Krawattenzwang

Berlin Beta 3.0 versus Internet World Berlin 2001 - ein Abgesang

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Das klingt gut. Die Presseabteilung spricht von einem "erfolgreichen Start" der fünften "Internet World Berlin 2001" in Berlin. Und das nach dem Börsen-Gau. Hilft nix. The party is over but the show must go on. Welche Show? Wer spielt weiter?

Nach der Desaster-Pink-Slip-Party Anfang Mai in Berlin jetzt die "europaweit größte Internet-Messe" mit dem Sturzflug zurück in die Regeln der Old Economy. Die Messehallen 1-6 mit 1000 Ausstellern bieten online-Services, einen Kongress zu Profipreisen (3000,- DM wollen vom übrig gebliebenen Venture-Obulus bezahlt sein,wert sind sie es angesichts der dürren Podien nicht) und eine parallel stattfindende Messe "Streaming Media Berlin 2001". Allerdings müssen schon die Gemeinschaftsstände und diverse Lückenfüller dazu addiert werden, die auf abgesagte oder nicht verkaufte Standplätze hinweisen. Aber das tut dem ganzen ja keinen Abbruch, wenn der Rest stimmt.

Wir erinnern uns. Die Berlin Beta im September 2000 bietet noch das volle Spektrum des digitalen Kindergartens. Viel Erwartung, zeitgemäße elektronische Tanzmusik und abgefahrenes Design verbinden sich zu einer Melange, die selbst damals schon vorsichtig auf das Ende des Hypes hinweisende Venture Capitalists nicht von ihren Podien herunter bremsen konnten. Man war très chic, absolutely committed und leider auch vollkommen naiv. Nur erst einmal irre tolle Websites schustern und die herumschwirrenden Dollars abfangen. Der Rest würde sich inklusive Break Even Point schon ergeben.

Nun hat der Winter neben der geschichtlich einmaligen Implosion eines Finanzsegments und der Ernüchterung über die New Economy unter anderem eines gebracht: Die Frage, wer denn die "Internet World Berlin 2001" noch auf der unternehmerischen Seite erleben würde. Und wer stattdessen das Parkett bespielen würde, das die Start-ups gerade verlassen.

Zugegeben: Der Vergleich ist schwarz-weiß und nicht ganz fair, denn bei der einen Veranstaltung hatten mehr "die Kreativen" das Sagen und bei der anderen jetzt die Techniker und Service-Leister. Oder doch nicht. Gemessen werden sie beide an Return on Investment, und das kann im Jahr 2001 unnachgiebig sein.

Irgendwie ist der Spaß vorbei. Krawatten und Kostüme statt Kaki und Koks. Die Internet-Freaks sind noch unter den Besuchern zu finden. Am meisten in der Halle 1.1, dort wo die neuen Jobs vermittelt werden. Aber die Computerwoche liegt mit dem Aufmacher "erstmals weniger IT-Jobs" überall aus. Die "alten Hasen" hoppeln ein wenig verloren durch die Gänge. Man ist sehr zahlreich geworden und kennt deshalb nicht mehr jeden. Aber alle haben Geldsorgen. Die Kredite wollen auch zurückgezahlt werden.

Mehr Besucher sollen es gewesen sein als vergangenes Jahr. Und der Fachbesucher-Anteil scheint gewachsen, die Gänge füllen sich nicht erst nach Schulschluss. Das tut in diesem Falle den Ausstellern gut, die jetzt wirklich auf der Messe dealen können, oder wegen des uninspirierten und/oder inhaltslosen Auftritts durch Nichtbeachtung abstrafen. Ein Hauch Systems oder CeBIT weht durch die Gänge, allerdings fragt sich dann auch, ob nicht auch diese Veranstaltungen reichen würden. Wozu noch eine eigene Internet-Messe, wenn die Teilnehmer am Rande des Ruins sind?

