wenig sexy: In Small Town geht es um das Erstarken einer rechtspopulistischen Partei (mit einer dubiosen Rolle für die FDP), und durch Call for the Dead kommen nackte Brüste von filmhistorischer Bedeutung mit ins Spiel.

Strukturierende Elemente sind der Bau der Berliner Mauer 1961 und ihr Fall im Herbst 1989. Kehren wir also zurück zum Tod von Riemeck, zu Leamas und zu seinem Termin bei Control. Der Geheimdienst, doziert der Chef, müsse unangenehme Dinge tun, damit die normalen Bürger nachts ruhig schlafen können. Methodisch habe man sich dem Gegner seit dem Krieg immer mehr angenähert. Man müsse nun mal genauso skrupellos sein wie die "Opposition". Das moralisch zu verurteilen sei unfair, weil man nicht die Methoden der einen Seite mit den Zielen der anderen Seite vergleichen könne.

Und darum habe er beschlossen, so Control, Hans-Dieter Mundt, den Leiter der Stasi-Abteilung, die Leamas’ Spionagenetzwerk ausradiert hat, zu beseitigen. Damit sind wir bei einer Frage angelangt, die le Carrés Romane stets aufs Neue stellen: Was ist vom Kampf für die westlichen Werte zu halten, wenn die Verteidiger der liberalen Gesellschaft den Feinden der Demokratie immer ähnlicher werden? Smiley plagt sich andauernd mit dieser Frage ab, und er kämpft ständig mit dem Dilemma, dass keine einfachen Antworten auf diese Frage existieren und man trotzdem welche geben muss.

The Spy Who Came in from the Cold

Das macht ihn zu einer so faszinierenden Figur. In The Spy Who Came in from the Cold braucht le Carré noch eine Romanseite für den Monolog des Zynikers Control. Inzwischen hat er das Problem so oft umkreist, dass er in Legacy of Spies mit einem Satz auskommt. "Wir finden", sagt Smiley bei der Rekrutierung Guillams über die Geheimdienstarbeit, "dass es ein wichtiger Job ist, solange es einem um den Zweck geht und nicht so sehr um die Mittel." Es muss Smiley sein, der diesen Satz sagt, weil er es auch ist, der ihn permanent hinterfragt. Das ist die le Carré’sche Ambivalenz.

The Spy Who Came in from the Cold

Control hat Smileys Zweifel nicht, dafür aber einen Plan. Leamas soll so tun, als würde er überlaufen und die Stasi mit gefälschten Informationen füttern, die es so aussehen lassen, als würde Mundt für die Briten arbeiten. Als vermeintlicher Doppelagent wird Mundt (im Film: Peter van Eyck) von den eigenen Leuten liquidiert. Das scheint zu funktionieren. Leamas wird angeworben und in die DDR gebracht, wo er in einem Stasi-Lager den brillanten Fiedler (Oskar Werner) trifft, den zweiten Mann hinter Mundt in der Abteilung. Fiedler hat Mundt schon länger in Verdacht und erhofft sich von Leamas’ Aussage den entscheidenden Beweis.

Zeugen der Anklage

Während Leamas und Fiedler lange Spaziergänge machen stellt sich Smiley in London bei der jungen Kommunistin Liz Gold als Freund von Alec Leamas vor. Die idealistische Liz und den abgebrühten, von der Geheimdienstarbeit erschöpften Alec verbindet eine ungewöhnliche Liebesbeziehung. Smiley raunt nun etwas von wichtigen Aufgaben und bietet ihr finanzielle Unterstützung an. Auch das ist Teil der Inszenierung. Liz wird unter einem Vorwand in die DDR gelockt und von Mundts Verteidiger als Überraschungszeugin präsentiert. Als sie vor einem Geheimtribunal von Smiley und der finanziellen Unterstützung erzählt bricht die Anklage in sich zusammen.

The Spy Who Came in from the Cold

Fiedler steht als ein Mann da, der entweder selbst für die Briten arbeitet oder sich von ihnen zum Werkzeug einer perfiden Verschwörung machen ließ. Mundt wird rehabilitiert und es ist Fiedler, den man liquidiert. Leamas durchschaut jetzt das von Control inszenierte Verwirrspiel, in dem er und Liz nur Schachfiguren waren. Mundt wurde tatsächlich vom Circus umgedreht. Es war Fiedler, der beseitigt werden musste, weil er kurz davor war, Mundt zu überführen.

Ausgehend von der Überlegung, dass man eine Anklage am besten dadurch entkräftet, dass man die Beweise als Fake diskreditiert, wurde Leamas zum Belastungszeugen aufgebaut und die naive, gänzlich unschuldige Liz als die Zeugin, die ihn wider Willen als Lügner entlarvt (mag sein, dass Control vorher Billy Wilders Witness for the Prosecution gesehen und sich Anregungen bei Marlene Dietrich geholt hatte, die zeigt, wie man so etwas durchzieht).

Mundt sorgt dafür, dass Leamas und Liz Gold fliehen können und lässt sie zur Grenze bringen, wo Smiley auf der anderen Seite auf sie wartet (als Controls von Gewissensbissen geplagter Helfer, der den Plan ablehnt und doch mitmacht). Beim Versuch, die Mauer zu überwinden, werden die Flüchtenden erschossen. Mundt ist sich selbst treu geblieben. Am Anfang lässt er den enttarnten Riemeck erschießen, bevor Fiedler ihn befragen kann. Am Schluss nützt er die Gelegenheit, zwei lästige Zeugen zu beseitigen. Mit soviel Skrupellosigkeit hat offenbar nicht einmal Control gerechnet (oder etwa doch?).

The Spy Who Came in from the Cold

Oskar Werner, ein paar Jahre davor durch Truffauts Jules et Jim international bekannt geworden, schafft es, Fiedler zur sympathischen Figur zu machen, obwohl auch er bei der Stasi ist. Dabei helfen ihm die Regie (Martin Ritt mag Controls Plan so wenig wie le Carré), das Moralempfinden des Publikums jenseits aller ideologischen Festlegungen und die Filmgeschichte. Wer würde nicht gern mit Jules aus Truffauts Meisterwerk Bergwanderungen machen und philosophische Gespräche führen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, in der tristen DDR Catherine (Jeanne Moreau) zu begegnen, eher gering sein dürfte.

