Judentum und Pazifismus

Seite 3: Die Nazi-Sichtweise: "Pazifismus als Handlanger des Judentums"

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Der NSDAP-Chefideologe Alfred Rosenberg, seit 1921 Hauptschriftleiter des "Völkischen Beobachters", betrachtete den Pazifismus als "Hilfstruppe des Judentums", agitierte gegen eine "jüdisch-demokratisch-pazifistische Presse" und drohte schon während der Weimarer Republik dem "jüdischen Pazifismus" mit Gewalt:

Jeder Deutsche [...] hätte das Recht, wenn der Staat nicht in der Lage ist, die Ehre des Volkes zu wahren, diesem Kurt Tucholsky bei der ersten Begegnung mit einer Hundepeitsche die Meinung zu sagen, bis ihm die Lust zu seinen Unflätigkeiten vergeht.

"Von Anfang an", so Karl Holl, "hatte der Nationalsozialismus den Pazifismus mit Judentum und Demokratie assoziiert".4 Unmittelbar nach der sogenannten Machtergreifung 1933 war deshalb "das Schlimmste für Leib und Leben aller bekannten Vertreter der Friedensbewegung" zu befürchten, besonders gefährdet waren jedoch jüdische Pazifisten (bzw. Pazifisten "mit jüdischer Herkunft").

Holl nennt in diesem Zusammenhang namentlich die international engagierte Gertrud Baer (1890-1981), die Frauenrechtlerin Constanze Hallgarten (1881-1969), Albert Einstein (1879-1955), den Leiter der Republikanischen Beschwerdestelle Alfred Falk, geb. Cohn (1896-1951), den im ersten Weltkrieg zum Pazifisten gewordenen Sozialdemokraten Arnold Freymuth (1872-1933), den Generalsekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte Kurt Richard Grossmann (1897-1972), den DFG-Mitbegründer Adolf Heilberg (1858-1936), den Schriftsteller Kurt Hiller (1885-1972), Magnus Hirschfeld (1868-1935), den "Friedenswarte"-Herausgeber Arnold Kalisch (1882-1956), Hermann Ulrich Kantorowicz (1877-1940), Robert René Kuczynski (1876-1947), den schon bald von den Nazis auf tschechischem Boden ermordeten Theodor Lessing (1872-1933), Ernst Toller (1893-1939) und den Historiker Veit Valentin (1885-1947).

Der Physiker, Verleger und Zentrumspolitiker Friedrich Dessauer (1881-1963), prominenter Vertreter der katholischen Friedensbewegung, kam aus einer ursprünglich jüdischen Industriellenfamilie und wurde wegen "nichtarischer Abstammung" zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Nach monatelanger Inhaftierung emigrierte er 1934.

Parallel zur Bücherverbrennung vom April 1933 riefen die Führer der "Deutschen Studentenschaft" auf zur Denunziation von jüdischen Professoren und "sämtlicher Hochschullehrer, deren wissenschaftliche Methode ihrer liberalen bezw. insbesondere pazifistischen Einstellungen entspricht".

Jüdische Friedens-Theologie und Pazifismus im Zionismus

Die zionistische Bewegung im späten 19. Jahrhundert ist vor dem Hintergrund des in Europa erstarkenden Rassenantisemitismus und der Pogromwelle in Russland von 1881 zu beleuchten. Die Suche nach einer Heimstatt war die Suche nach einem Ort des geschützten Lebens. Ethischer Universalismus, eine von Thomas Nauerth5 über Beispiele im Internet dokumentierte Friedenstheologie und der pazifistische Glaube, dass vom Zion das Heil der Völker in einer Welt ohne Waffen ausgehen werde, sind kennzeichnend für nicht wenige Persönlichkeiten des frühen Zionismus.

Als sich 1918 in Palästina erstmals eine bewaffnete Miliz von jüdischen Siedlern bildete, erinnerte der pazifistische Zionist Aaron David Gordon (1856-1922) die Bewegung in einem Text an das Prophetenwort "... und nimmer werden sie Krieg lernen" und fragte in schierer Verzweiflung über die Anpassung an die Methoden der Rüstungsgläubigen: "Wollen wir wirklich nur ein Volk sein mit der Faust eines Bösewichts, ein Volk von Raubtieren?"

Der Zionist Achad Ha-Am (1856-1927) [Geburtsname Ascher Ginsburg] warnte davor, jemals auf den jüdischen "Vorrang in der Welt der Sittlichkeit zu verzichten" und nahm Stellung gegen die zunehmende Einflussnahme militanter Nationalisten:

Wir können es begreifen - und auch dulden -‚ wenn einzelne Glieder des jüdischen Volkes, hingerissen von dem Ideal des Übermenschen im Sinne Nietzsches und begeistert von der Predigt Zarathustras die Propheten Israels verleugnen und ihr individuelles Leben nach diesen "neuen Tafeln" einzurichten suchen. Aber wir können es nicht begreifen - geschweige denn dulden - wenn wir die seltsame Erscheinung beobachten, dass diese Stürmer die neue Lehre dem jüdischen Volke aufoktroyieren wollen, um durch sie das Leben der gesamten Nation umzuwandeln ...

