Kommentar: Eine Alternative zum versagenden Steuersystem
Seite 2: Juristische Fragwürdigkeit
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Nach Auffassung des bayerischen Finanzministeriums sollen Kunden also die Steuern für einen Lieferanten zahlen und dann bei ihm eintreiben, obwohl das gar nicht möglich ist. Und selbst, wenn es möglich wäre, gäbe es noch das oben genannte Doppelbesteuerungsabkommen, durch das die Steuervermeider vor Zahlungen geschützt sind. Noch fragwürdiger wird die Rechtmäßigkeit der Forderung des Finanzamts München dadurch, dass diese Steuerpflicht nicht einheitlich für Kunden aller Lieferanten gelten soll, sondern nur, wenn der Lieferant zum Beispiel Google, Twitter, Instagram oder Facebook heißt.
Das Finanzamt München fordert vom bayerischen Online-Versandhändler Schönberger rückwirkend für die letzten 7 Jahre rund 2 Millionen Euro, die das Unternehmen für Google zahlen soll. Eine Rückwirkung von Gesetzen ist nur bei sechs Ausnahmen möglich. Am ehesten würde sich der Bundesfinanzminister wahrscheinlich auf "zwingende Gründe des Gemeinwohls" berufen.
Dass das Bundesverfassungsgericht es als zwingend notwendig für das Gemeinwohl anerkennt, Bürger und Unternehmen zu Steuer-Vorfinanzierern und chancenlosen Steuereintreibern zu machen, ist äußerst unwahrscheinlich, zumal der Staat durchaus die Alternative hat, gewinne zu schätzen oder den Umsatz statt der verlagerten Gewinne der Konzerne zu besteuern.
Weiteres Beispiel: Die Steuerfahnder-Affäre
Der Google-AdWords-Fall ist nur eines von zahllosen Beispiele für Absurditäten unseres Steuersystems und die vielsagenden Handlungen der Regierungsparteien. Ein weiteres anschauliches Beispiel ist die Steuerfahnder-Affäre (vgl. Stinkt der Fisch vom Koch her?), bei der zu erfolgreiche Steuerfahnder, die der Commerzbank und einigen Ihrer wohlhabenden Kunden Steuerhinterziehung in Milliardenhöhe nachwiesen, wegen "psychischer Störungen" aus dem Verkehr gezogen wurden. Der hessische CDU-Finanzminister Thomas Schäfer erklärte in bester Pofalla-Tradition die Steuerfahnder-Affäre für beendet. Unter Beendigung versteht der CDU-Finanzminister, dass lediglich der Arzt, der die Steuerfahnder mit einem falschen Gutachten aus dem Verkehr zog, verurteilt wurde.
Aufschlussreicherweise ging die Staatsanwaltschaft, die der CDU-Regierung und der CDU-Landesjustizministerin untersteht, nicht der Frage nach, in wessen Auftrag der Arzt die Steuerfahnder eigentlich aus dem Verkehr ziehen sollte. Seine eigene Initiative kann es nicht gewesen sein. Der naheliegende Verdacht, dass die CDU-Regierung unter Roland Koch nach Beschwerden der Commerzbank und der betroffenen wohlhabenden Kunden die Anweisung für dieses Gutachten gab, ging die dem CDU-Justizministerium unterstellte Staatsanwaltschaft nicht nach.
Ebenso wenig interessierte es die der CDU-Justizministerium unterstellte Staatsanwaltschaft, warum die Abteilung V der Steuerfahndung, die so erfolgreich reiche Steuerhinterzieher ermittelt hatte und 9-stellige Steuernachzahlungen für den Fiskus eintrieb, aufgelöst wurde (vgl. Schadensersatz für kaltgestellte Steuerfahnder). Die CDU-Regierung löste die Abteilung der Steuerfahnder mit der Begründung auf, dass sie "überbesetzt" sei, obwohl überall Steuerfahnder fehlen und vor der Auseinandersetzung noch Personal beantragt worden war. Wie soll man diese Korrelation zwischen CDU und geschützten Steuerhinterziehern nennen? Für die nacheinander von FDP und CDU-geführten Justizministerien ist das ebenso wenig ein Thema wie für Roland-Koch-Nachfolger Volker Bouffier. Auf jeden Fall stellt sich bei dieser Korrelation von juristischen und finanziellen Bedrohungen der Upper Class und dem politischen Handeln der Landesregierung die Frage nach dem Cui Bono.
Das fehlkonstruierte Steuersystem
Ein vermutlich fälschlicherweise Albert Einstein zugeschriebenes, aber sehr treffendes Zitat lautet:
Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.