Irgendwie hat das alles mit dem Obst zu tun, das so zahlreich an den Ständen ausliegt. Jetzt wird geerntet, jetzt verrottet der ungenießbare Rest. Ungenießbar könnten vor allem zwei Eigenschaften an Produkten sein:

- Verzweifelte Versuche, immer noch den BtoC-Markt zu erschließen wie snacker.de. Konsumenten bauen sich ihr Leben nun einmal nicht zusammen wie Unternehmen. Das Web ist hier immer noch so umständlich wie der eigene Garten, den auch nicht jeder für sein täglich rot bestellen möchte.

- Seltsame Techniken, die in die Spielkiste gehören wie zum Beispiel gleich 4 Anbieter von Echtzeit-Avatar-Assistenten. Da lallt eine Comicfigur etwas von "Helfen" und "Leider nicht bekannt" ... und das in einer Zeit, in der Office XP Karl Klammer in den Ruhestand schickt.

Der Dresscode hat sich über den Winter endgültig verändert. Feines Tuch sagt: "Ich kenne mich in der Welt der Bilanzen aus, Dein Skateboard war ganz nett, aber jetzt lass mal die Profis ran." Wer in der Welt des kommerziellen Internets auftreten will, der sollte das nicht mehr mit Bag und Seitentaschen tun.

Und wenn man nach den Ständen auf dem Berliner Messegelände geht, dann sollte man auch nicht mehr die abgefahrenste Business-Idee präsentieren, sondern sich auf 2nd Level Services konzentrieren. Wie treibe ich für meine Kunden die Schulden von Online-Bestellern ein? Wer garantiert mir Datensicherheit? Um es überspitzt auf den Punkt zu bringen: Ein Business wie jedes andere. Eine Fleischer-Fachmesse und eine Internet-Show unterscheiden sich in der Art der Tools, aber nicht in Ausrichtung und Intention. Geld verdienen, sich positionieren und die eigene Branche irgendwie mögen.

So wirken auch Instant-Freaks wie Ossi Urchs auf dem Podium eher wie ein drolliges Relikt und die Erinnerung daran, dass da einmal die Vision einer neuen Gesellschaft, zumindest einer neuen Art der Ökonomie war. Das hat sich zumindest in Berlin erledigt.

Dabei sollte man jetzt nicht in Endzeitstimmung verfallen. De facto ist aus den .COMs und ihrer Logistik-Szene eine ernstzunehmende Branche geworden, ohne die das wirtschaftliche Zusammenspiel heute nicht mehr auskommt. Sonst gäbe es solche Messen nicht. Das Einbrechen der Märkte, so ein immer wieder auftauchendes Argument, habe einfach nur die Spinner und Blender aus dem Spiel genommen. Jetzt werde das Business seriös.

Man würde so etwas aber gerne differenzieren. Es werden mehr sozialisierte Zeichen der Seriosität gesetzt, ohne dass deshalb die Spinner verschwinden müssen. Eine Krawatte macht nicht vernünftig und ein klassischer Webauftritt noch nicht konventionell. Es ist ehrlich gesagt auch niemandem zu verdenken, dass er sich wie ein Geschäftsmann statt wie ein "Angehöriger der New Economy" - was immer das sein soll - verkleidet. Das ist weniger anstrengend und auch bei Taufen und Hochzeiten leicht zu tragen.

Geblieben sind die Obstschalen, die auch als winziges Zitat einer selbstausbeuterischen Kultur voller Tagträume, Versprechungen und Phantasmen gelesen werden können. Es fehlen noch die Kühlschränke mit den Freigetränken, die sich IT-Firmen aus pragmatischen Gründen aufgestellt haben, die aber als unbedingtes Zeichen einer neuen Arbeitskultur gelten. Und so ein Stück Obst, das eigentlich nur den Messestand verzieren soll, wird auf diese Weise plötzlich zum Symbol des Sündenfalls von Datenfreaks, die sich in die Businesswelt verbissen haben und jetzt aus ihrem Cyber-Eden gejagt das tägliche Brot viel bitterer verdienen müssen als mancher aus der noch im Herbst verspotteten Old Economy.