Kriegsmediengeschichte als Kulturwissenschaft

Friedrich Kittler gründet die Kulturgeschichte auf Pulver und Blei

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Natürlich sei "Kultur so alt wie die Menschheit", leitet Friedrich Kittler, Professor für Ästhetik und Geschichte der Medien am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin, in seine erste Vorlesung über "Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft" ein, und zwar als "Praxis" genauso wie als in die jeweiligen "Techniken und Institutionen" eingelassenes "Wissen", doch beginne die "Kulturwissenschaft in unsrem Wortsinn erst mit Vico". Die Frage nach dieser gigantischen Zeitspanne "zwischen einem Wissen und einem Wissen von diesem Wissen" spitzt Kittler, der wohl profilierteste Medientheoretiker Deutschlands, zu auf das Problem, was gerade unsere "Kultur des neuzeitlichen Europas" exklusiv dazu gebracht haben könnte, "das in jeder Kultur vorhandene kulturelle Wissen noch einmal reflexiv zur Wissenschaft zu erheben".

Alles in der Geschichte des alteuropäischen Denkens spricht eigentlich gegen eine solche Reflexivität, weil sie - selbstreflexiv angewendet auf die eigene Kultur - deren Grundfesten erschüttern würde. Der griechische oder römische Blick auf andere "Kulturen" würde nie zu der Überlegung führen, woanders würden gleiche Probleme anders gelöst als in der eigenen "Kultur", was ja den Gedanken nahe legen könnte, es auch hier einmal anders zu versuchen. Anstatt derart Alternativlösungen zu importieren mit der Folge, heimische Institutionen und Techniken kontingent zu setzen, hielt man an der substanziellen (alternativlosen) Wahrheit der eigenen "Kultur" fest, um alle Alternativen als unterlegene Barbarei abzutun. Das duale, metaphysische, ontologische Erkenntnisschema ließ keine anderen Beobachtungen zu.

Kulturwissenschaft

Dies heißt nicht, man hätte das Andere nicht wahrgenommen, im Gegenteil: "Die menschliche Erkenntnis", so Kittler, "symbolisiert durch das menschliche Auge, ist von Haus aus so arm und begrenzt, dass sie zunächst immer nur auf das fällt, was anders oder fremd ist." Aber aus dieser Grundeinstellung abendländischer Epistemologie folgt nicht die Frage, warum denn das eigene so ist, wie es ist, wo man doch sieht, dass es woanders auch anders geht. Vielmehr führt sie umgekehrt dazu, dass "Philosophien [...] die Kultur, deren Teil sie selber sind, notwendig übersehen", und sich lieber der "Naturerkenntnis" widmen, also dem (vermeintlich) Unwandelbaren, Ewigen, Substantiellen.

Damit macht Vico Schluss mit einer erstaunlichen Volte. Er geht ganz christlich-katholisch davon aus, dass "die Erkenntnis der Natur einzig und allein dem Gott vorbehalten bleibt, der besagte Natur auch selbst erschaffen hat". Dieses Prinzip der Erkenntnis wird dann umgehend mit einem Analogieschluss zu der These säkularisiert, dass dann auch der Mensch das und nur das erkennen könne, was er selbst geschaffen habe. Und da, so Giambattista Vicos Scienza nuova, "die historische Welt ganz gewiß von Menschen gemacht worden ist und darum ihr Wesen in den Veränderungen unseres eigenen Geistes zu finden sein muß", muss auch eine historische Wissenschaft der Erkenntnis dieser Veränderungen und ihrer Gesetzmäßigkeiten möglich sein.

Da Vico alles von Menschenhand Geschaffene und von Menschengeist Gedachte lammfromm für irdisch, vergänglich und veränderbar hält, wird die gesamte historische Welt kontingent gesetzt. Alles, was uns als selbstverständlich erscheint, unsere "Sprachen und Sitten" etwa, sind also nicht notwendig so, wie sie sind, sondern Teil einer kontingenten historischen Formation: einer Kultur. "Während die Naturwissenschaft die gottgeschaffene Natur im Unterschied zum Schöpfer selbst laut Vico ja gerade nicht begreifen kann", wird unter dem Aspekt der Kultur die ganze Gesetzmäßigkeit menschlicher Geschichte lesbar. Die Kulturen im Plural werden diachron und synchron verglichen, so dass Vico das ewige Schema ihrer Entwicklung in den Blick bekommt: "Aufstieg, Fortschritt, Zustand, Verfall und Ende." Es gehört zur Konsequenz Vicos, dieses Schema auch auf die eigene Epoche anzuwenden und dem Leser seines Buches vorzuschlagen, er solle sich "vorstellen, daß dieses Werk in einer seit über tausend Jahren verschütteten Stadt kürzlich ausgegraben sei".

Zu einer derartigen Verzeitlichung und Relativierung des eigenen Denkens wären die von der heiligen und ewigen Mission ihrer Imperien überzeugten Denker oder Theologen Roms überhaupt nicht fähig gewesen. Zwar ist der Verfall einer Staatsform ein antiker Topos, aber die Vorstellung, dass die trojanischen, ägyptischen, griechischen oder gar altorientalischen Kulturen genau denselben historischen Zyklen unterworfen sein sollen wie Rom hätte kaum einem Römer eingeleuchtet. Vicos Kulturwissenschaft hat also gerade dort strenge Naturgesetze gefunden, wo kein alteuropäischer Denker sie je vermutet hätte: in der menschlichen Geschichte. Die Frage nach dem Wissen des Wissens hat so erstmalig eine Antwort bekommen.