Der jüdische Pazifist und Zionist Natan Hofshi (1889-1980), im Jahre 1909 aus Polen emigriert, bekannte sich nach dem tödlichen Zusammenstoß zwischen Juden und Arabern am 29. Februar 1920 im obergaliläischen Tel Chai noch entschiedener zur Gewaltfreiheit und sah zeitlebens das "Zeugnis über die Einheit der Menschheit, der völligen Gleichheit aller Menschen als Geschwister und die Heiligkeit des menschlichen Lebens" als die besondere Mission des Judentums an.

Hans Kohn6(1891-1971), Historiker, pazifistischer Zionist und seit 1921 Mitglied der "War Resistersʼ International", schrieb 1928 in seinem Essay "Judentum und Gewalt":

Das Judentum hat den Kampf gekannt, das zähe Ringen um die Schwere der Aufgabe, den Mut, um dieser Aufgabe willen alles zu ertragen, und das Martyrium. Aber es hat den Krieg gehasst, den es seit zwei Jahrtausenden nicht mehr geführt hat, den organisierten Mord, wie jede Gewalttat überhaupt. Jeder Jude trägt in seinem Blute eine instinktive und bis zur Heftigkeit gesteigerte Abneigung gegen rohe Gewalt, Mord und Krieg. Der Heroismus des Krieges, der sportliche Geist des Wettbewerbes sind ihm unverständlich. In talmudischer Zeit wird diese Erkenntnis von der Einheit und Gleichheit des Menschengeschlechtes, von der Würde und Größe jedes einzelnen Menschen immer wieder betont. "Wo immer du die Spur eines Menschen wahrnimmst, dort steht Gott vor dir.

"Brit Schalom" und Martin Bubers "hebräischer Humanismus"

1925 wurde unter Vorsitz des führenden Zionisten Arthur Ruppin der Brit-Shalom (Friedensbund) gegründet, der sich für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Arabern sowie die Gründung eines binationalen jüdisch-palästinensischen Staates einsetzte. Dem Bund, der allerdings nie mehr als 100 Mitglieder zählte, gehörten auch Hans Kohn, Yehoshua Radler-Feldmann (1880-1957) und Robert Weltsch (1891-1982), der Redakteur der "Jüdischen Rundschau", an.

Martin Buber (1878-1965) bei seinem letzten Besuch im Haus kath. Dichtertheologen Joseph Wittig (1869-1949) am 18.1.1937 in Neusorge (Schlesien). (Fotoarchiv Peter Bürger)

Judah Magnes, erster Präsident der Hebräischen Universität in Jerusalem, stand ihm nahe und wirkte für die Ziele des Bundes später in der 1942 gegründeten "Ichud" (Union, Einigung). Vor dem XIV. Zionistenkongress hat Arthur Ruppin die Perspektive eines Zwei-Nationalitäten-Staates in Palästina vorgetragen. Dieser sollte, so Hans Kohn, ein Gemeinwesen sein, "in dem beide Völker ohne Vorherrschaft des einen und ohne Bedrückung des anderen in voller Gleichberechtigung zum Wohle des Landes arbeiten"7.

Es stellt sich die Frage, ob man die folgende, bald nach Gründung des Brit-Shalom von Kohn niedergeschriebene Vision heute als Phantasterei oder als Realismus bezeichnen muss:

Geschichtlich und geographisch ist Palästina ein Land des Friedens. [...] Dies soll auch in seiner äußeren Stellung zum Ausdruck kommen, es soll ein neutrales Land unter dem Schutz des Völkerbundes werden, eine Stätte nationalen und internationalen Friedens, die durch Geschichte und Lage in naher Zukunft auch der Sitz des Völkerbundes sein sollte. [...] Ein im inneren Leben friedliches, prosperierendes und in seiner kulturellen Mehrfältigkeit autonomes Palästina, das, auch nach außen stets neutral, unverletzlich und unbewaffnet, Frieden wahrt und ausstrahlt, kann die erste große Tat des Völkerbundes auf seinem mühsamen Wege zu seiner wahren Form und Aufgabe werden.

Dem für Frieden und binationalen Staat eintretenden Brit-Shalom war zusammen mit Gershom Scholem und dem in Berlin geborenen Philosophen Ernst Akiba Simon (1899-1988) - auch Martin Buber verbunden.8 Buber gehörte wie Chaijim Weizmann, der erste israelische Staatspräsident, zum demokratischen Flügel ("Zionei Zion") der zionistischen Bewegung.

