Krankheitskosten: Wer soll das in Zukunft noch bezahlen?

Welche Rolle spielt der Impfstatus im Gesundheitssystem? Ist ein Richter, der sich auf das Verantwortungsprinzip bezieht, gleich ein Populist? Eine Replik

Der Präsident des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel, hat sich am 8. Februar in einem Pressegespräch zum Streitthema Impfen geäußert. Dabei verwies er auch auf die Möglichkeit, Covid-19 Erkrankte an den Behandlungskosten zu beteiligen, wenn diese sich problemlos hätten impfen lassen können.

"Solidarität ist keine Einbahnstraße", brachte er seine Position auf den Punkt. Bei einer Intensivbehandlung mit künstlicher Beatmung gehe es schätzungsweise um 60.000 bis 200.000 Euro pro Patient. Dazu kämen Kosten für die Nachbehandlung und Long-Covid. Nach § 52 des fünften Sozialgesetzbuches sei eine Kostenbeteiligung möglich.

In einem Beitrag für Telepolis hält Timo Rieg den Vorschlag aber sowohl ökonomisch als auch erzieherisch für sinnlos. Im Endergebnis attestiert er dem Richter Populismus: "Die Idee ist populistisch: Sie zielt auf Egoismus und Neid."

Den Vorschlag, Menschen, die sich ohne medizinischen Grund nicht gegen Covid impfen lassen, gemäß ihren finanziellen Möglichkeiten an den Behandlungskosten zu beteiligen, machte ich bereits im November 2021. Bei der Diskussion der Impfpflicht Ende Januar 2022 schrieb ich dann noch einmal:

Unser Gesundheitssystem ist in dem Sinne solidarisch, als es allen Menschen hilft, die in Not sind. Solidarität ist aber keine Einbahnstraße. Anderen Menschen eine Härte aufzubürden, die leicht vermieden hätte werden können, ist auch nicht gerade solidarisch.

Stephan Schleim am 26 Januar 2022

Unterschiedliche Fragen

Um nicht aneinander vorbeizureden, sollte man die Fragen trennen: Wo geht es um ökonomische Aspekte? Wo um die Einrichtung unseres Gesundheitssystems? Wie ist die Gesetzeslage? Wo stehen ethische Fragen und Werte zur Diskussion?

Timo Rieg hält den Vorschlag ökonomisch für irrelevant, weil, kurz gesagt, das "deutsche Gesundheitssystem (…) jeden Tag etwa eine Milliarde Euro (verteilt)." Das Argument ist hier, dass gegenüber den normalen Gesundheitskosten die Beteiligung an den Behandlungskosten nicht in relevanter Weise ins Gewicht fällt.

Stimmt das? Laut dem Bundesrichter mussten allein vom Januar bis September 2021 rund 46.000 Covid-Erkrankte intensivmedizinisch behandelt werden, davon rund 3.000 mit Beatmung. Nur für diese 3.000 kommt man also auf Kosten in Höhe von 180 bis 600 Millionen Euro.

Gegenüber Riegs täglicher Milliarde ist das tatsächlich nicht viel. Es ist aber auch nur ein kleiner Teil der insgesamt durch COVID-19 verursachten Krankheitskosten. Wenn man die Frage ökonomisch beantworten will, sollte man auch eine vollständige Rechnung aufstellen. Für mich ist das Preisschild aber gar nicht entscheidend, wie ich gleich darlegen werde.

Schauen wir erst noch auf die erzieherische Frage: Würden sich mehr Menschen impfen lassen, wenn sie wüssten, dass sie sonst im Krankheitsfalle an den Kosten beteiligt werden? Timo Rieg verneint auch das:

Eine erzieherische Lenkungswirkung darf man ebenfalls ausschließen […]. Niemand wird sich nur deshalb für die Impfung entscheiden, weil hohe Selbstbeteiligungskosten bei einer ITS-Einweisung drohen; denn das Risiko der lebensgefährlichen Erkrankung ist für den einzelnen nicht sehr real, entsprechend wird nicht abgewogen zwischen Impfung oder Intensivstation, sondern schlicht zwischen Impfung und Nicht-Impfung.

