Keine Einbahnstraße: Stammzellen können durch Dedifferenzierung auch aus Körperzellen entstehen

Auch Gewebezellen können fehlende Stammzellen in Lunge und Magen ersetzen - ohne künstliche Reprogrammierung

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Stammzellen bringen Gewebezellen hervor, aber niemals umgekehrt - dieses Dogma der Zellbiologie wurde bereits vor einigen Jahren durch Laborexperimente widerlegt. Neue Studien zeigen nun, dass es auch unter natürlichen Bedingungen nicht zwingend gilt: Spezialisierte Gewebezellen in Lunge und Magen können die gleiche Funktion erfüllen wie Stammzellen - oder sich sogar in Stammzellen umwandeln. Diese Erkenntnisse stützen einen Ansatz der regenerativen Medizin, der vor allem auf die Selbstheilungskräfte von körpereigenen Zellen setzt.

Die Stammzellen des menschlichen Körpers produzieren täglich Milliarden von Zellen, die bei der Reparatur von Geweben oder der Heilung von Verletzungen zum Einsatz kommen. Forscher glaubten bis jetzt, dass dabei eine klare Arbeitsteilung herrscht: Stammzellen konzentrieren sich auf die Vermehrung, Gewebezellen auf ihre Funktion in den jeweiligen Organen. Die Entwicklung (oder Differenzierung) von Stammzellen zu Gewebezellen galt als Einbahnstraße.

Dass dies nicht immer gilt, zeigten die Versuche des Nobelpreisträgers Shinya Yamanaka: Er programmierte menschliche Gewebezellen in pluripotente Stammzellen um und gab ihnen so ihr unbeschränktes Entwicklungspotenzial zurück. Voraussetzung dafür waren jedoch genetischen Manipulationen im Labor, auf vergleichbare Prozesse im lebenden Körper fehlte jeder Hinweis. Diese Hinweise wurden jetzt durch neuere Studien nachgeliefert. Zwei unabhängige Forschergruppen stellten eine grundsätzliche Frage: Was passiert mit einem Gewebe, wenn die Stammzellen nicht mehr da sind? Sie führten Experimente mit Mäusen durch und wählten dabei mit Lunge und Magen zwei Organe, die starkem Verschleiß ausgesetzt sind und ständig Nachschub von frischen Zellen benötigen. Als die Forscher die Stammzellen mit speziellen Toxinen entfernten, passierte etwas Unerwartetes: Spezialisierte Gewebezellen sprangen für die Stammzellen ein und reparierten auftretende Schäden. Die Stammzellen waren ersetzbar - die Gewebe verfügten offenkundig über eine stille Reserve.

Diese Reserve-Stammzellen unterschieden sich aber deutlich in ihrer Identität und Funktion. In der Lunge beobachteten US-amerikanische Forscher um Jayaraj Rajagopal (Tata et al., Nature, November 2013: Dedifferentiation of committed epithelial cells into stem cells in vivo), dass eine besondere Gruppe von sekretorischen Zellen die Reparatur des Gewebes übernahm. Diese sogenannten Clara-Zellen übernahmen nicht nur die Funktion der Stammzellen, sie wandelten sich dabei komplett um und waren von den ursprünglichen Stammzellen nicht mehr zu unterscheiden. Damit wurde erstmals in Säugetieren eine umgekehrte Entwicklung (oder Dedifferenzierung) nachgewiesen - Stammzellen entstanden aus Gewebezellen.

Magenzellen handeln wie Stammzellen und entwickelten einen Miniaturmagen. Bild: Cell

Im Magen jedoch stieß eine niederländische Forschergruppe um Hans Clevers auf ein anderes Phänomen (Stange et al., Cell, Oktober 2013 Differentiated troy(+) chief cells act as reserve stem cells to generate all lineages of the stomach epithelium). Dort erfüllte eine kleine Gruppe von Hauptzellen in der Magenschleimhaut sämtliche Funktionen von multipotenten Stammzellen: Sie ermöglichten die Regeneration von unterschiedlichen Gewebezellen und entwickelten sich in der Petrischale zu einem Magen im Miniaturmaßstab - einem sogenannten Organoid. Dennoch behielten diese Hauptzellen bis zuletzt alle Merkmale einer differenzierten Zelle bei - sie wandelten sich nicht um, sondern waren anscheinend Stamm- und Gewebezelle zugleich.

Flexible Selbstorginasation

Das höchst ungewöhnliche Verhalten dieser Zellen stellt einiges in Frage, was bislang in der Zellbiologie als gesichert galt. Die gerichtete Entwicklung von Stamm- zu Gewebezelle bleibt weiterhin der Hauptweg, aber sie ist keine Einbahnstraße mehr. Und eine strikte Trennung zwischen diesen Zelltypen scheint auch nicht zu existieren. Die Differenzierung von Zellen stellt sich als ein flexibler Prozess heraus, auch im lebenden Tier.

Diese Studien beleuchten auch einen Vorgang, der zuletzt ins Zentrum des Interesses rückte - die Selbst-Organisation der Gewebe. Entwicklung und Reparatur von Organen scheinen nicht durch einen starren genetischen Bauplan festgelegt, sondern entstehen aus dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Zellen. Und auch diese Selbst-Organisation ist höchst flexibel: Wenn - wie in den beiden Studien - die Stammzellen ausfallen, übernehmen andere Zellen ihre Funktion und garantieren den Fortbestand des Gewebes.

Bei Salamandern und anderen Tiere kannte man dieses Phänomen schon länger, dort trägt es zur Selbstheilung der Gewebe bei - Schäden in Auge und Herz können so repariert werden. Wenn es sich bestätigt, dass auch beim Menschen vergleichbare Prozesse stattfinden, eröffnet dies neue Möglichkeiten auf einem alternativen Feld der regenerativen Medizin. Bevor wieder die Spekulationen ins Kraut schießen - das Nachwachsen von amputierten menschlichen Gliedmaßen bleibt eine unerreichbare Utopie. Doch für begrenzte Gewebeschäden werden derartige Ansätze ernsthaft diskutiert.

Bis jetzt beruhen Stammzelltherapien vor allem auf der Transplantation von Zellen, die entweder von fremden Spendern stammen oder außerhalb des Körpers vermehrt wurden. Dieser Ansatz bringt eine Reihe von Problemen mit sich: Die Zahl der Spender ist begrenzt, die Kosten sind immens hoch, Abstoßungsreaktionen und erhöhtes Krebsrisiko gefährden den Patienten. Die Probleme könnten umgangen werden, wenn man stattdessen die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert - sei es durch die Mobilisierung von Stammzellen oder durch die Dedifferenzierung von Gewebezellen.

Doch welche Signale schalten diese Selbstheilungskräfte an? Die Antwort auf diese Frage ist von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der alternativen Stammzelltherapien. Die beiden Studien werfen ein neues Licht auf diese Vorgänge, und vielleicht ermöglichen sie auch irgendwann die Identifizierung der selbstheilenden Signale.