Keine Einheit in der Krise

Ein EU-"Konjunkturprogramm" folgt derzeit auf das andere. Doch die Widerstände gegen strukturelle Änderungen sind groß

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In Brüssel und in den Hauptstädten der EU-Mitgliedsstaaten gibt man sich derzeit der Hoffnung hin, dass große Zahlen beruhigen. 200 Milliarden Euro hat die EU bereits im November vergangenen Jahres zur Verfügung gestellt, um die Folgen der Weltwirtschaftskrise einzudämmen und die Konjunktur anzukurbeln.

50 Milliarden Euro stellt die deutsche Regierung zuletzt für den hiesigen Markt zur Verfügung – soviel wie nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte, Rund 24 Milliarden Euro schwer ist das "Konjunkturprogramm" in Großbritannien. In Frankreich sind es 26 Milliarden, in Spanien elf Milliarden und in Italien bislang 2,4 Milliarden Euro. Doch strukturell oder gar am System soll sich nichts ändern. Während die EU-Führung auf den so genannten Stabilitätspakt beharrt, treffen sich kommende Woche in Brüssel neoliberale Mitglieder des EU-Parlaments, um Einfluss auf die laufende Reformdebatte zu nehmen.

Die Ziele sind überall gleich: die Massenarbeitslosigkeit soll verhindert und soziale Folgen der Krise für die Menschen abgeschwächt werden. In Großbritannien machte die Regierung ihren Bürgern deswegen "Steuergeschenke" und senkte die Mehrwertsteuer von 17,5 auf 15 Prozent. In Frankreich werden die Milliarden-Hilfsgelder vor allem in den Wohnungsbau gesteckt, ebenso in Spanien. In Italien und anderen Staaten der EU werden private "Konsumschecks" an Familien ausgegeben. Kurzum: Es wird staatliches Geld verschenkt, um den privaten Verbrauch und damit die Wirtschaft zu fördern.

Länderübergreifend ist die Autoindustrie das Sorgenkind der EU: Zwölf Millionen Arbeitsplätze sind in dieser Schlüsselindustrie angesiedelt, ein beträchtlicher Teil von ihnen ist gefährdet. Die Europäische Investitionsbank (EIB) hat im Rahmen ihrer jüngsten Hilfspakete bereits vier Milliarden Euro für technologische Erneuerungen zur Verfügung gestellt. Alles in allem verfolgen die EU-Staaten und –Institutionen damit eine konservative Krisenpolitik: Man pumpt Gelder in den Markt und hofft, dass der Motor der Wirtschaft wieder anspringt.

Osteuropa und Russland besonders betroffen

Dabei ist das Problem nicht auf die kerneuropäischen oder auch nur die Staaten der EU beschränkt. Der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft warnte unlängst vor den möglicherweise katastrophalen Folgen für die nach wie vor strukturschwachen Ökonomien in Osteuropa. Die derzeit diskutierten Lösungsstrategien dürften nicht an den Außengrenzen der EU halt machen, fordert Jürgen Fitschen, Mitglied im Vorstand der Deutschen Bank. Der Ökonom wies gegenüber der Deutschen Presse-Agentur darauf hin, dass besonders die Bankensysteme in Osteuropa schwach sind und der Unterstützung bedürfen.

Fitschen steht mit dieser Meinung nicht alleine: Österreich hat seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise bereits Kredite in Höhe von 287 Milliarden Euro nach Mittel- und Osteuropa vergeben. Italien liegt als Kreditgeber mit rund 230 Milliarden Euro auf dem zweiten Platz, gefolgt von Deutschland mit 210 Milliarden Euro.

Auch der russische Riese wankt. Die russische Regierung musste den abstürzenden Rubel, der in einem halben Jahr um 40 Prozent eingebrochen ist, schon durch den Verkauf von hunderten Milliarden Dollar stützen. Rubel. Angesichts des eingebrochenen Erdölpreises erwartet Moskaus Finanzminister Alexej Kudrin bis Jahresende eine Inflation von 13 Prozent. Statt der erhofften 10,9 Billionen Rubel (gut 233 Milliarden Euro) muss sich Kudrin auf weitaus geringere Einnahmen aus dem Erdölgeschäft in Höhe von 6,5 Billionen Rubel (gut 139 Milliarden Euro) einstellen. Zum ersten Mal seit zehn Jahren wird die russische Regierung der Staatsduma einen Nachtragshaushalt vorlegen. Das Defizit wird dabei rund sechs Prozent des Bruttoinlandsproduktes betragen. Wurde im Vorjahr noch mit umgerechnet 95 US-Dollar pro Barrel (159 Liter) Erdöl gerechnet, ist dieser Preis in den aktuellen Kalkulationen auf umgerechnet 40 US-Dollar korrigiert worden.