The Spy Who Came in from the Cold

Mundt hat da keine Chance. Peter van Eyck spielt ihn so, wie er die meisten seiner Rollen spielte: "mit der schleppenden Stimme eines Betrunkenen und den arroganten Manieren des ostelbischen Junkers Götz von Eick - so sein richtiger Name", wie der Spiegel 1969 in einem Nachruf schrieb. Van Eyck war oft viel besser als sein Ruf, doch durch seine Besetzung wird sehr deutlich, wie nah schon die Romanfigur am Klischee vom großen blonden Nazi-Deutschen ist. Das scheint auch le Carré bemerkt zu haben, denn nach Spy hatte er für Mundt keine Verwendung mehr (erst in Legacy erfährt man, was aus ihm geworden ist).

Klassenbewusstsein

Ortswechsel. Zurück nach London. Le Carré zufolge kann man sich das alte Hauptquartier des MI6 (54 Broadway, gegenüber der U-Bahn-Station St. James’s Park) etwa so vorstellen wie in der BBC-Adaption von Tinker Tailor: knirschende Aufzüge, staubige enge Korridore, kleine schmuddelige Büros, alles in ein dafür nicht vorgesehenes Gebäude gepresst und daher unpraktisch und unbequem. Der Chef residierte in der obersten Etage, doch das Büro mit seinen verdreckten Fenstern habe einem den beunruhigenden Eindruck vermittelt, man befände sich im Keller, schreibt le Carré in The Pigeon Tunnel.

Vom Circus in Ritts Spy-Verfilmung ist es noch ein weiter Weg bis zur pompösen Grandiosität der Geheimdienstzentrale in der Kinoversion von Tinker Tailor, doch der Regisseur und sein Produktionsdesigner haben dem Schreibtischtäter Control immerhin ein Büro genehmigt, das eine bürgerliche Gediegenheit ausstrahlt, statt den Charme eines Kellerlochs. Der Grund dafür ist ein dramaturgischer. Leamas, der in Ausübung seines Dienstes an zugigen Ecken steht, statt sich - wie Control - darüber zu beklagen, dass die neue Sekretärin die Teekanne nicht anwärmt, wirkt hier proletarisch, ungepflegt und fehl am Platze.

The Spy Who Came in from the Cold

Das Geheimdienstwesen im Vereinigten Königreich war von der Klassengesellschaft geprägt (was bis heute nicht völlig überwunden ist). Der MI6 rekrutierte seine Mitarbeiter vorzugsweise in der oberen Mittelschicht und auch im Adel; der MI5 in der Mittelschicht und - viel seltener - in der Arbeiterklasse. Zwischen den beiden Diensten herrschte eine mitunter an Hass grenzende Rivalität. Mit Klassenressentiments hatte das genauso zu tun wie damit, dass der MI6 im Ausland machte (unterwandern, auskundschaften, Agenten anwerben usw.), was der MI5 im Inland unterbinden sollte, wenn es die Russen taten.

David Cornwell alias John le Carré schreibt über seine Zeit beim MI5, dass er automatisch gelernt habe, den MI6 (zu dem er später wechselte) zu hassen, ohne genau zu wissen warum eigentlich. Die gegenseitigen Ressentiments waren ein wesentlicher Grund dafür, dass der in den 1930ern vom KGB angeworbene Kim Philby jahrzehntelang im MI6 aktiv sein und Agenten in unbekannter Zahl ans Messer liefern konnte. Beim MI5 war man längst von seiner Schuld überzeugt, als der MI6 noch immer an eine böswillige Intrige des ungeliebten Schwesterdienstes glauben wollte und Philby aus Gruppensolidarität schützte.

Das Vermächtnis der Spione macht noch einmal deutlich, dass es Themen gibt, die le Carré ein ganzes Schriftstellerleben lang beschäftigt haben. Eines davon ist der Verrat in all seinen Formen, ein Verrat, der sich in alle Bereiche der Gesellschaft und der täglichen Existenz frisst. Call for the Dead, sein erster Roman, fängt damit an, dass Smiley die schöne Lady Ann Sercomb heiratet und noch im selben Absatz von ihr verlassen wird, weil sie mit einem Rennfahrer nach Kuba durchbrennt. Smileys unverbrüchliche Liebe zu Ann, die ihn immer wieder mit anderen Männern betrügen wird, um zwischen wechselnden Liebhabern zu ihm zurückzukehren, ist sein wunder Punkt, an dem man auch den Agenten treffen kann.

Bill Haydon, die Philby-Figur in Tinker Tailor Soldier Spy, verrät den Circus genauso wie seine Freundschaft mit Jim Prideaux (Guillams Vorgänger als Chef der Skalpjäger), und er fängt eine Affäre mit Ann an, um Smiley den Blick zu vernebeln. Smileys professionelles Urteil ist zweifach getrübt: weil Haydon der Liebhaber seiner Frau ist und weil Haydon Anns Cousin ist. Bill Haydon gehört zum Establishment, in dem man miteinander verwandt ist, dieselben Eliteschulen (Eton, Harrow) und dieselben Eliteuniversitäten (Oxford, Cambridge) besucht, sich immer schon gekannt und eine Gruppenidentität gebildet hat, die wie ein Schutzschirm wirkt.

Tinker Tailor Soldier Spy

Am Ende von Tinker Tailor gesteht sich Smiley ein, dass insgeheim alle die Wahrheit kannten, diese aber nicht akzeptieren wollten, weil undenkbar war, dass einer wie Haydon, ein Mann aus der guten Gesellschaft, ein russischer Maulwurf und ein Landesverräter sein könnte. Dann ertappt er sich dabei, dass er schon wieder anfängt, Entschuldigungen für Haydon und sein falsches Spiel zu finden, das viele Menschen das Leben gekostet hat. Das Wissen um den Verrat, denkt er, sei wie eine Krankheit gewesen, von der alle hofften, dass sie verschwinden würde, wenn man ihre Existenz nicht anerkannte, sie nicht diagnostizierte.

1963, als schließlich aufflog, dass Philby einer von den Cambridge Five war und er sich nach Moskau absetzte, wo man ihm 1965 den Leninorden verlieh, arbeitete David Cornwell noch für den MI6. Er hat wiederholt die Vermutung geäußert, dass Philby auch seinen Namen an den KGB verriet (was sein Biograph Adam Sisman allerdings für unwahrscheinlich hält). Die Philby-Affäre liegt wie ein dunkler Schatten über dem Werk von John le Carré. In Legacy leiden Guillam und Prideaux noch immer unter den Folgen von Haydons Verrat.

