"Konkrete Schritte zur Verbesserung der gemeinsamen Sicherheit"

Seite 2: Olaf Scholz in Moskau: "Haben kein Thema ausgelassen"

Olaf Scholz

Meine Damen und Herren,

es ist gut und wichtig, heute hier in Moskau zu sein. Ich bedanke mich für den Empfang und für das lange, ausführliche Gespräch. Wir haben, wie Sie ja schon der Darstellung des Präsidenten entnommen haben, kein Thema ausgelassen, das gegenwärtig in den Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern, aber auch in den europäischen Beziehungen und den internationalen Beziehungen eine Rolle spielt. Das ist gut so; denn natürlich ist es wichtig, dass wir tatsächlich miteinander reden.

Unsere beiden Länder sind historisch und kulturell eng miteinander verflochten. Die Beziehungen sind tief und vielfältig. Das zeigen beispielsweise die mehr als 90 aktiven Städtepartnerschaften und der rege Kultur-, Jugend- und Bildungsaustausch. Gerade ist das Deutschlandjahr in Russland zu Ende gegangen. Etwa 1000 Veranstaltungen in mehr als 70 Städten behandelten das ganze Themenspektrum unserer Beziehungen, von Kultur über Wissenschaft, Umwelt und Nachhaltigkeit bis hin zu Diversität.

Auch unsere Wirtschaftsbeziehungen haben nach wie vor großes Potenzial - das haben Sie eben schon gehört -, insbesondere bei zentralen Zukunftsthemen wie der Dekarbonisierung, den erneuerbaren Energien, Wasserstoff und der Digitalisierung. Unserer Verantwortung für das Menschheitsthema des Klimawandels können wir nur gerecht werden, wenn wir es gemeinsam angehen.

Deshalb ist es wichtig, dass das auch in den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland für die Zukunft von zentraler Bedeutung bleibt. Energie wird auch heute geliefert, aber die Frage ist, wie wir es hinbekommen, dass das auch in einer industriellen Welt gelingen kann, die CO2-neutral ist, was notwendig ist, wenn wir auf diesem Planeten gut leben können wollen.

Ein unverzichtbarer Pfeiler unserer Beziehungen ist der zwischengesellschaftliche Dialog, der viel zur Verständigung und zur Aussöhnung zwischen unseren Völkern nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen hat. Diese Entwicklung gilt es weiter zu fördern. Darum haben wir heute auch schon über den Petersburger Dialog gesprochen. Er steht seit Jahren für die deutsch-russische Verständigung und ist gerade jetzt wichtiger denn je.

Ich habe daher meine Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass bei weiteren hochrangigen Gesprächen in nächster Zeit eine Lösung für die aktuelle Blockade erreicht werden kann. Denn wir brauchen einen Raum für einen offenen und ehrlichen Dialog, in dem alle Themen besprochen werden können und in dem sich alle, die es wollen und die dazugehören, in diese Debatte einbringen können.

"Räume für Zivilgesellschaft werden enger"

Mit Sorge sehen wir, wie die Räume für die Zivilgesellschaft enger werden. Das gilt für uns insbesondere im Hinblick auf Partner, mit denen wir lange und wichtig zusammengearbeitet haben. Ich will hier die Gruppe Memorial nennen. Es ist in Deutschland auf großes Unverständnis gestoßen, dass sie ihre Tätigkeit nun nicht fortsetzen kann, ausgerechnet eine Organisation, die unter anderem einen zentralen Beitrag zur Aufklärung des Schicksals der sowjetischen Zwangsarbeiter in Nazideutschland geleistet hat. Wir hoffen, dass dort eine gute Perspektive möglich ist. Ich habe in unseren Gesprächen auch die Erwartung geäußert, dass die Deutsche Welle in Russland weiterhin journalistisch tätig sein kann.

Wie schon gesagt, ein breites Themenspektrum von bilateralem Interesse. Wir haben dabei auch die kritischen Fragen nicht vermieden. Das zeichnet solche Gespräche aus und ist wichtig.

Mein Besuch heute steht aber natürlich ganz wesentlich im Zeichen der wohl schwersten und bedrohlichsten Krise, die wir seit sehr, sehr langer Zeit in Europa erleben. Die militärischen Truppenzusammenstellungen und Aktivitäten Russlands an der ukrainischen Grenze haben einen breiten Raum in unseren Gesprächen eingenommen wie natürlich auch die Fragen nach den Sicherheitsgarantien, die Russland formuliert hat.

Ich habe dabei unsere, meine Einschätzung der Sicherheitslage erläutert und auch, wie wir und unsere europäischen Partner diese Entwicklung bewerten, aber auch natürlich den Truppenaufmarsch als Bedrohung empfinden. In diesem Zusammenhang kann man gar nicht genug betonen, dass wir sehr besorgt darüber sind, was wohl aus den 100.000 Soldaten und ihren Aktivitäten in nächster Zeit werden wird.