Timo Rieg am 17. Februar 2022

Er verglich das Beispiel dann noch mit dem Skifahren:

Wer würde noch Skifahren, wenn er damit rechnete, so schwer wie Michael Schumacher zu verunfallen? Und wer würde es nur lassen, weil die immensen Behandlungskosten zumindest teilweise selbst zu tragen wären?

Timo Rieg am 17. Februar 2022

Liest man sein Argument – eigentlich sind es nur rhetorische Fragen – streng, dann wäre es falsch, sobald sich nur eine Person durch eine mögliche Kostenbeteiligung zur Impfung bewegen lässt. Doch lesen wir Rieg wohlwollend in dem Sinne, dass sich durch die Maßnahme keine relevante Zahl von Menschen zur Impfung bewegen ließe.

Dann ist die Antwort aber gar nicht so deutlich wie Rieg hier suggeriert. Durch die Einführung von Einschränkungen für Ungeimpfte ließen sich durchaus Menschen zur Impfung bewegen. Fakt ist aber auch, dass es einen harten Kern gibt, der sich selbst im Falle einer Impfpflicht widersetzt.

Impfpflicht und Menschenrechte

Mit Blick auf die Menschenrechte wäre es ausgeschlossen, diese Menschen mit körperlichen Zwangsmitteln zu impfen. Das gäbe ein demokratischer Rechtsstaat nicht mehr her. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat aber bereits klargestellt, dass verhältnismäßige finanzielle Strafen zulässig sind.

Das heißt, dass auch demokratische Rechtsstaaten die Möglichkeit haben, zum Gesundheitsschutz unter bestimmten Bedingungen von ihren Bürgerinnen und Bürgern eine Impfung zu erwarten. Selbstverständlich müssen die Impfungen dafür sicher sein und darf es kein milderes Mittel zum Erreichen des Ziels geben. Außerdem muss das Risiko von Impfschäden minimiert werden. Kommt es doch dazu, muss dafür gesorgt werden.

Auf erzieherischem Niveau ist die Antwort meiner Meinung nach jedenfalls viel weniger deutlich, als Timo Rieg es suggeriert. Aufgrund des sozialen Friedens habe ich mich aber selbst immer wieder gegen eine Impfpflicht ausgesprochen. Wäre eine Beteiligung an den Krankheitskosten vielleicht ein Zwischenweg?

Zur Gesetzeslage

Schauen wir dafür kurz auf die Gesetzeslage. Bundesrichter Schlegel und in der Folge dann Rieg verweisen hier auf § 52 des fünften Sozialgesetzbuches. Dessen erster Absatz spricht von durch Vorsatz zugezogenen Erkrankungen, der zweite von Krankheiten durch Schönheitsoperationen, Tätowierungen oder Piercings.

Der Gesetzestext ist für die hier strittige Frage ziemlich dünn. Jemand entscheidet sich in einer Pandemie zwar bewusst für oder gegen die Impfung. Selbst bei Ungeimpften kann man nach meinem Dafürhalten aber nicht davon sprechen, dass diese vorsätzlich an Covid-19 erkranken.

Nun enthalten Gesetze allgemeine Formulierungen, die im Streitfall auf Einzelfälle übertragen werden müssen. Genau aus diesem Grund leisten sich Rechtsstaaten Richterinnen und Richter. Und wenn der Präsident des Bundessozialgerichts eine entsprechende Auslegung zumindest für möglich hält, sollte man das ernst nehmen. Immerhin haben er und seine Kolleginnen und Kollegen hierzu das letzte Wort.

Einen weiteren Hinweis geben Gesetzesbegründungen. Diese werden regelmäßig dazu herangezogen, um zu verstehen, was er Gesetzgeber (in unserem Fall: der Deutsche Bundestag) mit einem Gesetz gemeint hat. Und im Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 7. Dezember 2007 findet sich zum § 52 SGB V das Folgende:

In § 52 ist den Krankenkassen das Recht eingeräumt, Versicherte, die sich eine selbstverschuldete oder selbst zu verantwortende Krankheit zugezogen haben, an den Krankheitskosten zu beteiligen und Krankengeld ganz oder teilweise zu vesagen oder zurückzufordern.

Gesetzesentwurf vom 7. Dezember 2007

Corona, Impfungen und das Prinzip Verantwortung

Hier geht es also nicht nur um Vorsatz, den im Einzelfall übrigens ein Gericht feststellen muss, sondern um das Verantwortungsprinzip. Auf dieses bezieht sich auch der Bundesrichter ausdrücklich.