Man erfährt, dass Alec Leamas als erster von der Existenz eines Maulwurfs im inneren Zirkel des Circus überzeugt war, als einer seiner ostdeutschen Agenten nach dem anderen aus dem Verkehr gezogen wurde. Das bringt uns zurück in das Büro von Control. Der Chef personifiziert einen Geheimdienst, in dem man nur wirklich dazugehört, wenn man - wie Philby oder Haydon - aus guter Familie kommt (obere Mittelschicht oder höher) und in Oxford oder Cambridge war. Leamas dagegen stammt aus einfachen Verhältnissen und seine Schulbildung ist begrenzt.

Tinker Tailor Soldier Spy

Das macht ihn nicht zum schlechten Agenten, wohl aber zum doppelten Außenseiter (weil er auch noch deutsch-irischer Abstammung ist, statt ein alteingesessener Engländer zu sein). So erklären sich seine Frustration und seine Aggressivität, aber seine Herkunft befreit ihn auch von der Betriebsblindheit seiner Kollegen, der Philby/Haydon seinen Erfolg verdankte. Doch das ist es nicht allein. Der tiefste Abgrund lauert anderswo. Der Klassendünkel bringt Leamas den Tod. Weil er nicht zum selben Club gehört lässt ihn Control gewissenlos über die Klinge springen.

Für den Chef des Circus ist Leamas, der Agent aus der Unterschicht, verzichtbar, und Liz Gold, die Jüdin und Kommunistin, ist es sowieso. Diese beiden sind das Kanonenfutter, das man in die Schlacht schickt, während die Herren aus dem Establishment vom Feldherrnhügel aus die Strategie entwerfen. Der Circus ist die dunkle Unterseite des Vereinigten Königreichs, der Mikrokosmos, aus dem sich auf den Zustand des Gemeinwesens schließen lässt. Le Carré erstellt mit Hilfe des Geheimdiensts ein Psychogramm der Gesellschaft, der die Spione dienen.

Miss Havisham vermietet an den Circus

Le Carrés Inspirationsquellen für The Spy Who Came in from the Cold waren der Bau der Berliner Mauer und wahrscheinlich der Fall des ehemaligen SS-Obersturmführers Heinz Felfe, der nach dem Krieg für den MI6 als V-Mann arbeitete und dann beim Bundesnachrichtendienst zum Leiter des Referats Gegenspionage Sowjetunion aufstieg. Als der Verdacht aufkam, dass es in der Führung des BND einen von Moskau eingeschleusten Maulwurf gab übernahm Felfe die Ermittlungen. 1961 wurde er selbst als dieser Maulwurf verhaftet.

Den raschen Aufstieg beim BND (geleitet von Reinhard Gehlen, früher Chef der Abteilung Fremde Heere Ost in Hitlers Wehrmacht) verdankte Felfe seinen Erfolgen beim Enttarnen sowjetischer Spione. Gut möglich, dass man in Moskau eine Güterabwägung vornahm und weniger wichtige Agenten opferte, um die Karriere des Maulwurfs zu fördern. Ein Anlass für westliche Überlegenheitsgefühle ist das nicht. Controls Plan zeigt, dass es die Briten (zumindest die fiktiven bei Le Carré) in punkto Zynismus durchaus mit den Russen aufnehmen können. Die Philby-Affäre scheidet als Inspirationsquelle vermutlich aus, weil sie erst 1964 öffentlich wurde, ein Jahr nach dem Erscheinen des Romans.

Im Spion, der aus der Kälte kam ist weder von Bill Haydon die Rede noch von einem Maulwurf innerhalb des Circus. Mit A Legacy of Spies holt le Carré das Versäumte nach. Er integriert den Leamas-Plot so geschickt in den neuen Roman, verbindet ihn so nahtlos mit der Haydon-Geschichte in Tinker Tailor, dass man fast glauben könnte, es wäre schon immer so gewesen. Auch The Spy Who Came in from the Cold wird so zum Bestandteil eines seiner Lebensthemen, dem Verrat in den eigenen Reihen und den - auch seelischen - Verwüstungen, die er anrichtet.

Alec Leamas hatte einen Sohn (Christoph), Liz Gold eine Tochter (Karen). Der mehrfach vorbestrafte Christoph hat das Spionagetalent seines Vaters geerbt, sich Zugang zu alten Stasi-Akten verschafft und entdeckt, dass sein Vater und Liz Gold bei einer britischen Geheimdienstoperation gestorben sind. Zusammen mit Karen hat er eine Millionenklage angestrengt. Es drohen ein peinlicher Prozess und eine parlamentarische Untersuchung. Karen ist so idealistisch wie es ihre Mutter war. Anders als Christoph will sie kein (Schweige)Geld, sondern Aufklärung und Transparenz.

Tinker Tailor Soldier Spy

Control ist lange tot und Smiley nicht auffindbar, oder genauer gesagt: er soll nicht aufgefunden werden, weil der Skandal nur noch größer wird, wenn ein einst hochrangiger Funktionär wie er involviert ist. Also muss Peter Guillam den Kopf hinhalten. Er wird in das neue Hauptquartier des Geheimdiensts an der Themse zitiert (für Guillam, den Veteranen des alten Circus, ein schockierender Protzbau), wo zwei glatte Anwälte, "Bunny" Butterfield und die für die Sünden der Vergangenheit zuständige Laura, mit Schadensbegrenzung beschäftigt sind.

Das Problem dabei: Die Akten zur damaligen "Operation Windfall" sind entweder ganz verschwunden oder nur noch fragmentarisch erhalten. Natürlich war es Guillam, Smileys Mann für knifflige Aufgaben dieser Art, der sie aus dem Circus-Archiv geklaut hat. Das weiß man gleich, wenn man Tinker Tailor gelesen hat. In der Verfilmung und im Mehrteiler der BBC führen Benedict Cumberbatch (cool und nervenstark) und Michael Jayston (auch nervenstark, aber nicht so cool und nach der Tat sichtlich mitgenommen) in der Guillam-Rolle vor, wie es gemacht wird.

Tinker Tailor Soldier Spy (2011)

Die Bürokraten müssen aber die ganze Wahrheit kennen, um sie - sagt Laura - erfolgreich manipulieren zu können. Guillam soll dabei helfen, stellt sich dumm und kommt damit nicht durch, weil Laura in den Büchern Zahlungsanweisungen für eine konspirative Wohnung, eine Haushälterin und einen alten Verbündeten Smileys entdeckt hat, Inspektor Mendel von der Kriminalpolizei. Die "Wohnung" ist ein dreistöckiges Haus (Deckname: "The Stables"), für das der Geheimdienst noch immer die Miete an einen Offshore-Fonds in den Niederländischen Antillen überweist. Mendel freilich dürfte inzwischen gestorben sein, weil er 1961, als er Smiley kennenlernte (in Call for the Dead), gerade pensioniert wurde.

