Krankenhaus Kunduz: Versehentlich das falsche Gebäude vernichtet

Seite 2: Tragische Fehler - oder massenhaftes Töten nach dem Prinzip "stille Post"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ausgerechnet in dieser Nacht konnte sich die Crew der AC-130 auch nicht auf die Instrumente des Flugzeuges verlassen - eine technische Störung. Der Zielcomputer, der die Crew hätte warnen können, dass es sich um ein Krankenhaus handelt, funktionierte ebenfalls nicht.

Die afghanischen Spezialeinheiten, die angeblich unter schwerem Feuer der Aufständischen lagen, konnten darüber hinaus keine Koordinaten für den Luftangriff benennen. Deshalb beschrieben sie den Green Berets das Gebäude, aus dem sie beschossen wurden. Die US Special Forces wiederum befanden sich in einem anderen Bereich in Kunduz, über einen Kilometer entfernt, außerhalb der Sichtreichweite des Krankenhauses. Von dort aus gaben sie die Beschreibungen des zu bekämpfenden Ziels per Funk an die Crew der AC-130 weiter. Unglücklicherweise war auf den Einsatzkarten der US Soldaten das Krankenhaus nicht eingezeichnet, so dass sie nicht ahnen konnten, dass sich ein Krankenhaus in der Nähe befindet. Demnach wäre der Luftangriff aber nicht nur ein Töten auf Zuruf , sondern massenhaftes Töten nach dem Prinzip "stille Post".

Völlig neu ist die Behauptung, die AC-130 sei kurz vor dem Luftangriff selbst mit einer Rakete beschossen worden, weshalb das Kampfflugzeug aus Sicherheitsgründen höher gestiegen sei. Diese höhere Flugroute habe dazu geführt, dass die durchgegebenen Angaben nicht die gewöhnliche Genauigkeit erlangten. Und weil daraufhin die Bordcrew an der beschriebenen Stelle nur eine leere Fläche vorfand, griffen sie das nächstgelegene große Gebäude an, berichtet Stars and Stripes.

In einer Stadt mit 270.000 Einwohnern beschießt ein US-amerikanisches Bodenkampfflugzeug über eine Stunde ein Gebäude, das ihm lediglich vom Aussehen her beschrieben wurde, während die Instrumente ausgefallen waren. Abgesehen davon, dass die Geschichte vollkommen unglaubwürdig klingt, dürfte bereits dieses Vorgehen ein Kriegsverbrechen darstellen. Hier wird geradezu beliebig, weil nicht verifizierbar, auf Gebäude geschossen - in der Hoffnung, dass man schon das richtige treffen werde. Das hat nicht mal mehr etwas mit Kollateralschaden zu tun, das ist Willkür und Terror.

Die Bordcrew konnte angeblich auch keine Zeichen am Gebäude erkennen. Auch diese Behauptung erscheint fragwürdig, hatte die Höhe doch ausgereicht, um fliehenden Personen hinterher zu schießen. Wer Personen identifizieren kann, wird wohl auch in der Lage sein, zwei große Fahnen auf dem Dach des Krankenhauses zu identifizieren.

Nicht nur, dass die Instrumente der AC-130 nicht funktioniert haben sollen, auch die Crew soll angeblich keine ordentliche Einsatzbesprechung gehabt haben, so dass sie nicht wusste, dass es sich bei dem Gebäude um ein Krankenhaus (und somit um ein von der Genfer Konvention besonders geschütztes Gebäude) handeln würde. Die Liste der "No strike Points" stand der Crew demnach nicht zur Verfügung.

Vollständige und transparente Untersuchung

Das U.S. Central Command hat den, vom Verteidigungsminister noch großspurig als vollständige und transparente Untersuchung angekündigten Bericht an zahlreichen Stellen geschwärzt. Die Öffentlichkeit bekommt allerdings sowieso nur eine Zusammenfassung des Berichts.

Ungeklärt bleibt, warum die AC-130 das Feuer eröffnete, obwohl es keine Verifikation des Zieles gegeben hat. Ungeklärt bleibt, warum das Feuer eröffnet wurde, obwohl die Crew mit den Infrarotkameras hätte feststellen können, dass von dem Gelände und Gebäude aus überhaupt nicht gekämpft wurde. Ungeklärt bleibt, warum die Special Forces am Boden die AC-130 nicht warnten, dass das falsche Gebäude beschossen wurde.

Ungeklärt bleibt, warum die Bordcrew die auf dem Dach des Krankenhauses angebrachten Fahnen von MSF nicht identifiziert hat (vergleiche Krankenhaus Kundus: Das Ziel war töten und zerstören). Ungeklärt bleibt, warum der Angriff nicht spätestens nach den Hilferufen von MSF abgebrochen wurde. Es bleibt weiter ungeklärt, warum der Angriff überhaupt befohlen wurde, so es doch gar keine extreme Gefahr für amerikanische oder afghanische Einheiten gegeben hat, was aber eine Bedingung der Rules of Engagement ist.

Ungeklärt bleibt auch, warum in einer Großstadt überhaupt ein Luftangriff auf Zuruf befohlen wird. Und ungeklärt ist auch, wie der Untersuchungsbericht zu den Notizen eines Offiziers der Green Berets passt, der notiert hatte, Tagesziel des 3. Oktober sei es, das Krankenhaus von feindlichen Kräften zu säubern.

Auf alle Nachfragen gab Shoffner die Standardantwort, dass einige Individuen sich nicht an die Verfahrensregeln gehalten hätten. Menschliche Fehler, so etwas passiert. Dafür habe man aber auch einige Individuen vom Dienst entbunden. Brigadegeneral Shoffner beendete dann auch die Pressekonferenz mit den Worten: "Wir würden niemals etwas tun, was Zivilisten schaden würde. "

Der Untersuchungsbericht passt allerdings auch nicht zu den Aussagen afghanischer Offizieller, die die volle Verantwortung für den Luftangriff übernommen hatten. Schließlich sei das Gebäude von den Taliban als Kommandozentrale genutzt worden (Krankenhaus Kunduz: Töten auf Zuruf).

Der Untersuchungsbericht des US-Militärs ist den Namen nicht wert und hat lediglich eines bewiesen: Den Forderungen von MSF nach einer unabhängigen internationalen Untersuchung des Luftangriffes muss nachgekommen werden. Die absurden Erklärungen und Rechtfertigungen des Militärs sprechen den Opfern Hohn und sind Ausdruck US-amerikanischer Hegemonie, die das Kriegsvölkerrecht jederzeit zu ignorieren bereit ist. Wer vorgibt die Zivilisation zu verteidigen, der muss auch deren Errungenschaften verteidigen und dem Recht Geltung verschaffen. Daran werden sich die USA und die NATO-Verbündeten messen lassen müssen.