Judentum und Pazifismus

Seite 2: Pioniere der deutschen Friedensbewegung im 19. Jahrhundert

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Die Anfänge einer organisierten Friedensbewegung im Sinne des heutigen Verständnisses reichen zurück ins frühe 19. Jahrhundert. Hierbei nehmen Pazifisten aus den USA und aus England eine führende Stellung ein. In Deutschland blieb der Friedensgedanke - trotz Immanuel Kant - noch lange eine ganz unterbelichtete Sache. Im Zusammenhang mit der 1850 gegründeten und nur kurz bestehenden Königsberger Friedensgesellschaft nennt Karl Holl den jüdischen Radikaldemokraten Johann Jacoby (1805-1877), der ab 1867 auch der "Internationalen Friedens- und Freiheitsliga" angehörte.

Im wilhelminischen Deutschland bekannte sich der jüdische Philosoph und Neukantianer Hermann Cohen (1842-1918), eingedenk des "sittlichen Enthusiasmus der Propheten", zum Pazifismus und verwies ausdrücklich auf das Gebet an hohen Festtagen der Juden: "Auf dass alle Erschaffenen sich vereinigen in einem Bunde." Der Schriftsteller Eduard Loewenthal (1836-1917), aus einem frommen jüdischen Elternhaus kommend, gründete 1874 einen "Deutschen Verein für internationale Friedenspropaganda".

Maßgeblicher Mitbegründer der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) war 1892 der gebürtige Wiener und frühe Pazifist Alfred Herrmann Fried1 (1864-1921). Er erhielt 1911 den Friedensnobelpreis, der gemäß Stifterintention ja einmal der Auszeichnung von engagierten Pazifisten gedient hat. Wegen seiner Herkunft war Fried, der trotz fehlender religiöser Bindung eine Distanzierung vom Judentum durch Konfessionswechsel ablehnte, auch Zielscheibe für antisemitische Angriffe.

Nicht alle Vertreter der Friedensbewegung zeigten sich in dieser Sache so solidarisch wie Bertha von Suttner. Insgesamt lassen sich viele Berührungspunkte zwischen Pazifismus und Kampf gegen den Antisemitismus aufweisen. Ludwig Quidde (1858-1941) zum Beispiel, der bereits 1881 mit einer Schrift gegen die Antisemitismus-Agitation in der deutschen Studentenschaft hervorgetreten war, gehörte ab 1892 ebenfalls der Deutschen Friedensgesellschaft an und wurde für seinen Einsatz in der deutschen Friedensbewegung 1927 mit dem Friedensnobelpreis geehrt.

Pazifisten aus jüdischen Elternhäuser im Bannkreis des ersten Weltkrieges

Gemeinhin wird die große patriotische "Opferbereitschaft" der deutschen Juden nach Beginn des ersten Weltkrieges herausgestrichen, die mit der trügerischen Hoffnung verbunden war, durch Kriegsdienstleistung gesellschaftliche Akzeptanz und uneingeschränkte Gleichberechtigung erlangen zu können. Der Historiker Veit Valentin, später ein Anwalt von Republik und Pazifismus, unterschrieb im Oktober 1914 einen kriegerischen Aufruf deutscher Wissenschaftler.

Selbst ein Mann wie Martin Buber (1878-1965) wurde - zum Entsetzen seines pazifistischen Freundes Gustav Landauer (1870-1919) - von der Kriegsbegeisterung erfasst. Unter den jungen Zionisten gehörte derweil Gershom [Gerhard] Scholem (1897-1982), ein Bruder des im KZ Buchenwald ermordeten antistalinistischen Kommunisten Werner Scholem (1895-1940), schon 1915 zu jenen, die jeglicher Kriegsverherrlichung widersagten und sich zu einem aktiven Pazifismus bekannten. Pazifismus und Friedenstheologie sind aus der Geschichte des Zionismus nicht wegzudenken, worauf wir später noch zu sprechen kommen.

Der Religionsphilosoph Martin Buber am Schreibtisch von Joseph Wittig in Neusorge (Schlesien) am 18. Januar 1937. (Fotoarchiv Peter Bürger)

Andere Intellektuelle aus jüdischen Familien, darunter Walter Benjamin, der Ungar Georg Lukács oder Theodor Lessing, waren ebenso wenig daran interessiert, Kriegsdienst für die Herren Kaiser zu leisten. Günther Anders (1902-1992) [Günther Siegmund Stern] gründete 1917 zusammen mit anderen noch jugendlichen Freunden einen "Bund für ein vereinigtes Europa ohne Grenzen", und diesem "Kinderspiel" folgte ein langer pazifistischer Lebens- und Leidensweg.

Die von Siegfried Jacobsohn (1881-1926) begründete "Weltbühne" wurde ab 1918 ein bedeutsames Forum für die pazifistische Linke. Kurt Eisner (1867-1919), der von einem rechten Studenten ermordete erste Ministerpräsident des bayrischen "Freistaates", wandelte sich ab 1915 zum entschiedenen Pazifisten und gehörte zum Antikriegsflügel der Sozialdemokratie. (Als Repräsentant der Münchener Räterepublik wurde auch Bubers Freund Gustav Landauer von Freikorps-Soldaten ermordet.)