Beim Verwischen der Spuren hat einst ein mit Smileys Gattin verwandter Anwalt geholfen. Wie aktuell das ist haben jüngst die Enthüllungen rund um die Paradise Papers gezeigt. Der britische Adel, von Smileys Lady Ann bis hin zur Queen, wusste auch früher schon, wie man sein Geld versteckt. Das im Dornröschenschlaf liegende, von der Zeit vergessene Haus könnte eine Idee von Charles Dickens sein. Man denke an die alte Miss Havisham in Great Expectations, die an ihrem Hochzeitstag von einem betrügerischen Bräutigam sitzen gelassen wurde und noch immer ihr Brautkleid trägt.

Das Zimmer, in dem die junge Miss Havisham Hochzeit feiern wollte, ist seitdem unberührt. Die von Staub und Spinnweben bedeckte Hochzeitstorte allerdings wäre in den "Ställen" undenkbar, denn hier führt noch immer die Haushälterin Millie McCraig das Regiment, eine strenge Schottin, von der das Gerücht umgeht, sie wäre vor vielen Jahren einer Affäre mit George Smiley nicht abgeneigt gewesen. (Beim Lesen habe ich mir Millie unwillkürlich wie Anne Bancroft in der unterschätzten Great Expectations-Verfilmung von Alfonso Cuarón vorgestellt.)

Säuberungsprozedur

Das konspirative Haus steht stellvertretend für die analoge Welt. Nach dem seelenlosen, von Computern gesteuerten Funktionsbau des modernen Circus hat le Carré erkennbar Freude daran, die Gegenstände zu benennen, die dort zu entdecken sind. Millies Fahrrad ist genauso eine Erwähnung wert wie ihre Schallplatten, und das Vogelhaus ist besser als jede Firewall. Das Prunkstück ist die Bibliothek, in der die Schreibtische von Smiley und Control stehen, als wäre die Operation Windfall erst gestern gewesen. An der Wand hängen Photos von Mundt und seinem Rivalen Fiedler.

Ohne Trutzburg an der Themse, erläutert Guillam, waren spezielle Sicherungsmaßnahmen erforderlich. Statt durch Gitter vor den Fenstern Diebe anzulocken kaufte Smiley dicke alte Bücher, die niemand stehlen würde. Ein Teil der Bände ist ausgehöhlt, in den Höhlungen sind die Akten versteckt. Einem anderen Autor müsste man hier bescheinigen, dass seine Phantasie mit ihm durchgegangen ist. Für George Smiley, die le-Carré-Figur par excellence, ist es nur konsequent, wenn er die Sicherheit lieber dem Antiquar anvertraut als dem Schlosser. Bei le Carré ersetzt das Aktenstudium die spektakulären Stunts in den James-Bond-Abenteuern, und meistens ist das viel spannender.

Das Lesen gehört quasi zur DNS des Geheimdiensts alter Schule. Le Carré hat dessen Hauptquartier am Cambridge Circus angesiedelt (daher der Spitzname, "The Circus"). Von einigen Büros aus (etwa dem von Bill Haydon in Tinker Tailor) blickt man auf die Charing Cross Road, immer noch als Straße der Buchhandlungen und Antiquariate bekannt, obwohl einige von ihnen schließen mussten, seitdem versucht wird, die Mieten trotz öffentlicher Proteste auf das übliche Londoner Niveau zu heben. Smiley ist am Beginn seines Berufslebens Dozent für deutsche Literatur. Das prägt auch seine Agententätigkeit.

Cambridge Circus (Tinker Tailor Soldier Spy)

Wenn Smiley Akten gegen den Strich liest (in Legacy übernimmt sein gelehriger Schüler Peter Guillam diese Aufgabe), aus scheinbar unwichtigen Details die eigentliche Geschichte zusammensetzt und so in Bereiche vordringt, die den seelenlosen Bürokraten um ihn herum immer unzugänglich bleiben werden, dann ist das auch eine Gebrauchsanweisung für die gewinnbringende, nicht nur an Plot und Oberflächenspannung interessierte Lektüre der Romane. Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die andere hat mit dem Kalten Krieg zu tun und mit der ersten Karriere des David Cornwell, als Agent des britischen Geheimdiensts.

Unter dem Eindruck wachsender (und nicht ganz unbegründeter) Ängste, dass atomare Geheimnisse an die UdSSR verraten werden könnten, ordnete der britische Premierminister Clement Attlee 1948 die "Purge Procudure" an, die "Säuberung" aller sicherheitsrelevanten Bereiche der Gesellschaft von Kommunisten (und Faschisten). Da das Herumschnüffeln im Privatleben der Bürger als unbritisch und degoutant galt konzentrierte sich der MI5 zunächst darauf, die Namen potentieller Geheimnisträger mit den Mitgliedslisten der (unterwanderten) Kommunistischen Partei abzugleichen.

Allzu schwierig kann die Aufgabe nicht gewesen sein. Der Daily Worker, die Tageszeitung der britischen Kommunisten (seit 1966 heißt sie Morning Star), hatte einen treuen Abnehmer: den britischen Geheimdienst. Mehr Exemplare kaufte nur die Botschaft der UdSSR. KP-Mitglieder waren angehalten, Passanten anzusprechen und zum Erwerb einer Zeitung zu animieren, was meistens ein aussichtsloses Unterfangen war. Für den Geheimdienst war es ideal, weil er nicht lange nach den Kommunisten suchen musste. Sie standen auf der Straße und zeigten als Erkennungszeichen den Daily Worker vor.

Liz Gold hasst diesen Dienst an der Partei. Sie stellt sich mit einer Handvoll Zeitungen an ihren Platz, wartet da zwei Stunden, bis sie ein einziges Exemplar losgeworden ist und macht es dann so wie die Parteigenossen: sie zahlt aus der eigenen Tasche für ein Dutzend Exemplare oder mehr, behauptet beim nächsten Treffen, alles verkauft zu haben, und die anderen bemühen sich, sie mit ihren eigenen Lügen zu überbieten. Die besten "Verkäufer" werden belobigt, mit Namensnennung im Daily Worker. Man weiß nicht genau, ob das der Satiriker John le Carré geschrieben hat oder doch der Dokumentarist.

