Kann Bildung die soziale Mobilität erhöhen?

In Großbritannien hat nach einer Studie der Ausbau des Bildungssystems vor allem die reichen Schichten begünstigt und die soziale Mobilität reduziert

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In Großbritannien wie anderen Ländern wurde der Bildungssektor in den letzten Jahrzehnten deutlich ausgebaut. Sehr viel mehr Menschen besuchen heute eine Universität und machen einen akademischen Abschluss, was in aller Regel dazu führt, dass sie auch in besser bezahlte Jobs gelangen. 1981 hatten noch 58 Prozent der Menschen im Arbeitsalter (26-60) keine Qualifikationen und nur 5 Prozent einen Hochschulabschluss, 2011 hatten 31 Prozent einen Hochschulabschluss und nur 5 Prozent gar keinen qualifizierten Schulabschluss. In derselben Zeit ist die große Kluft zwischen Frauen und Männern verschwunden.

Mehr Menschen haben höhere Ausbildungsabschlüsse, gleichzeitig ist das Einkommen der gut Gebildeten stärker als das der weniger Gebildeten gestiegen. Eigentlich sollte man annehmen, dass durch Ausbau der schulischen und universitären Bildung auch die soziale Mobilität verstärkt wurde, also dass mehr Menschen aus den unteren sozialen Schichten eine höhere Bildung erhalten. Zumindest gilt die Bildung gemeinhin als eine entscheidende Möglichkeit, die soziale Kluft zu schmälern und einen Aufstieg zu ermöglichen.

Nach einem Bericht in der vom Institute of Fiscal Studies herausgegebenen Zeitschrift Fiscal Studies hat der Ausbau des Bildungsbereichs allerdings in Großbritannien dazu geführt, dass die soziale Mobilität geringer und die soziale Ungleichheit größer wurde. Zumindest hat sich gezeigt, dass der Ausbau des Bildungssystems kein Mittel war, um die soziale Mobilität zu vergrößern und die soziale Ungleichheit zu mindern. Das könnte auch eine Folge der in Großbritannien besonders abgeschotteten sozialen Schichten sein. Mehr als in anderen europäischen Ländern ist der Familienhintergrund ein Gradmesser für den Erfolg oder eben auch für das Verbleiben in der sozialen Schicht, in die man hineingeboren wurde. Nach der PISA-Studie 2009 liegen die besten, aber ärmsten 15-Jährigen durchschnittlich zwei Jahre hinter den besten und aus den reichsten Schichten stammenden Schülern. Die Kluft ist doppelt so groß wie in einigen anderen Ländern, so eine andere, in derselben Zeitschrift erschienene Studie. Verstärkt werden könnte die Tendenz durch die Verdreifachung der Studiengebühren, die dieses Jahr angesichts der Wirtschaftskrise eingeführt wurden, auch wenn nach Berechnungen möglicherweis die Ärmsten, wenn es um das Lebenseinkommen geht, durch die Reform stärker begünstigt werden könnten, während die Reichsten mehr fürs Studium bezahlen müssten, was aber noch nichts über die soziale Mobilität sagt.

Die reichen Schichten profitieren vom Ausbau des Bildungssystems am meisten

Für die Studie verglichen die Ökonomen Steve Machin und Joanne Lindley von der University of Sussex und der University College London eine Kohorte von Kindern, die 1958 geboren wurden, mit dem Jahrgang 1970. In Betracht gezogen wurden das Familieneinkommen und der Bildungsweg. Allgemein haben die Menschen aus den reicheren Familien mehr höhere Bildungsabshchlüsse. Unter den 1958 Geborenen erlangten 9 Prozent der Menschen in den ärmsten 20 Prozent der Familien einen Hochschulabschluss, 12 Prozent aus der Mittelschicht und 28 Prozent aus den Familien der reichsten 20 Prozent. Ohne Schulabschlüsse blieben bei den Ärmsten 14 Prozent, bei den Reichsten 4 Prozent. Beim untersten Quintil stieg in der Generation der 1970 Geborenen der Anteil derjenigen mit einem Hochschulabschluss mit 10 Prozent nur geringfügig, im höchsten Quintil erlangten jedoch 37 Prozent einen Hochschulabschluss.

Das bedeutet, dass sich die Kluft vertieft und vor allem die reicheren Schichten vom Ausbau des Bildungssystems profitierten. Die Bildungsungleichheit hat sich also deutlich verstärkt, wobei die Autoren unterstellen, dass sich seitdem keine großen Veränderungen ergeben haben werden. Und weil die Einkommen der Menschen mit einem Hochschulabschluss auch schneller gestiegen sind, ist die soziale Mobilität geringer geworden.

Nachdem allerdings in den letzten Jahren auch die Gehälter für diejenigen mit einem Hochschulabschluss nicht weiter gestiegen sind, drängen mehr Studenten dazu, höhere Abschlüsse (Master, Promotion) zu erhalten, was die Bildungsungleichheit weiter verstärkt, da dadurch die Menschen aus reichen Familien disproportional begünstigt werden. So ist der Anteil der Menschen aus dem ärmsten Quintil von 2 Prozent bei der 1958er Kohorte auf 3 Prozent bei der 1970er Kohorte gestiegen, beim reichsten Quintil aber von 8 auf 13 Prozent.

Kinder aus reichen Familien erzielen relativ deutlich mehr Universitätsabschlüsse als Kinder aus ärmeren Familien. Und weil höhere Bildung auch entsprechend höhere Einkommen zur Folge hat, sieht es mit Chancengleichheit in der Bildung schlechter als früher aus: "Es sind die Menschen aus den bereits reichen Familien", so die Autoren, "die zunehmend höhere Einkommen im Arbeitsmarkt von ihren höheren Qualifikationen erhalten." Die Bildungskluft zwischen Männern und Frauen ist weitgehend abgetragen worden. Wenn man davon ausgeht, dass Männer und Frauen eher mit Partnern aus derselben Schicht Beziehungen eingehen, so könnte dies die soziale Ungleichheit weiter stärken, fürchten die Autoren. Und weil Frauen schneller Qualifikationen als Männer erwerben, könnte mit der wachsenden Ungleichheit im Hinblick auf Bildung eine Kluft zwischen Frauen und Männern entstehen: Frauen lassen Männer, "besonders am Ende der Bildungsverteilung zurück, wo die Aussichten und Möglichkeiten im Arbeitsmarkt sich verschlechtert haben".

In der Krise scheinen sich mehr junge Menschen eine längere Bildung nicht mehr leisten zu können oder sie erwarten nicht, dass sie dadurch Vorteile haben. So ist der Anteil der Über-16-Jährigen erstmals seit 2011 gesunken, die weiter in der Schule bleiben, während die Neets, die nicht in Ausbildung sind, nicht arbeiten und kein Praktikum absolvieren, um 8 Prozent angestiegen ist. 2011 waren 70,5 Prozent dieser Altersgruppe in der Schule, 2010 waren es noch 70,6 Prozent, also immerhin 32.000 Schüler mehr. Ab dem nächsten Jahr wird das schulfpflichtige Alter jedoch auf 17 Jahre und 2015 auf 18 Jahre angehoben.