Julian Assange: Die Leiche im Keller des Westens

Seite 3: Störung im Selbstbild des Westens

Wir kommen hier vielleicht zum eigentlichen Kern dessen, warum das US-amerikanische Imperium derart aggressiv und feindselig gegen den Australier und WikiLeaks vorgeht, warum auch seine europäischen Partner lieber Stillschweigen über den Fall bewahren und warum wir uns überhaupt so schwertun, über das alles zu sprechen.

Wir tragen alle (die meisten von uns) ein völlig verklärtes Bild des Westens in uns, der USA im Speziellen. Es handelt sich um ein Selbstbild, mit dem wir aufgewachsen sind, zu dem wir erzogen worden sind und das im öffentlichen Diskurs seit den 50er-Jahren eifrig gepflegt wurde und auch immer noch wird. Es ist ein Bild des Westens, das sich erheblich von dem unterscheidet, was in anderen Regionen der Welt über die USA und den Westen gedacht wird, nicht nur in Russland, sondern überall dort, wo der Westen mit seinen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interventionen Unheil angerichtet hat.

Neben diesem idealisierten Selbstbild des Westens gibt es also eine ganz andere Wirklichkeit des Westens, die verborgene Geschichte des Westens, von der wir, die wir im Westen leben, ironischerweise am wenigsten mitbekommen, und die teilweise auch ganz bewusst von uns ferngehalten wird.

"The Untold History of the United States" hat darum der Hollywood-Regisseur Oliver Stone eine zehnteilige Dokumentation genannt, die er zu diesem Thema produziert hat. Es ist eine grundlegend andere Geschichte als das Kindergartenmärchen, das wir sonst immer um die Ohren geschlagen bekommen: ein Märchen, in dem mal der russische Präsident Putin (früher die Sowjets) der Böse ist, dann wieder China, dann der Iran, und überhaupt das Böse an allen möglichen Orten auf der Welt an der Macht ist, aber sicherlich nicht in den USA und auch nicht in Europa. Die retten uns dann vor dem bösen Putin, dem bösen China und dem bösen Iran ("Schurkenstaaten") und bringen überall auf der Welt Menschenrechte und Demokratie hin.

Sicherlich, das Phänomen Trump beispielsweise stellte eine erhebliche Irritation für dieses infantile Micky-Maus-Weltbild dar, ebenso die rechtspopulistischen Regierungen Osteuropas. Aber andererseits hatte man auch kein allzu großes Problem damit. Der US-Präsident wurde als durchgeknalltes psychopathisches Individuum abgetan, anstatt dass man ihn als ungewöhnlich authentischen Ausdruck eines in vielerlei Hinsicht perversen US-amerikanischen gesellschaftlichen und politischen Systems begriffen hat, das eine solche Persönlichkeit hervorgebracht hat.

Und die osteuropäischen Regierungspolitiker werden eben schlichtweg nicht als "richtige" Europäer betrachtet. Jedenfalls sind sie nicht "wir". Denn "wir", das heißt, der Westen, "wir" sind grundsätzlich immer die Guten, die Demokraten, die Liberalen, das Böse aber ist immer woanders, in dem "Nicht-Wir".

Natürlich gibt es vieles, was auch bei "uns" nicht in Ordnung ist, was auch bei "uns" kritisiert werden darf, aber im Großen und Ganzen stimmt alles bei "uns", anders als woanders auf der Welt. Das ist das Narrativ, das mehr oder weniger alle, die im Westen aufgewachsen sind, von klein auf gelernt und internalisiert haben. Das kenne ich zur Genüge, weil es mich auch selbst betrifft.

Assange aber hat mitten in das Herz dieses verklärten, idealisierten und heuchlerischen Selbstbildes des Westens gezielt. Er hat offengelegt, wie sehr es auf Lügen gebaut ist und in welchem Ausmaß das Böse gerade an den Schaltstellen des Westens zu Hause ist.

Er hat sich mit den Mächtigen angelegt. Das haben zwar auch schon andere vorher getan, aber er war dabei so erfolgreich wie kein Zweiter, aufgrund seiner Vernetzung mit führenden Massenmedien und einer genialen Idee: einer Informationsaustauschplattform namens WikiLeaks. Er hat damit das herrschende Narrativ ernsthaft gestört und durchbrochen. Das, was er veröffentlicht hat, darf schlicht nicht veröffentlicht werden. So etwas geht nicht.

