"Keine Wohlfühlatmosphäre in einer reinen Welt des Konsums"
Seite 4: Der Wolf im Schafspelz
Moment mal, werden Polizeirechtscracks sagen, wenn sogar das Bürgerliche Gesetzbuch eine zulässige Eingriffsgrundlage im Sinne von Art. 8 Abs. 2 GG darstellen soll, ist damit doch auch der Uraltstreit darüber entschieden, ob neben dem Versammlungsgesetz und der Strafprozessordnung auch noch andere Gesetze als Grundlage für hoheitliche Eingriffe herangezogen werden können, insbesondere die Polizeigesetze der Länder? Weit gefehlt. Das BVerfG weicht hier geschickt auf ein Nebengleis aus:
Da die öffentliche Hand hier wie jeder Private auf die allgemeinen Vorschriften des Zivilrechts zurückgreift, ihr also keine spezifisch hoheitlichen Befugnisse eingeräumt werden und sie ihre Entscheidungen grundsätzlich auch nicht einseitig durchsetzen kann, sind die sonst an Eingriffsgesetze zu stellenden Anforderungen zurückgenommen. […] Dies ist die Konsequenz dessen, dass der Staat überhaupt in den Formen des Privatrechts handeln darf.
Im Klartext heißt das, wenn der Staat nicht als Hoheitsträger, sondern als Teilnehmer am Zivilrechtsverkehr, und damit als ein gegenüber anderen Teilnehmerinnen Gleichgestellter, auftritt, unterliegt er nicht den sonst erforderlichen formellen Anforderungen für hoheitliches Eingriffshandeln. Er kann sich wie jeder andere "Zivilist" auch auf die für das bürgerliche Recht maßgeblichen Regelungen berufen.
Wie jetzt? Grundrechtsbindung des Staates auch bei Teilnahme am oder privatrechtlicher Tarnung im Zivilrechtsverkehr: ja. Unterworfenheit unter die öffentlich-rechtlichen Bestimmungen für grundrechtsbeschränkendes Handeln: nein? Gemach, auch diese Karlsruher Weichenstellung erscheint im Ergebnis nicht inkonsequent. Denn das BVerfG macht zugleich deutlich, dass der Rückgriff auf zivilrechtliche Bestimmungen allenfalls zusätzlich und lediglich generalisierend erfolgen darf. Polizeiliche Eingriffe und versammlungsbeschränkende Entscheidungen dürfen daher auch in öffentlich zugänglichen Privateinrichtungen nur auf der Grundlage des Versammlungsgesetzes erfolgen.
Daher sind auch Demonstrationen im Flughafen bei der Versammlungsbehörde anzumelden, die ihrerseits zwar "die Flughafenbetreiberin als Betroffene grundsätzlich einzubeziehen und gegebenenfalls deren Einschätzungen zu berücksichtigen" hat, sachlich aber "allein an die Vorgaben der für sie selbst geltenden Ermächtigungsgrundlagen – und damit vorrangig an das Versammlungsgesetz – gebunden" bleibt. Demgegenüber sind Private darauf beschränkt, die Nutzungsbedingungen ihrer Einrichtungen z.B. in Flughafenbenutzungsordnung abstrakt-generell zu regeln, soweit sie dabei die Ausübung von Versammlungen und Meinungskundgaben lediglich nach Maßgabe der verfassungsrechtlichen Anforderungen auf die räumlichen Gegebenheiten und insbesondere an die spezifischen Funktionsbedingungen und Gefahrenlagen transparent anpassen.
Wo soll das nur hinführen?
Zukünftig muss Julia Kümmel, die Beschwerdeführerin, also keine Strafanzeige mehr befürchten, wenn sie den Frankfurter Flughafen betritt. Bei ordnungsgemäßer Anmeldung ist die Flughafengesellschaft sogar verpflichtet, ihr und anderen antirassistischen Initiativen einen angemessenen und öffentlich wahrnehmbaren Platz zur Verfügung zu stellen, an dem sie ihre Protestkundgebungen abhalten oder Flugblätter verteilen dürfen. Jedenfalls so lange wie hierdurch nicht die Störanfälligkeit des Flughafens "in seiner primären Funktion als Stätte zur Abwicklung des Luftverkehrs" außer Verhältnis in Anspruch genommen wird.
Über die Störanfälligkeit öffentlicher Anlagen kann im Einzelfall noch kräftig gestritten werden. Das beweist schon das Minderheitenvotum des dissentierenden Verfassungsrichters Wilhelm Schluckebier, der den Zerriss dieser progressiven Rechtsprechung nicht erst den bereits in den Startlöchern sitzenden Staatsrechtslehrern überlassen wollte. Mit Verweis auf die an Flughäfen durch kleinere Störungen drohenden Kettenreaktionen im internationalen Flugverkehr und die "weitgehende Unausweichlichkeit beeinträchtigender Folgen für eine außergewöhnlich große Zahl von Flugreisenden und damit anderen Grundrechtsträgern" beschwört er ein Friedensgebot durch politischen Grundrechtsverzicht der Protestierenden. Die gleiche Argumentation könnte der auf CSU-Ticket richtende ehemalige Staatsschützer und Bundesanwalt freilich auch für ein Verbot von Demonstrationen auf vielbefahrenen Straßen oder von Streikmaßnahmen anwenden. Dabei hängt der Erfolg jeglichen Protests doch wesentlich davon ab, irgendjemanden zu stören. In einer lebendigen Demokratie findet kreativer Protest daher erst dort seine Grenzen, wo andere nicht lediglich nur gestört, sondern in ihren geschützten Rechtsgütern konkret gefährdet werden.
Der "Leitgedanke des öffentlichen Forums" wirft hingegen neben einer Rückeroberung des öffentlichen Raumes durch dessen Politisierung, wie sie nicht nur in Inszenierungen des Weltelends, sondern auch in einer hedonistischen Reclam-the-Street-Party denkbar und schützwürdig ist, noch ganz andere Assoziationen auf. So ließe sich der Forumsgedanke auch auf soziale Netzwerke und öffentliche Protestaktionen beziehen, die zwar öffentlich wahrnehmbar, aber ganz privat stattfinden: Online-Demos zum Beispiel. Auch hier war die Abschiebepraxis am Frankfurter Flughafen bereits 2001 Paradebeispiel für virtuelle Versammlungen und Anlass zur Strafverfolgung der Aktivist/innen (in diesem Fall der Initiative Libertad!), die vom Vorwurf der Anstiftung zur Nötigung und Datenmanipulation zwar letztlich freigesprochen wurden (Urteil), aber Durchsuchungen von Wohn- und Geschäftsräumen zu dulden hatten.
Solche virtuellen Foren hat das BVerfG jedoch wohl eher nicht im Sinn, wenn es unter Verweis auf seine frühere Rechtsprechung davon ausgeht, dass Demonstrationen in ihrer idealtypischen Ausformung "gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen" seien. Dabei fällt auf, dass die weiteren Definitionsmerkmale ebenso gut auf Onlineforen zutreffen könnten, wenn es weiter heißt:
dass es darum gehe, dass "die Teilnehmer in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen.
Wie dies für den öffentlichen Raum selbst zutrifft, dürften auch die darin gewählten Protestformen ihre Evolution vom "Idealtypus" weiter fortsetzen. Als solcher wird er dann weniger als Leitbild denn als Urbild in Erinnerung bleiben. Das Recht folgt jedoch in der Regel der Tat.