Er hatte zunächst, trotz des frühen Vorbildes seines Lehrers Achad Ha-Am, noch keinen ausgeprägten Sinn für die sogenannte "Araber-Frage". 1917 warnte Buber jedoch vor einem "Hineingezogenwerden in die imperialistische Okzidentalisierung des zukünftigen jüdischen Gemeinwesens", und spätestens seit dem XII. Zionistenkongress (Karlsbad 1921) votierte er für eine sehr weitreichende "Politik der Verständigung mit den Arabern". Mitnichten war seine - über eine neu ausgerichtete jüdische Frömmigkeit entwickelte - Philosophie des Dialoges rein theoretisch oder weltfremd.

Gabriel Stern zufolge hat kein Geringerer als David Ben-Gurion seinen "Freund und Widersacher" Martin Buber als "sehr realistisch und wirklichkeitsnah" beschrieben. Nach Gründung des jüdischen Staates Israel 1948 erklärte Martin Buber als loyaler Zionist:

Wir sind zwar durch das falsche Tor in den Staat eingetreten, aber jetzt besteht der Staat Israel, und wir müssen in seinem Rahmen für die Gleichberechtigung der arabischen Minderheit arbeiten.

Die seit Anfang des 20. Jahrhunderts von Buber und vielen anderen im Rahmen eines Hebräischen Humanismus vorgetragenen Warnungen vor einer Spirale der Gewalt sind Zeugnis eines ausgeprägten Realitätssinns, doch sie wurden nicht gehört.

Hannah Arendt über nationalreligiöse Ideologisierung

Kaum zu übersehen ist, dass der pazifistische Flügel innerhalb des Zionismus sich weithin durch eine - freilich nicht streng orthodoxe - religiöse Grundhaltung ausgezeichnet hat. Von Wladimir Jabotinsky (1880-1940), einem Vertreter der "Zionisten-Revisionisten" und frühen Lehrer von Menachem Begin, behauptet Gabriel Stern hingegen, er sei erklärter Atheist gewesen und habe obendrein erklärt:

Wir Juden haben nichts, aber auch gar nichts, mit dem, was man Orient nennt, gemeinsam.

Die Vertreter seiner Richtung vertraten laut Stern einen "säkularen, später allerdings stark pseudo-messianisch gefärbten Nationalismus" und waren in der Folgezeit offen für das "Bündnis mit einem klerikalen Chauvinismus". Nach dem Massenmord an sechs Millionen Juden in Europa konnten nationalistische "Zionisten-Revisionisten" ihre Linie in beträchtlichem Umfang einbringen. Für den Fall eines Sieges der "Revisionisten" hatte ein Anhänger der Brit-Shalom-Bewegung wie Hans Kohn schon 1929 "jahrelangen Hass, militärische Unterdrückung" und eine "moralische Niederlage des Zionismus" in der Zukunft befürchtet.

Eine scharfe Kritikerin der Instrumentalisierung des Religiösen zu Staatszwecken war die Philosophin Hannah Arendt (1906-1975). Sie berichtete in einem Brief an Gershom [Gerhard] Scholem vom 20. Juli 1963 in folgender Weise9 über ein Gespräch mit der israelischen Außenministerin Golda Meir (1898-1978):

Wir sprachen über die meines Erachtens verhängnisvolle Nicht-Trennung von Religion und Staat in Israel, die sie verteidigte. Dabei sagte sie sinngemäß, ich besinne mich auf den genauen Wortlaut nicht mehr: "Sie werden ja verstehen, dass ich als Sozialistin nicht an Gott glaube, ich glaube an das jüdische Volk." Ich bin der Meinung, dass dies ein furchtbarer Satz ist, und ich habe ihr nicht geantwortet, weil ich zu erschrocken war, aber ich hätte antworten können: Das Großartige dieses Volkes ist es einmal gewesen, an Gott zu glauben, und zwar in einer Weise, in der Gottvertrauen und Liebe zu Gott die Gottesfurcht bei weitem überwog. Und jetzt glaubt dieses Volk nur noch an sich? Was soll daraus werden?

In der jahrtausendealten Tradition des jüdischen Pazifismus, an die ich - keineswegs unabhängig vom "Tagesgeschehen" - mit dieser Spurenlese erinnern wollte, stehen noch immer ungezählte Menschen in Israel und auf der ganzen Welt, darunter viele Partner eines jüdisch-christlichen Dialoges unter friedensbewegtem Vorzeichen, und auch Organisationen wie etwa die "Rabbis for Human Rights", die sich unlängst mit einer Erklärung "On the Right to Self Defense and its Limitations" zu Wort gemeldet haben:

Jewish tradition teaches that not everything is permissible even in the name of self-defense.