Hier löst sich auch das Rätsel, wieso die europäische Politik im Falle Assanges ganz anders reagiert als beim vom Kreml verfolgten Politiker Alexej Nawalny. In vielerlei Hinsicht sind die beiden Fälle vergleichbar. Obwohl es im Unterschied zu Nawalny bei Assange – bislang – zu keinem Giftanschlag kam, schmiedete der amerikanische Geheimdienst bereits konkrete Plane für genau einen solchen Schritt. Nawalny und Assange sind somit in gewisser Hinsicht Spiegelbilder, der eine ein Opfer der US-Amerikaner, der andere eins der Russen.

Und trotzdem, wie unterschiedlich ist der Umgang der europäischen Politik mit den beiden Rebellen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel höchstpersönlich eilt öffentlichkeitswirksam ans Krankenbett Nawalnys, und er wird zu einem bedeutsamen russischen Oppositionellen hochstilisiert, der sich heldenhaft gegen Putin stellt.

Und das, obwohl er – was gerne unter den Tisch fallen gelassen wird – eine fragwürdige Gestalt ist, mit Wurzeln im ultranationalistischen und rechtsextremistischen Milieu. In einem Video hat er schon mal Moslems sehr anschaulich als Kakerlaken dargestellt, die er mit der Fliegenklatsche erschlägt oder gar mit der Pistole erledigt.

Seinetwegen – angeblich seinetwegen, das müssen ja nicht die wahren Gründe sein – werden sogar Sanktionen gegen Russland verhängt. Wenn Melzer aber bei den zuständigen Stellen der deutschen Bundesregierung für Assange zu intervenieren versucht und ruhig und sachlich handfeste Beweise für die schweren Menschenrechtsverletzungen an diesem vorlegt, stößt er auf taube Ohren.

Der Fall interessiert dort keinen, oder mehr noch: damit will niemand etwas zu tun haben. Das ist zu heikel, daran will keiner rühren. Von irgendwelchen Sanktionen gegen die USA oder Großbritannien natürlich ganz zu schweigen.

Wir haben es hier einfach mit einem Bereich zu tun, in dem der Rechtsstaat und Menschenrechte nichts mehr zählen, erklärt sich das Melzer. Niemals werden sich westliche Regierungspolitiker auf die Seite Assanges stellen. Melzer legt auch dar, warum das so ist: Deren Geheimdienste sind alle untereinander verflochten, sie arbeiten eng miteinander zusammen, und was gegen die USA geht, geht daher gegen sie alle. Keiner von denen hat ein Interesse daran, dass da einer wie Assange etwas über sie zutage fördert. Man müsse realistisch sein, sagt Melzer: Es sei eine Illusion zu glauben, die Regierungspolitiker würden sich aus Rücksichtnahme auf die Menschenrechte gegen ihre Geheimdienste stellen.

Ich drücke es ein wenig anders aus: Assange musste aus dem Weg geräumt werden, weil er das grundlegende Narrativ zu zerstören drohte, welches das Machtfundament der westlichen Gesellschaften darstellt.

Ein Familiengeheimnis

Ich würde es gerne auch ein wenig philosophisch formulieren. Das Drama um Assange ist Ausdruck einer Gesellschaft, die ihr eigenes Anderes nicht kennt – und nicht kennen will. Die das Böse immer in ein absolut anderes projizieren muss, mit dem sie nichts gemeinsam hat. Zumindest muss sie vorgeben, dass sie nichts damit gemeinsam hat. So ähnlich wie in der Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde.

Das spiegelt sich in dem, was nach dem 9/11-Anschlag 2001 Bush klipp und klar gesagt hat wider: Alle in der Welt sollen wissen, entweder ihr steht auf unserer Seite, oder aber auf jener der Terroristen. Etwas Drittes schloss er damit diktatorisch aus, ebenso wie er nicht die Denkmöglichkeit zuließ, dass er selbst ein Terrorist sein könnte.

Mit dem derzeitigen Schweigen zu Assange verhält es sich nicht viel anders als mit einem wohl gehüteten Familiengeheimnis. Jeder weiß, was Sache ist, aber niemand redet darüber. Er aber hat begonnen über Dinge zu sprechen, von denen man normalerweise nicht spricht. Von den Leichen im Keller. Und zwar, und darin liegt der Skandal, von den Leichen in unserem eigenen Keller, nicht in dem der anderen.

Er hat zu reden begonnen, und er hat damit den schönen Schein zerstört. Oder es drohte, dass das geschah. Bevor das wirklich geschah, hat man aus ihm selbst eine Leiche im Keller gemacht. Eine Leiche im Keller des Westens.