Doppelte Standards

David Cornwell nahm im Frühjahr 1958 den Dienst beim MI5 auf. Seinem Biographen Adam Sisman zufolge wurde er auf asiatische Commonwealth-Studenten angesetzt (einige davon leisteten auf unterster Ebene Industriespionage für China), ehe man ihn beförderte und zur mit der Überwachung der KP betrauten "F Branch" versetzte. Dort wurde er der Sektion F2 zugeteilt, verantwortlich für die inzwischen deutlich strenger gewordenen Sicherheitsüberprüfungen. Cornwell alias le Carré meinte später, es sei eine "Papierwelt" gewesen, in die er da geriet.

Sich selbst vergleicht er mit dem unterbezahlten Bürogehilfen von Ebenezer Scrooge in Dickens’ A Christmas Carol, der in einer tankähnlichen Zelle arbeiten muss: "Ein Sicherheitsdienst marschiert auf seinen Akten, und ich war einer von der Infanterie. Wie Bob Cratchit in seinem Tank schuftete ich mich von morgens bis oft spät in die Nacht mit den Dossiers von Leuten ab, denen ich nie begegnen würde: Sollten wir ihm trauen? Oder ihr? Sollten ihre Arbeitgeber ihnen trauen? Könnte er ein Verräter sein, ein Spion oder jemand, der einsame Entscheidungen trifft, ein geeigneter Fall für eine Erpressung durch die skrupellose Opposition?"

Bob Cratchit

Obwohl selbst noch eher unreif, so le Carré, habe man ihn beauftragt, über das Leben dieser Menschen zu Gericht zu sitzen. Smiley ist in Call for the Dead ein Mann mittleren Alters und hat viel Lebenserfahrung, doch das Unbehagen ist geblieben. Die Homosexualität des "Beraters" (Deckname des Vorgängers von Control), ist ein offenes Geheimnis. In Polizeikreisen nennt man ihn "Marlene Dietrich". Le Carré will damit nicht etwa sagen, dass der Geheimdienst ein Tummelplatz für Schwule ist (für die Marlene eine Identifikationsfigur war). Es geht um Heuchelei.

In Großbritannien empfahl 1957 eine Regierungskommission, homosexuelle Beziehungen unter Erwachsenen zu entkriminalisieren. Zehn Jahre später wurde daraus endlich ein Gesetz, gegen enorme Widerstände. Die gesellschaftliche Ächtung der Homosexualität dauerte noch viel länger. Im Roman schickt also ein Mann, der selbst eminent erpressbar ist, seine Leute los, um Schwachstellen und dunkle Punkte in der Vergangenheit anderer Bürger zu finden. Im konkreten Fall muss Smiley Samuel Fennan überprüfen, einen Beamten im Außenministerium.

Ein anonymer Briefschreiber hat behauptet, Fennan sei in den 1930ern, als Student in Oxford, Mitglied der KP gewesen. Für Smiley ist das Routine, denn Fennan ist kein Einzelfall. In den 1930ern trat manch ein Brite der KP bei. Viele taten es aus Idealismus und auch deshalb, weil die Labour Party ein klägliches Bild abgab und der Kommunismus (bis zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939) die einzig glaubwürdige Alternative zum Faschismus zu sein schien. Einige ließen sich von Moskau als Spione anwerben wie Kim Philby, Guy Burgess und Donald Maclean. Fennan dagegen kommt Smiley harmlos vor. Er sucht ihn im Ministerium auf und bittet ihn zu einem Spaziergang, um die Sache diskret zu besprechen.

Die gesellschaftliche Diskriminierung bestimmter Gruppen zeigt sich beim Blick auf das Personaltableau staatlicher Institutionen. Als David Cornwell beim MI5 war hatten es nur ganz wenige Frauen in Führungspositionen geschafft, die rund 150 Beamten waren alle weiß, viele kamen aus dem Kolonialdienst, kein einziger Jude war dabei. Juden waren per se suspekt, man wollte sie da nicht. Fennan ist ein jüdischer Emigrant, der in den 1930ern nach England geflohen ist, studiert und dann - nur durch eigene Leistung und allen Vorurteilen zum Trotz - im Außenministerium Karriere gemacht hat. Wirklich besser ist es dort aber auch nicht.

Königreich aus Papier

Bei seiner ersten Mission also muss George Smiley als Vertreter einer latent judenfeindlichen Behörde einen jüdischen Flüchtling, der sich allem Anschein nach perfekt integriert hat, auf seine Staatstreue überprüfen. Es ist nicht nur der Kommunismus, vor dem man auf der Hut sein sollte, sondern auch der Antisemitismus. Smiley ist das schmerzlich bewusst, und seinem Schöpfer ebenfalls. In der Verfilmung, The Deadly Affair, lässt Sidney Lumet die Begegnung der beiden Männer in der Mitte der britischen Gesellschaft stattfinden. Sie treffen sich beim See im St. James’s Park, nur einen Steinwurf vom Regierungsviertel entfernt, mit dem Buckingham Palace im Hintergrund.

Fennan gibt unumwunden zu, dass er nach dem Aufstieg von Hitler und Mussolini der Partei beitrat, weil der Kommunismus für sozialen Fortschritt und Antifaschismus stand. Seitdem habe er umgedacht. Smiley glaubt ihm, verspricht ein positives Resultat des Prüfverfahrens, die Sache scheint erledigt. Am nächsten Morgen ist Fennan tot. Suizid, sagt die Polizei. Das Gespräch mit Smiley hat Fennan angeblich so deprimiert, dass er sich umbrachte. Wie seine Nachfolger in Vermächtnis der Spione will der Berater in erster Linie kein Aufsehen und keinen Ärger mit der Politik. Smiley soll rasch zur Witwe fahren, mit ihr reden und die Akte zügig in die Registratur geben.

The Deadly Affair

Den Geheimagenten bringt das in eine peinliche Lage. Aus der Papierwelt muss er hinaus ins echte Leben. Smiley fragt sich, was er der Witwe sagen soll. Etwa, dass er nur seine Pflicht getan hat, dass Fennan darüber melancholisch wurde und dass er, Smiley, es bedauere, den Mann von Mrs. Fennan in Ausübung seiner Pflicht getötet zu haben? Er sagt lieber gar nichts. Der Film macht Smileys Unbehagen körperlich spürbar. Ein nasskalter Morgen. Simone Signoret als Elsa Fennan lässt James Mason (ein sehr guter Smiley) in ihr Haus, um ihn dann einer Schweigefolter zu unterziehen. In der Wohnung ist es kalt und Smiley fröstelt.