Wir können keinen vernünftigen Grund für diese Truppenzusammenstellung erkennen. Deshalb ist die Deeskalation dringend geboten. Das ist in dieser angespannten und schwierigen Situation wichtig, damit es keinen Krieg in Europa gibt.

Präsident Putin hat mir in unserem Gespräch von den gestrigen Beratungen mit seinem Außenminister und dem Verteidigungsminister berichtet. Er hat davon eben auch erneut gesprochen. Ich stimme ausdrücklich zu: Die diplomatischen Möglichkeiten sind bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.

Jetzt muss es darum gehen, entschlossen und mutig an einer friedlichen Auflösung dieser Krise zu arbeiten. Dass jetzt, wie wir hören, einzelne Truppen abgezogen werden, ist jedenfalls ein gutes Zeichen. Wir hoffen, dass noch weitere folgen.

Wir sind bereit, gemeinsam mit allen Partnern und Verbündeten in der EU und der Nato und mit Russland ganz konkrete Schritte zur Verbesserung der gegenseitigen oder noch besser der gemeinsamen Sicherheit zu unternehmen. Dazu hat die Nato bereits zu konkreten thematischen Gesprächen im Nato-Russland-Rat eingeladen.

Dazu sind die USA in ihrem bilateralen Gespräch mit Russland bereit. Im Rahmen der OSZE hat der polnische Vorsitz einen neuen, hochrangigen Dialogprozess initiiert. Dieser Dialog wird im Geist der Gegenseitigkeit und in Anerkennung der Gesamtheit von Prinzipien und Verpflichtungen erfolgen, die wir alle gemeinsam in der OSZE vereinbart haben. Dazu gehören die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa und die Souveränität und territoriale Unversehrtheit aller Staaten, auch der Ukraine. Sie sind für uns unverhandelbar.

"Dinge im Wege des Dialogs weiterbereden"

Mein dringender Wunsch: Lassen Sie uns diese Dinge im Wege des Dialogs weiterbereden. Wir dürfen nicht in einer Sackgasse enden. Sie wäre ein Unglück für uns alle.

Für die Bundesregierung ist klar, dass eine weitere militärische Aggression gegen die Ukraine schwerwiegende politische, wirtschaftliche und strategische Konsequenzen zur Folge hätte. Mein Eindruck ist: Das wissen alle ganz genau. - Eine solche Eskalation gilt es deshalb jetzt mit aller Kraft und Entschlossenheit und mit aller Klugheit zu vermeiden.

Die Suche nach diplomatischen Lösungen ist ein zentraler Grund meiner Reise nach Kiew gestern und nun nach Moskau. Präsident Putin und ich, wir sind uns darin einig, dass das Normandie-Format neben den Gesprächen zwischen den USA und Russland, im Nato-Russland-Rat und in der OSZE ein weiteres wichtiges Format zur Beilegung des Konflikts darstellt. Hier brauchen wir Bewegung und natürlich auch Fortschritt.

Deshalb ist es gut, dass Präsident Selenskyj gestern fest zugesagt hat, dass der Trilateralen Kontaktgruppe, die im Rahmen des Minsker Prozesses festgesetzt worden ist und in der alle Beteiligten zusammenkommen, in Kürze alle drei vorgesehenen Gesetzestexte zum Status der Ostukraine, zur Verfassungsänderung und zur Wahlvorbereitung vorliegen werden. Das ist ein guter Fortschritt, und daran gilt es anzuknüpfen. Ich habe den Präsidenten ermuntert, seine Verhandler mit einem entsprechenden konstruktiven Mandat auszugestalten, sodass wir dort Fortschritte erreichen.

Zum Abschluss auch noch dieses: Für uns Deutsche, aber auch für alle Europäer ist klar, dass nachhaltige Sicherheit nicht gegen Russland, sondern nur mit Russland erreicht werden kann. Darüber sind wir uns alle in der Nato und der Europäischen Union aber auch einig. Deshalb müsste es möglich sein, eine Lösung zu finden. So schwierig und ernst die derzeitige Lage auch scheint, ich weigere mich, sie als aussichtslos zu beschreiben. Von allen ist jetzt mutiges und verantwortungsbewusstes Handeln gefragt.

Das will ich noch sagen: Für meine Generation ist Krieg in Europa undenkbar geworden, und wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt. Es ist unsere verdammte Pflicht und Aufgabe als Staats- und Regierungschefs, zu verhindern, dass es in Europa zu einer kriegerischen Eskalation kommt. (Quellen: bundesregierung.de, kremlin.ru)