Kaschmir und das IS-Kalifat

Karte: CIA

Seit Bestehen hat der IS schon mehrere Regionen für sich beansprucht. Nun fällt mit Kaschmir der Blick auf einen weiteren Konfliktherd

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Der sogenannte Islamische Staat (IS) hat bereits seit seiner Etablierung mehrere Gebiete der Welt, hauptsächlich im Nahen Osten, Nordafrika sowie Zentralasien, für sich beansprucht. In vielen dieser Regionen lassen sich mittlerweile extremistische Gruppierungen finden, die IS-Führer Abu Bakr al Baghdadi die Treue geschworen haben. Mit Kaschmir ist nun ein weiteres Gebiet in den Fokus der Extremisten gerückt. Für die ohnehin schon unruhige Region könnte dies verheerende Folgen haben.

Jüngsten Berichten der "Times of India" zufolge hat der IS ein Interesse daran, sein selbsternanntes Kalifat um die Region Kaschmir zu erweitern. Kaschmir würde dadurch in die "Provinz Khorasan" fallen. Die Enklave wurde im vergangenen Jahr seitens des IS offiziell anerkannt und soll weite Teile Zentral- und Südasiens umfassen. Da der IS die Idee des Nationalstaates ablehnt, würde er nicht nur mit Indien, sondern auch mit Pakistan, welches sich als islamische Republik versteht, in Konflikt kommen.

Konkret stützen sich die Berichte auf Angaben der indischen National Investigation Agency (NIA), einer inländischen Anti-Terror-Behörde. Diese wiederum bezieht sich auf ausgewertete Überwachungsdaten von IS-Mitgliedern aus mehreren verschiedenen Staaten einschließlich Indiens. In den indischen Medien fand die Nachricht um eine mögliche IS-Gefahr ein breites Echo.

Rache für getötete Muslime

Erst vor kurzem wandte sich der IS direkt an die Muslime in Indien. In der Botschaft hieß es unter anderem, dass man die Opfer in Kaschmir sowie jene der Gujarat-Progrome rächen wolle.

2002 kam es in der Provinz Gujarat zu Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen. Mindestens 1.000 Menschen, mehrheitlich Muslime, wurden dabei getötet. Narendra Modi, Indiens gegenwärtiger Premierminister, war zum damaligen Zeitpunkt Gouverneur der Provinz. Bis zum heutigen Tage wird ihm vorgeworfen, dass Massaker an der muslimischen Minderheit toleriert zu haben.

Unabhängig davon verkündete der IS bereits Anfang 2016 in seinem regelmäßig erscheinenden Magazin "Dabiq", dass Kämpfer in der von Indien besetzten Region Jammu und Kaschmir dem Kalifat die Treue geschworen hätten.

Seit über einem halben Jahrhundert gilt Kaschmir als Unruheherd. Das Gebiet wird sowohl von Indien und Pakistan als auch von der Volksrepublik China beansprucht. Dominiert wurde der Konflikt in den letzten Jahrzehnten jedoch hauptsächlich von Neu-Delhi und Islamabad. Vor allem in Jammu und Kaschmir kommt es immer wieder zu Ausschreitungen.

Zahlreiche Menschenrechtsverletzungen

Im vergangenen Jahr veröffentlichten Menschenrechtsorganisationen aus Jammu und Kaschmir einen 800-Seiten langen Bericht, der zahlreiche Menschenrechtsverletzungen seitens der indischen Armee deutlich macht. Laut dem Bericht wurden allein in den letzten zwei Jahrzehnten mindestens 1.080 Menschen gezielt getötet, während mindestens 172 Personen verschwanden. Außerdem wurden zahlreiche Fälle von Folter und Vergewaltigungen dokumentiert. 972 mutmaßliche Täter konnten identifiziert werden.

Von der indischen Regierung werden derartige Berichte jedoch stets ignoriert. Da seitens Neu-Delhi in Jammu und Kaschmir der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, ist die dort stationierte Armee mit Sonderbefugnissen ausgestattet. Bis heute wurde kein einziges Mitglied der Sicherheitskräfte aufgrund von Menschenrechtsverletzungen vor einem Zivilgericht gestellt. Die fehlende Strafverfolgung hat im Gegenzug zahlreiche weitere Missbrauche ermöglicht, meint etwa Minar Pimple, Abteilungsdirektor bei Amnesty International.

Andere Menschenrechtsorganisationen teilen diese Meinung und berichteten wiederholt von einer Straffreiheit der Armee. "Die Regierung verhält sich seit langem nachsichtig gegenüber den Belangen der Armee und ihrer Strafmündigkeit. Immer wieder wurden die Forderungen von offiziellen Kommissionen, der Vereinten Nationen sowie vieler besorgter Bürger ignoriert", meint Meenakshi Ganguly, Südasien-Vorsitzende von Human Rights Watch.

"Es gibt wenig Hoffnung"

Dass Indiens repressive Politik in der hauptsächlich von Muslimen bewohnten Region dauerhaft keinen Frieden bringen wird, war für viele Beobachter schon früh offensichtlich. Die staatliche Gewalt sowie das Desinteresse am Leid der Bevölkerung öffnete ein politisches Vakuum, welches zunehmend von Widerstandsmilizen und extremistischen Gruppierungen gefüllt wurde. Dieses Vakuum könnte nun auch der IS füllen.

"Unglücklicherweise ist Kaschmir reif für den IS", meint Bruce Riedel, ehemaliger CIA-Angehöriger und einstiger Berater der US-Regierung. "Das Problem stagniert seit Jahren. Die Region hat eine lange Geschichte der Gewalt", betont Riedel, der sich seit Jahren auf Südasien fokussiert und mittlerweile für die Brookings Institution, einer in Washington D.C. ansässigen Denkfabrik, tätig ist. "Es gibt nur wenig Hoffnung", so Riedels.

In Konflikt könnte der IS dabei mit anderen Gruppierungen vor Ort kommen. Syed Ali Shah Geelani, ein prominenter Separatistenführer, betonte etwa, dass der IS keinen Platz und Einfluss in Kaschmir habe. "Derartige Behauptungen nutzen nur Indien, das weiterhin versucht, den aufrichtigen Unabhängigkeitskampf der Menschen in Kaschmir zu diffamieren", so Shah, der unter anderem auch Gründer der Tehreek-e-Hurriyat ist - einer politischen Partei, die sich für die Unabhängigkeit von Jammu und Kaschmir einsetzt.

Unterschiedliche Ziele

Eine ähnliche Meinung teilt der pakistanisch-amerikanische Politikwissenschaftler und Südasien-Kenner Hassan Abbas. "Ich denke, dass die Wahrscheinlichkeit des IS-Einflusses auf militante Kämpfer in Kaschmir sehr gering ist. Die Natur der Militanz in diesem Konflikt hat hierfür einfach zu unterschiedliche Dynamiken", so Abbas.

In Jammu und Kaschmir wurden in den letzten zwei Jahrzehnten mindestens 60.000 Menschen getötet. Im Laufe dieses Zeitraums haben sich die verschiedenen Separatisten-Bewegungen zunehmend in religiöse und nationalistisch gesinnte aufgeteilt und verfolgen teils völlig unterschiedliche Ziele. Während die eine Seite etwa eine vollständige Unabhängigkeit anstrebt, zieht die andere Seite einen Anschluss an Pakistan vor.