"Käme jemand suchen?"
Vom Verschwinden - ein Film und eine Website über schalltote Räume in der modernen Großstadt
2006 machten mehrere Beamte der Wohnungsbehörde des Londoner Stadtteils Wood Green eine bestürzende Entdeckung. In einer Ein-Zimmer-Sozialwohnung, deren Miete zu lange nicht bezahlt worden war, fanden sie eine völlig skelettierte Leiche.
So etwas kommt immer wieder vor, in allen modernen Großstädten, auch in Deutschland. Das Besondere an diesem Fall aber war, dass die Leiche von Joyce Vincent seit drei Jahren unentdeckt in ihrer Wohnung gelegen war. Sie war umgeben von Weihnachtsgeschenken, die für Weihnachten 2003 bestimmt gewesen waren. Der Fernseher lief, als die Angestellten der Wohnungsbehörde die Wohnung betraten. Er hatte seine Besitzerin um drei Jahre "überlebt".
Die genaue Todesursache war nicht mehr feststellbar. Der Fall sorgte eine Weile für Aufsehen in der Presse, dann verschwand er wieder in der Versenkung. Das blieb so, bis es die Filmemacherin Carol Morley ein wenig genauer wissen wollte.
Sie versuchte herausfinden, wer Joyce Vincent gewesen war. Die Verstorbene hatte keine der typischen Risikofaktoren für das unbemerkte Verschwinden in der modernen Großstadt aufgewiesen. Sie war weder alt gewesen, noch drogen- oder alkoholabhängig; die meiste Zeit ihres Erwachsenenlebens hatte sie durchaus in finanziell angenehmen Verhältnissen verbracht. Beruflich war sie eine Zeit lang mehr als erfolgreich gewesen (als leitende Angestellte bei Ernst & Young). Sie war körperlich attraktiv gewesen, ja, die Männer hatten sie regelrecht umschwärmt.
Eine Zeit lang hatte sie Sängerin werden wollen, das Talent war offensichtlich da, zu Probeaufnahmen in einem professionellen Studio war es gekommen. Frühere Freunde und Partner, die Carol Morley auftrieb und für ihren Film interviewen konnte, beschrieben sie aber als unstet. Sie zog schon zu ihren Glanzzeiten so häufig um, dass es für ihre Freunde schwierig war, die Daten in ihren Adressbüchern aktuell zu halten.
Kurz nachdem sie bei Ernst & Young überraschend gekündigt hatte, ging etwas gründlich schief in ihrem Leben. Das Letzte, was sich verlässlich über sie herausfinden ließ: Sie hatte sich für eine Zeit lang in ein Frauenhaus geflüchtet, anscheinend, um Gewalt in der Partnerschaft entgehen. Danach verschwand sie so nachdrücklich vom Radarschirm, dass nicht einmal ihre Schwestern (vier an der Zahl) je wieder lebend von ihr hörten.
Natürlich sind es die Rätsel an diesem Fall, die Lücken in der Geschichte, die faszinieren. Für wen waren die Geschenke bestimmt, die sie einpackte, wenn sie so allein war, dass ihr Tod drei Jahre unentdeckt blieb? Warum wurden drei Jahre lang Strom und Heizung weiter bedient, ohne dass überhaupt Miete einging?
"Wenn du sozial abstürzen würdest - könnte es sein, dass auch du dich bis zur völligen Selbstisolation schämst?"
Wenigstens eine Merkwürdigkeit ist geklärt: Unter dem Fenster von Joyce Vincent befand sich der Stellplatz für die Mülltonnen, so dass der Gestank ihres Verrottens niemandem seltsam genug vorkam, um genauer nachzusehen. Keine Frage, es muss einiges zusammengekommen sein. Eine Einzelne und die Gesellschaft haben einander so lange den Rücken zugedreht, bis die Einzelne nicht mehr war. Der Film widmet sich dem unwahrscheinlichen, aber realen Zusammenkommen außergewöhnlicher Umstände, das die grausame Banalität von Joyce Vincents Verschwinden möglich machte.
Aber, wie Carol Morley deutlich macht, ist ihr Hauptanliegen nicht die Kriminalistik, sondern die Vergegenwärtigung. Kriminalistik ist immer gut, wenn man sich von den besonderen Umständen eines sprachlos machenden Vorgangs distanzieren will. Erzählen zu können, wie es wirklich war, macht die Sache leichter. Die im Film eingefangene Sprachlosigkeit der drei Behördenangestellten, die Joyce Vincent letztlich fanden, ruft nach Auskünften, zu denen das Publikum letztendlich sagen kann: "Ja, ja, so war das also."
Morley und ihre Produktionsfirma dogwoof versuchen diesen einfachen Ausweg zu versperren, indem begleitend zu dem Film eine Website angeboten wird, die, natürlich, einerseits Marketing für den Film betreiben, andererseits aber auch sein zentrales Thema auf eine andere Weise vergegenwärtigen soll. Es steckt schon im Titel: "Dreams Of Your Life" dreht den Spieß um, und stellt dem potenziellen, an Kriminalistik interessierten Kinogänger sehr direkt und konkret die Fragen, die das Verschwinden von Joyce Vincent im allgemeinen stellt.
"Wer bist du?"
"Hast du Freunde?"
"Wenn du sozial abstürzen würdest - könnte es sein, dass auch du dich bis zur völligen Selbstisolation schämst?"
"Wie lange würde es dauern, bis man dich findet?"
"Käme jemand suchen?"
"Bist du sicher?"
Die schottische Autorin A.L. Kennedy hat einen Textparcours geschaffen, der den Nutzer mit einer scheinbaren Leichtigkeit zu diesen Fragen hinführt - man denkt sich zunächst nicht viel, bis man doch ins Schwitzen kommt. Die dazugehörigen Fotografien von Lottie Davis sind ebenso nachdrücklich-unaufdringlich wie der Text; beides geht eine wirkungsvolle Verbindung ein. Schon die Arbeitsweise von Lottie Davis in sich ist interessant - es lohnt sich, nachzulesen, wie sie die Illusion geschaffen hat, der Nutzer wohne einem Zeitraffer-Daumenkino zum jahreszeitlich wechselnden Blick aus immer demselben Fenster bei.
Die hypnotisch-morbide Wirkung, die vom leisen Aufzählen grauenhafter Möglichkeiten ausgeht, ist gleichzeitig die größte Stärke und Schwäche der Website. Zwar verfehlt sie ihre kurzfristige Wirkung nicht, letztlich erlaubt sie dem Nutzer es aber doch, sich wie in einem Spiel zu fühlen. Trotzdem kann man den Versuch loben, mit "Dreams Of Your Life" über die üblichen, immer langweiliger und vorhersehbarer werdenden Strategien zur Aufmerksamkeitserzeugung für einen Film hinauszugehen. In Großbritannien läuft er schon; ob er je nach Deutschland kommt, ist die Frage.