In diesem Zusammenhang komme ich noch einmal auf Riegs Skibeispiel zurück: Er stellt die rhetorische Frage, wer dieser Freizeittätigkeit noch nachginge, wenn er damit rechnen würde, einen schweren Unfall wie Michael Schumacher zu erleiden. Antwort: zumindest einmal Schumacher und andere Formel 1-Fahrer.

Allgemeiner sollte man hier bedenken, dass Menschen Risiken unterschiedlich wahrnehmen und einschätzen. Beispielsweise sind jüngere Männer für ein riskanteres Verhalten im Straßenverkehr oder im Umgang mit Substanzkonsum bekannt, unter Umständen auch beides zusammen.

Tatsächlich waren deshalb noch bis Ende 2012 Kfz-Versicherungen für junge Männer teurer als für junge Frauen. Doch dann urteilte der Europäische Gerichtshof, dass die Versicherungsbedingungen geschlechtsneutral formuliert sein müssen. Die neuen Unisex-Tarife waren dann übrigens sowohl für Frauen als auch für Männer teurer.

Das zeigt uns, dass es eine gesellschaftliche Frage ist, wie wir mit Verantwortung umgehen. Skifahren halten wir für "normal". Im Übrigen haben auch die wenigsten Skifahrer schwere Unfälle.

Wer aber beispielsweise extreme Risiken in Kauf nimmt, indem er etwa außerhalb der abgesteckten Pisten fährt, kann durchaus für die Folgen verantwortlich gemacht werden. Im Einzelfall müsste das eine Krankenkasse natürlich nachweisen.

Manch einer wird seine waghalsigen Kunststücke, aber selbst auf Sozialen Medien verbreiten, um seine Follower damit zu beeindrucken. Menschen teilen heute ja sogar Videoaufnahmen, die sie beim Begehen von Straftaten filmen, beispielsweise bei Randale. Kurzum, schon heute gilt das Prinzip Verantwortung. Für Extremsportler gibt es entsprechende private Versicherungen.

Rechtliche Kategorien

Um unseren Umgang mit Verantwortlichkeit besser zu verstehen, kann man die rechtlichen Kategorien analysieren. Das Recht unterscheidet hierbei Fahrlässigkeit, grobe Fahrlässigkeit und Vorsatz.

Erstere bedeutet, salopp gesagt: "Dumm gelaufen, doch hätte jedem passieren können." Bei Letzterem geht es um bewusste Absicht. Dazwischen findet sich der Graubereich, in dem jemand die Folgen zwar nicht beabsichtigte, doch stärker hätte aufpassen müssen.

Und in diesem Bereich sollte man die Verantwortung für die Impfung suchen: Jemand, der sich ohne medizinischen Grund und trotz Verfügbarkeit eines sicheren und wirksamen Impfstoffs nicht impfen lässt, handelt in einer Pandemie grob fahrlässig. Denn in einer Pandemie ist jedem das hohe Risiko bekannt, sich mit einer ernsthaften Krankheit zu infizieren.

Da auch die Ungeimpften in aller Regel nicht an Covid-19 erkranken wollen, steht Vorsatz außer Frage. Durch individuelle Maßnahmen kann er oder sie zudem die Wahrscheinlichkeit beeinflussen, das Virus übertragen zu bekommen. Wer trotzdem infiziert wird und dann schwer erkrankt, muss sich von der Gesellschaft die Frage gefallen lassen, warum auf den wirksamsten Schutz verzichtet wurde, nämlich die Impfung.

Impfstatus ist politisch geworden

Auch laut einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags wäre es schwer, hier einen Vorsatz nachzuweisen (WD 9 - 3000 - 109/21 vom 7. Januar 2022, lag dem Autor vor). Die Beweislast liege zudem bei der Krankenversicherung.

Die Fachleute weisen allerdings darauf hin, dass sich das vielleicht mit der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht ändern würde. Dann könnte nämlich "das Unterlassen der Schutzimpfung ein vorsätzliches Vergehen durch pflichtwidriges Unterlassen im Sinne des § 52 Abs. 1 […] SGB V darstellen." Das würde von der konkreten Ausgestaltung der Impfpflicht abhängen. Ob die aber wirklich kommt, ist zurzeit noch gar nicht klar.