Rosa Luxemburg (1871-1919), Tochter jüdischer Eltern, war maßgebliche Verfechterin von Massenstreiks zur Kriegsverhinderung und wandte sich als kompromisslose Internationalistin 1914 gegen den Kriegskurs der deutschen Sozialdemokratie. Zu den Gegnern der "sozialdemokratischen" Burgfrieden-Politik im ersten Weltkrieg zählten nicht wenige Sozialisten aus jüdischen Elternhäusern, darunter z.B. Paul Levi (1883-1930) und Kurt Rosenfeld (1877-1943).

Interkonfessionelle Zusammenarbeit gegen Ende der Weimarer Republik

In der Weimarer Republik sahen sich Pazifisten fortschreitend repressiven Bedingungen ausgesetzt, woran zuletzt Parteien wie die SPD und das Zentrum eine erhebliche Mitverantwortung trugen. Die Pazifisten gehörten jedoch zu den entschiedensten Kritikern des Antisemitismus und sie forderten - neben einer demokratischen Friedenserziehung - Kompetenzen der Gesellschaft im Sinne des gewaltfreien Widerstandes gegen Unrecht und Unterdrückung. Innerhalb der maßgeblichen Milieus und überhaupt bei den Menschen in Deutschland hätte es ab 1933 wohl weitaus mehr geistige Immunität und Alltagsresistenz wider die faschistische Mörderbande gegeben, wenn die Weimarer Republik ein freundlicherer Ort für Pazifisten gewesen wäre.

Zu den jüdischen Vertretern im pazifistischen Spektrum zählten außerordentlich prominente Persönlichkeiten. Bei den Unterzeichnern des "Manifestes gegen die Wehrpflicht" von 1926 und der Erklärung "Gegen die Wehrpflicht und die militärische Ausbildung der Jugend" von 1930 findet man u.a. Martin Buber, Albert Einstein, Sigmund Freud und Kurt Hiller, außerdem den US-amerikanischen Rabbiner Judah Leon Magnes (1877-1949), Pazifist und ab 1925 Kanzler der Hebräischen Universität in Jerusalem.

Am 19. März 1929 wurde die "Arbeitsgemeinschaft der Konfessionen [!] für den Frieden" gegründet, dem der Friedensbund Deutscher Katholiken (FDK), die Deutsche Vereinigung des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen und der Jüdische Friedensbund angehörten.2 Zur Aufgabenstellung gehörte die "Mitarbeit an der Herbeiführung eines kriegslosen Zustandes". Im Gründungsaufruf, unterzeichnet u.a. von Dr. Leo Baeck (Feldrabbiner im ersten Weltkrieg), Albert Einstein und dem Zentrumspolitiker Friedrich Dessauer, hieß es:

Gestützt auf das Zusammenwirken aller gleichgesinnten Kräfte will die Arbeitsgemeinschaft der Konfessionen zur Schaffung einer allgemeinen Friedensatmosphäre beitragen und durch praktische Arbeit die völkerrechtliche Sicherung eines dauernden Friedens fördern. Dieselben Gedanken und Empfindungen beleben heute die Einsichtigen aller Völker. Die Bekenner der Religionen der Liebe und des Friedens werden einander über die Grenzen hinweg die Hände reichen.

Nach seiner eigentlichen Konstitution stand der Jüdische Friedensbund unter dem Vorsitz von Oscar Wassermann (1869-1934). Ortsvereine werden für Leipzig, Köln, Frankfurt und Hamburg genannt. Es schlossen sich - korporativ - auch andere jüdische Vereinigungen an. Zu den Gründern gehörten der jüdische Friedenstheologe und bekannte Rabbiner Leo Baeck , Albert Einstein sowie weitere Rabbiner und Gemeindevorsteher aus mehreren Orten, darunter Wilhelm Kleemann (1869-1969) aus der Berliner Jüdischen Gemeinde.

In einer Predigt zum Versöhnungstag in der Synagoge zu Bielefeld am 14. Oktober 1929 setzte der friedensbewegte, später in die USA emigrierte Rabbiner Dr. Hans Kronheim dem fatalistischen Weltbild der Bellizisten die Botschaft der Propheten Israels entgegen:

Wir glauben an die Zukunft des Menschengeschlechts, glauben an einen Fortschritt. Wir glauben, dass die Zeit kommen wird, da Gewalt und Unrecht aufhören und an die Stelle der kriegerischen Auseinandersetzung eine friedliche Verständigung der Völker treten wird.

Es gab also eine jüdisch-christliche Ökumene der Pazifisten. Im Zusammenhang mit dem ersten "Juden-Boykott" im April 1933 bat Oscar Wassermann als Vorsitzender des Jüdischen Friedensbundes den Breslauer Kardinal Adolf Bertram später freilich vergebens um ein Wort der deutschen Bischöfe, während sich der alsbald von den Herren Bischöfen fallengelassene und von den Nazis aufgelöste Friedensbund Deutscher Katholiken bei einer Tagung in Düsseldorf am 2.4.1933 mit den drangsalierten jüdischen Geschwistern solidarisierte.3