The Deadly Affair

Elsa Fennan schaltet den elektrischen Heizstrahler ein und beginnt ihren Dialog, der noch quälender ist als ihr Schweigen. Sie attestiert Smiley eine Krankheit, deren Opfer ihr nur zu gut bekannt seien: "Der Verstand wird vom Körper abgetrennt; er denkt außerhalb der Wirklichkeit, regiert ein Königreich aus Papier und plant ohne Emotion den Ruin seiner Opfer aus Papier. Aber manchmal ist die Trennung zwischen Ihrer Welt und der unsrigen unvollständig; den Akten wachsen Köpfe, Arme und Beine, und das ist ein furchtbarer Moment, nicht wahr?" Furchtbar ist eine Untertreibung. Aus der Akte Fennan ist ein Mensch mit Angehörigen geworden, auf dem Fußboden sieht man noch sein Blut.

The Deadly Affair

Der Drehbuchautor Paul Dehn, früher selbst beim Geheimdienst (im Krieg war er im selben Ausbildungslager wie der Bond-Erfinder Ian Fleming und der Hollywoodstar Sterling Hayden), hat le Carrés Sätze etwas umgeschrieben, was die Wirkung zumindest nicht verringert. Der Heizstrahler wird wärmer. Smiley fängt an zu schwitzen und zieht den Mantel aus. Wahrscheinlich fühlt er sich, als würde man ihn auf kleiner Flamme rösten. Dann hat er doch noch Glück, wenn man es so nennen will. Es klingelt und Smiley geht an den Apparat. Der angebliche Selbstmörder hat den telefonischen Weckruf bestellt, um pünktlich ins Ministerium zu kommen. Das passt nicht zum Suizid.

Die Angelegenheit ist doch komplizierter, denn Fennan wurde ermordet. Am prinzipiellen Befund ändert das wenig. Die Herrscher über die Papierwelt schützen das Königreich und vergessen allzu leicht, dass echte Menschen den Preis dafür bezahlen müssen. Jemand im Hause Fennan liest übrigens Krimis. Lumets Requisiteur hat ein paar Bände mit den charakteristischen gelben Umschlägen der bei Victor Gollancz erscheinenden Kriminalromane ins Regal gestellt. Hier ist ein kurzer Ausflug in das Verlagsgeschäft angebracht.

Gelbe und rote Umschläge

Gollancz war der Verleger von John Bingham, Cornwells Mentor beim MI5. Auch die ersten Bücher von John le Carré, Call for the Dead und A Murder of Quality (in der TV-Adaption mit Denholm Elliott als Smiley), erschienen in der gelben Krimireihe. Dann flog John Vassall auf, ein schwuler Regierungsbeamter bei der Royal Navy, den der KGB seit den 1950ern mit kompromittierenden Photos von einer eigens dafür organisierten Party erpresst hatte. Vassall hatte Marinegeheimnisse verraten, weil er die Vernichtung seiner bürgerlichen Existenz befürchtete, wenn seine Homosexualität öffentlich geworden wäre (Merke: Die Diskriminierung von Minderheiten ist schlecht für die Sicherheit.).

Diese Sex- und Spionageaffäre aus dem Jahr 1962 rief auch die Literaturkritik auf den Plan. Gefordert wurde der realistische Spionageroman, der eine von Somerset Maugham (Ashenden) und Eric Ambler begründete Tradition fortsetze und sich an der durch den Vassall-Fall sichtbar gewordenen Wirklichkeit orientiere, statt abenteuerliche Geschichten aus einem Phantasieland zu erzählen. Den Verleger Gollancz brachte das auf eine Idee zur Vermarktung des neuen le Carré. In der Werbekampagne versprach er den von den Kritikern verlangten Realismus.

Die Druckfahnen von Der Spion, der aus der Kälte kam verschickte er vorab an prominente Persönlichkeiten des literarischen Lebens, die sich mit den erhofften Lobhudeleien revanchierten. In seinem Begleitbrief stand etwas von "unmissverständlicher (und ganz fürchterlicher) Authentizität" sowie von "großer gesellschaftlicher Wichtigkeit", und Graham Greene schrieb zurück: "Die beste Spionagegeschichte, die ich je gelesen habe." Um zu signalisieren, dass es sich um ein Werk mit literarischem Anspruch handele beschloss Gollancz, das Buch nicht in einem gelben, sondern in einem roten Umschlag zu verkaufen.

Gollancz war ein Purist und mochte keine Bilder auf seinen Buchumschlägen. Stattdessen betonte er in schwarzer Schrift auf weißem Untergrund die "große Aktualität" und die "hohe politische Bedeutung" des Romans. Seine Bemühungen zahlten sich aus. Es gab hervorragende Besprechungen und so viele Vorbestellungen, dass das Buch bis zum Veröffentlichungstermin im September 1963 bereits dreimal nachgedruckt worden war (auch der Hinweis auf die erforderlich gewordenen Neuauflagen war eine gute Reklame). Le Carré wird seither von dem zweischneidigen Kompliment verfolgt, der Autor besonders realistischer Spionageromane zu sein.

Freude bereitet ihm das keine, weil man so seinen Erfindungsreichtum in Frage stellt. Bei seinen Ex-Kollegen beim MI5 verstärkte das Versprechen auf eine realistische Schilderung der Geheimdienstarbeit noch den Ärger. Le Carré sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, ein Verräter zu sein, der den guten Namen des britischen Geheimdiensts in den Schmutz zog. Für Bingham wurde er mit Spy zum "literarischen Überläufer" (le Carré im Vorwort zu einer posthum erschienenen Neuauflage von Binghams A Fragment of Fear).

Als Bingham 1966 den Spionageroman The Double Agent veröffentlichte (Gollancz, gelber Umschlag) fühlte er sich zu einem Vorwort über zwei aktuell existierende Denkschulen bezüglich der Geheimdienste genötigt. "Eine Schule", so Bingham missbilligend, "ist überzeugt davon, dass das Personal dort aus mörderischen, mächtigen und ein Doppelspiel treibenden Zynikern besteht; die andere, dass der Steuerzahler eine Ansammlung von Stümpern und Tagedieben finanziert." Offenbar hatte er auch le Carrés The Looking Glass War (1965) gelesen. Da sind die Geheimdienstler zynisch und inkompetent.