Dass Impfungen – eines der besten medizinischen Mittel zur Bekämpfung schwerer Erkrankungen – heute vielfach zur Lifestyle-Entscheidung wurden, ist ein Zeichen unserer Zeit. Meines Erachtens äußert sich darin, ähnlich wie in der Beliebtheit von Alternativmedizin, auch eine Unzufriedenheit mit dem herrschenden System.

Dabei sollte man "herrschendes System" nicht nur mit Bezug auf den Gesundheitssektor verstehen. Vielmehr ist der Impfstatus inzwischen politisch geworden. Dass es bei den Impfungen in Deutschland so ein starkes Gefälle zwischen dem Nordwesten und dem Südosten gibt, ist hierfür ein deutliches Indiz.

Zudem sind Regionen mit vielen Ungeimpften oft auch Regionen, in denen tendenziell extreme Parteien oder gar nicht mehr gewählt wird. Anstatt das gewünschte Verhalten zu erzwingen, beispielsweise mit einer Impfpflicht, könnte man sich also auch überlegen, die rund 30 Prozent Nicht- oder AfD-Wähler wieder stärker in die Gesellschaft zu integrieren.

Ausblick

Ich fasse zusammen: Ausschlaggebend sollte nicht das ökonomische Argument sein. Das Gesundheitssystem muss nach wie vor solidarisch sein.

Solidarität ist aber keine Einbahnstraße. Sie schließt auch eine bestimmte Eigenverantwortlichkeit mit ein. Bei Extremsport, bestimmten Hobbys oder Schönheitsmaßnahmen ist das schon heute so.

Wer sich auf die Solidarität beruft, muss auch an die vielen Patientinnen und Patienten denken, denen aufgrund schwerer COVID-Erkrankungen in der Pandemie nicht mehr oder erst zu spät geholfen werden kann. So haben medizinische Fachleute beispielsweise berechnet, dass wegen Covid-19 jede siebte potenziell lebensrettende Tumoroperation abgesagt werden musste.

Auch hier geht es um Patienten und Angehörige, die Solidarität und Schutz verdienen. Es geht nicht nur um abstrakte Kosten, sondern um tatsächliche Menschen, die unnötig gestorben sind, weil andere sich nicht impfen ließen.

Zudem hat uns die Coronapandemie 2020 bis 2022 erst eine Vorschau darauf gegeben, welchem Druck das Gesundheitssystem wegen der überalternden Gesellschaft ausgesetzt ist. Schon heute sind Lohndumping in Medizin und Pflege an der Tagesordnung, bis hin zur schwarzen Beschäftigung ausländischer Pflegekräfte, die mit noch weniger Lohn auskommen. Die Kosten werden in absehbarer Zeit also noch viel stärker zunehmen.

Um den hohen Standard aufrechtzuerhalten, wird man meiner Meinung nach nicht um ein System herumkommen, in dem es auch um individuelle Verantwortung geht. Ein großer Vorteil von Impfungen ist dabei, dass sie – anders als gesunde Ernährung oder Sport – kaum individuellen Aufwand erfordern, insbesondere keine dauerhafte Anstrengung.

Wer Solidarität mit Impfgegnern fordert, der sollte mit einer konkreten Antwort dafür kommen, wie sich das Gesundheitssystem in Zukunft finanzieren lässt. Schon bei den Renten, Pensionen und Staatsschulden kommen auf zukünftige Generationen erhebliche Belastungen zu.

Natürlich gilt es trotzdem, Exzesse durch Privatisierungen und schlechtes Gesundheitsmanagement zu kritisieren und zu verhindern. Zudem sollte der Gesetzgeber eine deutlichere Formulierung finden, als es der heutige § 52 SGB V hergibt – falls er dem Prinzip Verantwortung folgen will.

Einen Richter, der das Prinzip Verantwortung betont, als Populisten darzustellen, halte ich aber in jedem Fall für einen Fehlgriff. Was hat das mit Egoismus und Neid zu tun? Timo Riegs Argumentation scheint mir in Zügen viel populistischer. Doch mit solchen Vorwürfen sollte man sparsam umgehen, weil die Begriffe sonst irgendwann gar nichts mehr bedeuten.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.