Das gilt auch für die althergebrachten Steuersysteme aller großen Volkswirtschaften, an deren immer gleichen Stellschrauben konservative, progressive, linke, rechte und sonstige Regierungsparteien hilflos herumdrehen und dabei andere Ergebnisse erwarten. Heute gelten in Deutschland 118 Steuergesetze, 60 Steuer - und Abgabenarten, 96.000 Steuerverordnungen und allein 100 Einkommensteuerparagraphen mit 137.000 Worten (die Abgabenordnung ist dabei noch nicht einmal eingerechnet). Das Umsatzsteuerhandbuch für Finanzbeamte des Landes NRW füllt 894 Seiten. Das Einkommenssteuerhandbuch für Finanzbeamte des Landes NRW kommt sogar auf 1.872 Seiten. Und das sind nur die Handbücher. Hinzu kommen endlose Regalmeter an Durchführungsverordnungen und Finanzgerichtsurteilen.
Scrollen Sie einmal durch diesen Gesetzestext und stellen Sie sich die Frage, wer das alles verstehen soll. Oder ob das Gesetz nicht besser komplett abgeschafft und durch etwas Besseres ersetzt werden sollte.
Bis heute wird Arbeit wird und der Faktor Arbeit verteuert, obwohl jeder weiß, dass dies aus vielen Gründen kontraproduktiv ist. Erstens senken Steuern auf Arbeit die Kaufkraft, die wiederum die Grundlage der gesamten Volkswirtschaft ist. Zweitens steigern sie die Bruttolohnkosten und Lohnstückkosten, während die Arbeitsleistung von Maschinen und Software nicht besteuert wird. Da die Minimierung von Kosten eine Hauptaufgabe der Betriebswirte in aller Welt ist, produziert die Besteuerung von Arbeit Arbeitslosigkeit und Niedriglöhne. Drittens wirken Steuern auf Arbeit demotivierend.
Zur Fehlkonstruktion von Steuersystemen gehört zweifellos, Gewinne nicht dort zu besteuern, wo sie entstehen, sondern dort, wo der steuerliche Unternehmenssitz liegt - was gerade bei internationalen Großkonzernen oft lediglich ein Pro forma Büro oder ein Briefkasten ist. Erstens zerstören die Konzerne durch dieses im wahrsten Sinne des Wortes parasitäre Geschäftsmodell (in Absatzmarkt A Umsatz machen, in Steueroase B Steuern vermeiden) die Existenzgrundlage aller Länder (bis auf die Steueroasen). Zweitens verzerrt dies den Wettbewerb, da kleine und mittlere Unternehmen diese Möglichkeiten nicht haben und ihre Kosten und Preise höher sind.
Defizite und Bilanzfälschung
Unser Steuersystem ist auch deshalb eine Fehlkonstruktion, weil es seine Hauptaufgabe nicht erfüllt, nämlich die öffentlichen Haushalte ausreichend zu finanzieren. In diesen Tagen verbreiten "Regierungssprecher-Medien" die Fake News Deutscher Staat meldet 58 Milliarden Euro Überschuss.
Kritische Journalisten würden zum Thema Fake News anmerken, dass zunächst einmal zwei getrennte Systeme - Steuersystem und Sozialsystem - in einen Topf geworfen werden. Das Sozialsystem basiert auf Versicherungsbeiträgen, die ausschließlich für Versicherungsleistungen verwendet werden dürfen. Kein Cent aus der Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung fließt in den Staatshaushalt. Sozialbeiträge gehören nicht dem Staat, sondern den Versicherten. Sie sind im Unterschied zu Steuereinnahmen keine Verfügungsmasse für öffentliche Haushalte bzw. den Staat.
Während Steuereinnahmen von Parlamenten und Regierungen verwaltet werden, verwalten die Deutsche Rentenversicherung Bund, die Bundesagentur für Arbeit, die Krankenkassen und die Pflegeversicherung deren Einnahmen. Es gibt keine gemeinsame Kasse und kein gemeinsames Konto für Steuern und Versicherungsbeiträge. Das ist also eine bestenfalls nicht anwendbare Bilanz. Nichts anderes als eine Bilanzfälschung ist die "Schwarze Null", da die öffentlichen Haushalte hier nicht zutreffend bilanziert werden.
Die Bilanz der öffentlichen Haushalte wird verfälscht durch chronisch unterfinanzierte öffentliche Zuständigkeiten beziehungsweise unterlassene Pflichtausgaben, Substanzverzehr durch unterlassene Investitionen, die Verlagerung von Kosten öffentlicher Aufgaben auf die Bürger, zum Beispiel Abwälzung von Strassenbaukosten auf Anwohner (vgl. Der Trick mit der Luxussanierung), den Verkauf von Tafelsilber / Privatisierungen, Raub kommunaler Handlungsfähigkeit durch Cross-Border-Leasing (vgl. Privatisierung als Ursache der Finanzkatastrophe), Verlagerung heutiger Kosten auf die Zukunft durch Sale-and-lease-back, sowie zu niedrige Gehälter im Öffentlichen Dienst.
Eine ehrliche Bilanz müsste auch Rückstellungen enthalten, zum Beispiel für die Kosten des Atommülls für zigtausende Generationen, die die Große Koalition mitsamt FDP und Grünen den Atomkonzernen zum Nulltarif abnahm. Zumindest strittig ist, ob für bereits bestehende Ansprüche auf künftige Beamtenpensionen Rückstellungen verbucht werden müssten, da die laufenden Einnahmen zu deren künftigen Finanzierung voraussichtlich nicht ausreichen werden.