Ungeklärt blieb, ob le Carré von diversen Ex-Kollegen des Verrats bezichtigt wurde, weil er die Wirklichkeit zu genau beschrieben hatte, oder weil sich die Spione durch eine Erfindung fernab der Realität diffamiert sahen. Die letzten Kapitel zu Legacy lesen sich wie sein abschließender Kommentar zu Bingham. Man erfährt, dass Controls Plan, in dem Menschen verschoben werden wie Schachfiguren, noch zynischer war, als man nach der Lektüre von Spy dachte. Wer glaubt, dass das nicht möglich ist: Für einen Marionettenspieler wie Control kein Problem.

Interessant ist die Reaktion der "untadeligen Generation" (Guillam über die Leute, die jetzt am Ruder sind). In Zeiten politischer Korrektheit und vermeintlicher Transparenz haben diese Untadeligen über die Vergangenheit zu urteilen, und sie legen die Maßstäbe der Gegenwart dabei an (auch ein sehr aktuelles Thema). Nach Aktenlage war die Operation Windfall ein Desaster. Alec Leamas und Liz Gold wurden an der Mauer erschossen, und Mundt, der beseitigt werden sollte, saß fester im Sattel als zuvor. Aber die Akten sind unvollständig.

Was, wenn sich Beweise dafür beibringen ließen, dass die Operation ein voller Erfolg war, weil Mundt - als Doppelagent der Briten - in Wahrheit geschützt werden sollte? Dann, stellt Guillams Anwältin nüchtern fest, wäre von einem drohenden Untersuchungsausschuss des Parlaments nichts mehr zu befürchten, und es würden sich Mittel und Wege finden lassen, die Klage der Hinterbliebenen abzuwehren. Der Zweck würde wieder einmal die Mittel heiligen.

Es muss nur etwas geben, das sich als Erfolg verkaufen lässt, und die Opfer sind nicht mehr ganz so wichtig. "Liz und Alec?", meint die Anwältin. "Tragisch, ja, aber unter den Umständen, akzeptable Verluste in einer Angelegenheit, wo es um das große Ganze geht. […] Sie finden für mich die Beweise, ich finde für Sie den Richter." Beweise gibt es und den Richter folglich auch. Le Carré erspart uns die Einzelheiten, weil die Botschaft völlig klar ist: Im Zynismus der Geheimdienste spiegelt sich der Zynismus der Gesellschaft, deren Teil sie sind.

Polizeigewalt und staatlicher Auftragsmord

Über Binghams Verärgerung wundert man sich ein bisschen, weil er keiner von den Autoren war, die sich vor britischen Institutionen respektvoll verneigen. Die Polizeibrutalität in seinem ersten Roman (My Name Is Michael Sibley, 1952) muss für damalige Krimileser schockierend gewesen sein. Beim Geheimdienst war er nachsichtiger, ihn hielt er in Ehren. Vermutlich war auch persönliche Verletzung mit dabei, die besonders die Frauen in seinem Umfeld artikulierten, während sich Bingham in vornehmer Zurückhaltung übte und David Cornwell nie die Freundschaft kündigte.

Binghams Frau Madeleine war erbost darüber, dass le Carré Bücher mit einem George Smiley schrieb, in dem sie ein unvorteilhaftes Portrait ihres Ehemanns zu erkennen glaubte (klein, dick, bebrillt und wie ein Frosch auf der Suche nach einem Kuss, wie es in Call for the Dead heißt). Als Frau des "echten Smiley" scheint sie es als einen Anschlag auf ihren guten Ruf empfunden zu haben, dass die literarische Figur in Lady Ann eine Gattin mit ständig wechselnden Liebhabern hat. Eigentlich hätte es Lady Madeleine besänftigen müssen, dass in The Deadly Affair James Mason ihren Gatten spielt (oder den Mann, den sie dafür hielt).

Masons Agent allerdings ist ein ältlicher, von privaten Verlustängsten gequälter Herr, der zwar ein Geheimdienst-Profi ist, aber zugleich ein ziemlich grauer, langweiliger Beamter. Ob das Mrs. Bingham gefallen konnte? Smiley heißt auch nicht mehr Smiley, sondern Dobbs. Der in solchen Dingen unerfahrene und schlecht beratene le Carré hatte beim Verkauf der Filmrechte am Spion, der aus der Kälte kam außer der Geschichte auch die Namen der Charaktere an die Paramount abgetreten. The Deadly Affair ist eine Columbia-Produktion. Aus Smiley wurde Charles Dobbs.

The Deadly Affair

Inspektor Mendel durfte seinen Namen behalten, weil er in Spy nicht vorkommt. Harry Andrews als tierliebender und von Narkolepsie geplagter Inspektor ist wie immer grandios und die Szene, in der er den Schrotthändler durch die Straßen prügelt, bis er merkt, dass dessen kleine Tochter dabei zuschaut, schwer zu ertragen. Dieser Polizist macht so etwas nicht zum ersten Mal. Dadurch, dass Mendel soeben pensioniert wurde, wird es nicht besser. Hier ist die Handschrift von Paul Dehn zu erkennen, der ein Handbuch für Spione verfasst und - nach allem, was man weiß - im Krieg für den SOE gezielt Leute ausgeschaltet hatte, also ein ausgebildeter Killer gewesen war.

The Deadly Affair

Seine Kriegserfahrungen verarbeitete Dehn im Drehbuch für Orders to Kill (1958). Ein amerikanischer Offizier wird in ein Trainingslager für Agenten geschickt und dann in das von den Nazis besetzte Paris. Dort soll er einen freundlichen älteren Herrn umbringen, der bei der Résistance und vielleicht ein Verräter ist. Der Offizier stellt fest, wie schwer es ist, einen Menschen zu töten, auch wenn man zuvor gelernt hat, wie es geht. Die Folgen sind für die Beteiligten so dramatisch wie die Operation am Ende sinnlos war. Dehn bezieht mit Orders to Kill sehr deutlich Position gegen staatlich angeordnete Gewalt, von der Folter bis zum Auftragsmord.

Die Folter beschmutzt alle

Dehns Drehbuch zu The Deadly Affair bringt bereits die "verschärften Verhörmethoden" staatlicher Stellen zum Vorschein, die in der Romanvorlage noch zwischen den Zeilen versteckt sind, le Carré aber in den späteren Büchern immer wieder beschäftigen werden. Charakteristisch ist seine Reaktion auf Graham Greenes Spionagesatire Our Man in Havana, die er las, als er noch beim MI5 war. Zum einen amüsierte er sich darüber, wie leicht es dem Staubsaugerverkäufer Wormold fällt (in Carol Reeds Verfilmung: Alec Guinness, der spätere George Smiley), dem britischen Geheimdienst mit den fiktiven Berichten ebenso fiktiver Agenten Geld aus der Tasche zu ziehen.