Bemerkbar macht sich der Einbruch vor allem in der westlichen Exklave Kaliningrad, deren Aufschwung fast ausschließlich von dem bis zuletzt florierenden russischen Binnenmarkt abhängt. Im vergangenen Jahr gab es in Kaliningrad fast keine Arbeitslosigkeit. In den vergangenen Wochen ist die Erwerbslosenquote nun auf rund zehn Prozent angestiegen. Die Wachstumsprognose wurde von stolzen zwölf Prozent auf 0,1 Prozent korrigiert.

Kommissionspräsident Barroso: "Ein mächtiges Gespann"

Ähnliche Prognosen stellt die EU-Kommission für die Mitgliedsstaaten der Union an. Deutschland hat demnach die größte Krise der Nachkriegsgeschichte zu erwarten: Um 2,3 Prozent soll das BIP hier schrumpfen. Der dadurch erwartete Anstieg der Arbeitslosigkeit wird in Berlin mit einer halbe Million angegeben. Genaue Vorhersagen sind aber kaum zu machen, weil unklar ist, inwieweit die in Deutschland starke Exportindustrie betroffen sein wird.

Auf die gesamte EU bezogen korrigierte das Brüssler Führungsgremium erst Mitte Januar die Vorhersagen aus dem vergangenen Herbst. Damals war noch ein – wenn auch kaum merkliches – Wachstum von 0,2 Prozent vorhergesagt worden. Im Januar dann hieß es, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der Eurozone werde im laufenden Jahr um 1,9 Prozent einbrechen.

Inwieweit die EU-Hilfe den Absturz bremsen kann, wird unterschiedlich bewertet. In Brüssel selbst gibt man sich trotz mehrfacher Negativkorrekturen optimistisch. "Europa wird in erster Linie an seinen Ergebnissen gemessen", schrieb Kommissionspräsident José Manuel Barroso bereits Ende November in einer Mitteilung über das europäische Konjunkturprogramm an den EU-Rat. "Die Möglichkeiten der Regierungen, die Instrumente der Europäischen Union und eine kluge Koordinierung bilden zusammen ein mächtiges Gespann", erklärte der Portugiese, um die beiden Säulen seines Konjunkturprogramms zu erläutern: Zum einen solle "ein massiver Kaufkraftschub für die Wirtschaft" erreicht werden, zum anderen ginge es um die "Notwendigkeit, mit kurzfristigen Maßnahmen Europas Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu stärken". Barroso kündigte damals bereits eine Finanzspritze von 1,5 Prozent des EU-BIP an, die besagten 200 Milliarden Euro.

Neoliberale Lobby wird in Brüssel aktiv

Es dauerte nur wenige Tage, da wurden die Widersprüche innerhalb der EU-Führung offenbar. Nach einer kurzen Phase der Aufbruchstimmung machte Barroso Ende Januar deutlich, dass sich die Mitgliedsstaaten der Weltwirtschaftskrise zum Trotz an den so genannten Stabilitätspakt halten müssten. Demnach darf ein EU-Land die Defizitgrenze von drei Prozent des nationalen BIP nicht überschreiten. Schon jetzt aber liegen fünf EU-Staaten – Irland, Spanien, Griechenland, Frankreich und Malta – über dieser Grenze. Das Beharren auf den "Stabilitätspakt" droht zu Beginn der Krisenpolitik einen effektiven Schutz sozial schwacher Bevölkerungsschichten zu behindern.

Die Schuldendebatte spiegelte sich auch im EU-Rat wieder. Zu einer heftigen Kontroverse kam es Anfang Dezember, als vor allem Vertreter südeuropäischer Staaten darauf bestanden, die EU-Hilfen mit 1,5 Prozent des BIP nicht fest zu definieren. Diese Quote solle als Mindestgrenze definiert werden, forderten vor allem Spaniens Vertreter. Die Regierung in Madrid ist von der Krise derzeit mit am stärksten betroffen.

Während in den Brüssler Führungsgremien um den goldenen Mittelweg zwischen einer strikten Haushaltspolitik und kostspieligen Hilfsprogrammen gerungen wird, wollen neoliberale Politiker die Krise zur Durchsetzung der eigenen Ziele nutzen. Mitte Februar werden unter führender Beteiligung des CDU-Politikers und amtierenden Präsidenten des Europa-Parlaments Hans-Gert Pöttering meist konservative und liberale Politiker zu einer zweitägigen Konferenz in Brüssel zusammenkommen, um eine Neuordnung der europäischen Wirtschaftsordnung zu beraten. Pöttering und Repräsentanten der neoliberalen tschechischen Regierungspartei ODS laden zu dem Treffen ein, um einen "New Deal für den Aufschwung der europäischen Wirtschaft" zu beraten. Wie aus einem Programmentwurf hervorgeht, sind zu dem Treffen konservative Parteivertreter aus mehreren Mitgliedsstaaten eingeladen.