Eine ehrliche Bilanz würde gigantische Defizite offenbaren.
Schildbürgerstreich Schuldenbremse
Im Sommer 2009 traf ich zusammen mit einem Erfurter Bürger im Abgeordnetenrestaurant des Bundestags die Erfurter Bundestagsabgeordnete Antje Tillmann (CDU), um ihr eine Lösung des Schuldenproblems vorzustellen. Zu unserem Erstaunen meinte sie, das sei nicht nötig, denn es gebe bald die "Schuldenbremse", an der sie persönlich mitwirkte.
Die Schuldenbremse bedeutet, dass Bund und Länder ab 2020 keine neuen Schulden verbuchen dürfen. Können die Regierungsparteien nicht einfach sämtliche Probleme verbieten? Armut? Arbeitslosigkeit? Demographischer Wandel? Insektensterben? Kriminalität? Terrorismus? Kriege? Einfach verbieten - Problem gelöst?
Das Satiremagazin "Titanic" spottete Mitte der 80er-Jahre mit ihrem Poster "Unglaublich! Bonn rettet den Wald! Waldsterben verboten - Die Bundesregierung" über Schildbürgerstreiche der Regierungsparteien. Und siehe da: Die Große Koalition griff die Titanic-Persiflage auf. SPD-Fraktionschef Peter Struck bezeichnete die "Schuldenbremse" als "Sternstunde des Bundesstaats". In der Ahnung, dass ein Verbot das Problem nicht lösen kann, hielten sich die Regierungsparteien eine Hintertür auf. Guido Bohsem schrieb in der Süddeutschen Zeitung vom 06.02.2009:
Ausnahmen von den strengen Schuldenregeln soll es nur geben, wenn das Land von einer Naturkatastrophe heimgesucht wird oder die Wirtschaft einen Einbruch erleidet. Als Beispiel dafür nannten Struck und Oettinger die gegenwärtige Finanzkrise.
Mit dieser Hintertür ist die Schuldenbremse systembedingt sinnfrei.
Weiter schrieb Bohsem: "Scheitert ein Bundesland, werden ihm alle Hilfszahlungen gestrichen, und es muss den Weg zum ausgeglichenen Etat alleine bewältigen." In Berlin, Hamburg, Bremen und im Saarland würden dann die Lichter zuerst ausgehen, und zwar buchstäblich. In Anbetracht der zunehmend demokratisch zerbrechlichen Stimmung in der Gesellschaft ist ein solcher Kurs nicht problemlösend.
Das Ausreichende und das Wünschenswerte
Selbst, wenn Bund, Länder und Kommunen durch das Steuersystem ausreichend für das Notwendige finanziert wären, liegt im Prädikat "ausreichend" ein weiterer Mangel. Es fehlt der Spielraum für das gesellschaftlich Wünschenswerte, zum Beispiel ein umfangreicher öffentlicher Wohnungsbau (mit Mieten zum Selbstkostenpreis), eine gemeinnützige medizinische Forschung, gemeinnützige Grundlagenforschung (vom Fusionsreaktor bis zum In-Vitro-Fleisch) oder eine selbstlose Entwicklungshilfe für die Dritte Welt.
Mit einem Haushalt, der nicht "auf Kante genäht" ist, wie Ex-Bundesfinanzminister Eichel es einst ausdrückte, hätten Parlamente und Regierungen endlich einen Handlungsspielraum. Dann könnte Politik endlich gestalten statt lediglich zu verwalten. Die Energiewende müsste sie nicht den Energiekonzernen überlassen, sie könnte selbst eine Lade-Infrastruktur für Elektro- und Brennstoffzellenfahrzeuge aufbauen und betreiben, einen kostenlosen öffentlichen Personenverkehr anbieten, Plastikmüll in den Ozeanen einsammeln lassen, und vieles mehr. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Nicht das Ausreichende und die Verwaltung des Mangels,, sondern das Wünschenswerte muss der Maßstab der Politik sein. Statt an den alten Schrauben alter Systeme zu drehen, die unübersehbar nicht funktionieren, muss man zurücktreten, mit ausreichendem Abstand das Gesamtbild betrachten und sich die wesentlichen Fragen stellen: Welche Ziele wollen wir erreichen? Welche Möglichkeiten können wir dazu nutzen?
Einen Vorschlag dazu finden Sie in Teil 2 dieser Artikelserie: "Umsätze statt Gewinne und Arbeit besteuern"
Über den Autor: Jörg Gastmann ist Sprecher der NGO economy4mankind.org, die das alternative Wirtschaftssystem Economic Balance System vertritt. Bereits in den 80er Jahren wunderte er sich beim Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum über die Widersprüche zwischen Volkswirtschaft und Betriebswirtschaft.
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