Zum anderen war er schockiert, dass Greene aus Polizeichef Seguras eine komische Figur macht, obwohl der Mann ein Folterer ist. Bei der Folter gibt es für le Carré nichts zu lachen. Lange vor Guantanamo und den CIA-Foltergefängnissen in Osteuropa, in Tinker Tailor, versuchen die Verhörspezialisten des Circus, aus Bill Haydon Informationen herauszuprügeln. Niemand gibt es zu, und trotzdem wissen alle, was da vor sich geht. Am Ende besucht Smiley Haydon im Lager und ärgert sich über dessen schlechten körperlichen Zustand. Haydon sagt etwas über die kleinkarierte Gemeinheit seiner Befrager, viel mehr wird darüber nicht gesprochen.

Das geschickt dosierte Understatement hinterlässt mehr Wirkung als detailreich beschriebene Folterszenen, weil sich im Kopf des Lesers eigene Bilder einstellen. Tomas Alfredson nimmt sich an dieser Zurückhaltung ein Beispiel. In der Kinoversion kämpft Haydon (Colin Firth) mit den Tränen, als Smiley (Gary Oldman) in seine Zelle kommt. Das ist nicht so sehr der Mann, der jahrzehntelang die Ostagenten des Circus ans Messer geliefert hat und sich jetzt selber leid tut, weil man ihn enttarnt hat. Zu sehen sind, sehr dezent, die körperlichen und mehr noch die seelischen Folgen der Folter.

Der Mann steht am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Im Mehrteiler der BBC ist es noch schlimmer. Bill Haydon kann da sein Nasenbluten nicht stoppen, das Weinen ist länger und intensiver. Ian Richardson, spezialisiert auf die Vermenschlichung mieser Charaktere (siehe House of Cards, das Original der BBC), spielt das aus bis an die Schmerzgrenze. Smiley sitzt dabei und wird unfreiwillig zum Komplizen der Folterer, obwohl ihn deren Handwerk anekelt. Die Folter, sagt le Carré, beschmutzt alle. Darum sitzen das Opfer der Quälerei und Smiley, der sie nicht verhindert hat, in derselben Zelle.

Auf eine unheimliche Weise verbindet die Folter den Westen und den Osten. In Tinker Tailor foltern die Briten den Doppelagenten Haydon und in Spy lässt Mundt Alec Leamas foltern, der in die DDR geschickt wurde, um zu verhindern, dass er, Mundt, als Doppelagent der Briten enttarnt (und dann gefoltert) wird. Durch seine Plots (und nicht durch lange Kommentare) lässt le Carré nie einen Zweifel daran aufkommen, was von solchen Methoden zu halten ist.

Wie man weiß, ist das Thema durch das Ende des Kalten Krieges nicht obsolet geworden. Le Carré greift es deshalb in Das Vermächtnis der Spione noch einmal auf. Es zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und beginnt mit der Vorgeschichte von Der Spion, der aus der Kälte kam. Karl Riemeck, Sohn eines von den Nazis in Buchenwald ermordeten Widerstandskämpfers, ist überzeugter Kommunist, darf im Arbeiter- und Bauernstaat Medizin studieren und berät Stasibonzen in heiklen medizinischen Angelegenheiten, bis er schließlich als Charité-Arzt bei Folterungen zugezogen wird und die Opfer auf ihre körperliche Belastbarkeit untersuchen muss.

Riemeck sieht seine Ideale verraten und in der DDR einen Unrechtsstaat, den er bekämpfen will, statt ihm weiter zu dienen. Er kontaktiert den britischen Geheimdienst und baut ein von Alec Leamas geführtes Agentennetz auf, dessen Ende wir miterleben, wenn Riemeck am Grenzübergang zwischen West- und Ost-Berlin erschossen wird. Leamas und Guillam gelingt es, die wichtigste Informantin aus der DDR heraus und über Prag nach Großbritannien zu holen. Smiley und Control bringen sie in Camp 4 unter, einem geheimen Ausbildungslager des Circus.

Herzstück des Lagers ist das "U-Boot": eine Isolationszelle, in der angehende Agenten lernen sollen, wie man "harten Verhörmethoden" widersteht und wie man sie selbst anwendet. In der Geschichte der Folter ist das ein beliebtes Vorgehen. Der Gegenseite werden Methoden zugeschrieben, vor denen man sich durch den Erwerb von praktischem Wissen schützen muss, und wenn man erst das Knowhow hat ist es ein kleiner Schritt, bis man es selber anwendet, dies aber natürlich nur zum Erreichen übergeordneter und hehrer Ziele, durch die man sich von den Bösewichten auf der anderen Seite unterscheidet.

Weil das ein Buch von John le Carré ist wird einem der Kommentar dazu nicht ausbuchstabiert, er ist durch Selberdenken aus der Handlung abzuleiten. Ausgerechnet im Ausbildungslager für Folterer landet Doris Gamp, die Informantin, die überhaupt nur mit dem britischen Geheimdienst in Berührung kam, weil Riemeck einem Staat, in dem behördlich gefoltert wird, den Kampf ansagte. Dieses Lager, das ihr Sicherheit bieten soll, bringt den Tod. Das ist der Ausgangspunkt für einen Plan, der zynischer kaum sein könnte und dessen Folgen (mehrere Folterungen inklusive) Smiley und Guillam ein Leben lang begleiten werden.

Le Carré zeigt die zersetzende Wirkung. Am Ende traut jeder jedem alles zu. Die Anwälte, die der Staat dafür bezahlt, dass sie Geheimdienstskandale unter den Teppich kehren, haben Angst davor, dass der Circus eigene Agenten gefoltert und versehentlich umgebracht haben könnte, wenn sie nicht auskunftsfreudig genug waren. Wer einmal anfängt begibt sich auf eine abschüssige Bahn. Keiner ist dann mehr sicher.

Im zweiten (und letzten) Teil unternehmen wir einen kurzen Ausflug in die Geschichte der Filmzensur, der uns auch zu John le Carrés Verhältnis zu den Deutschen und den mitteleuropäischen Juden führen wird und zu einer möglichen Antwort auf die Frage, warum le Carré noch einmal einen Roman über den eigentlich schon ausgemusterten Circus und seine Der-Zweck-heiligt-die-Mittel-Operationen geschrieben hat.

Dies und noch mehr in: Deutsche, verschwundene Juden und Europa

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