Was man weiß, weiß man als Teil einer historischen Epoche

Bei Herder, Voltaire, Hegel und ihren Nachfolgern wird Vicos Kreislauflehre in ein teleologisches Forschrittskonzept umgegossen, dass die Kulturen an einer "ständig zunehmenden Lernkurve" anordnet. Ein Reich gibt dem nächsten die "Fackel der Bildung" weiter, von Ägypten übers antike Griechenland bis Frankreich und Preußen. Die hier wirkende "Geschichtsphilosophie" funktioniert "wie ein Scheinwerfer, der nur jeweilige Kulturgipfel beleuchtet und aus der Nacht der Zeiten herausschneidet." Dass es beispielsweise Griechenland um 1800 ja immer noch gibt, ist dieser Kulturgeschichte ziemlich gleichgültig, schließlich "ersetzen verkohlte Hammelbraten, auch Souflakis genannt, noch keine platonischen Dialoge."

Der Stafettenlauf der Höhenkamm-Geschichte hat ein Ziel bekommen, das Hegel zufolge im preußischen Staat erreicht ist, "indem die Intelligenz oder Vernunft wirklich und die Wirklichkeit vernünftig ist, einfach weil er auf Beamten wie Hegel und Generalstabschefs wie Gneisenau ruht". Diese Begründung Kittlers reformuliert aber nicht mehr die Position der deutschen Kulturwissenschaft, sondern stellt diese selbst in einen kulturwissenschaftlichen Kontext. Nicht das Selbstverständliche der eigenen Kultur, sondern die Kulturwissenschaft selbst wird nun kontingent gesetzt und in eine Geschichte eingeordnet. Diese ist, der Name Gneisenaus deutet es an, eine Militärgeschichte. Die Selbstreflexion der Kulturwissenschaft tritt bei Kittler an als "Kriegsmediengeschichte".

Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft

Deren entscheidende Frage "zielt nicht auf das Fremde, sondern auf das Eigene: Was hat Europa zur Wiege gleichermaßen von Imperialismus und Kulturwissenschaft prädestiniert?"

Bei Constantin François Volney zeichnet sich eine Antwort ab. Er bereist Ägypten und Syrien, schreibt einen detaillierten Reisebericht und kommentiert anschließend kenntnisreich den Krieg Russlands und Österreichs gegen den türkischen Sultan. Im "blutjungen Artilleriegeneral" Bonaparte finden der Nahost-Experte seinen "aufmerksamsten Leser". Napoleon holt aus ihm "strategische Informationen für seinen Ägyptenfeldzug von 1798 heraus". Der Imperialismus bedient sich beim Kulturwissenschaftler; die Republik richtet ihm zum Dank und künftiger Nutzung kultureller und geopolitischer Studien einen Lehrstuhl ein; der Kaiser der Franzosen ernennt ihn zum "Grafen und Kommandeur der Ehrenlegion".

Parallel zum Erfolg des erobernden Kaiserreiches erklettert so "die Kulturwissenschaft die Leiter zur Staatsmacht." Diese Kollaboration ist überaus wirkungsmächtig. So sieht etwa Volneys Kulturgeschichte "über der Krim und am Schwarzen Meer" furchtbare "Heuschreckenschwärme" aufsteigen, "asiatische Nomadenvölker", die bereit sind, über die Territorialstaaten herzufallen. Diese Bedrohung des Abendlandes durch eine "Rasse gelber schief-blickender Schakale aus der Wüsten", wie Victor Hehn 1870 formuliert, hat als Topos Geschichte gemacht, aber schon 1791, zur Zeit des Türkenkrieges, schlägt so "Geschichtsphilosophie" in "Orientpolitik" um.

Bereits 1795 bemerkt ein skeptischer Immanuel Kant in seiner Schrift zum "Ewigen Frieden", dass China und Japan den Europäern den Zugang zu ihrem Land genau deshalb versperren, weil auf "Entdeckung" und "Erkundung" der fremden Kultur bislang immer noch "Unterdrückung der Eingebornen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit" auf dem Fuße folgten. Die Bereisung "entfernter Weltteile", die Voraussetzung aller Kulturwissenschaft, wird so im Kern als imperialistisch entlarvt. (Dass hier leicht der "Anschein" entstehen könnte, es mit einer "Philosophievorlesung" zu tun zu haben, wird übrigens von Kittler selbst konzediert, aber es geht ihm ja darum, gerade die "heiligen Texte" in seine Mediengeschichte des Krieges einzuschreiben.)

Bei Hegel gerät die Allianz von Kulturwissenschaft und Imperialismus zur Einheit von "Buchdruckerkunst" und "Schießpulver", die beide "ganz dem modernen Charakter" entsprechen. Die Moderne wird aus Pulver und Blei geboren, aus Kriegs- und Medientechnik. Die "Exklusionsbeziehung zwischen Kriegsgeschichte und Kulturgeschichte", die Kittler allüberall konzediert, ist bei Hegel also eine der Inklusion. Wenn Hegel "Kulturgeschichte treibt, dann nicht mehr im Blick auf die Künste, sondern im Blick auf die Techniken", und diese Techniken sind zumal solche der Verbreitung und Vernichtung. "Und weil Hegels Geist nur in dem Maße frei und mächtig heißt", so Kittler, "wie er sich dem Tod aussetzt, fungieren Meere, weil sich die Seefahrer auf sie wagen, als geographische Verbindungen [...] Zum erstenmal, soweit ich sehen kann, wird die Weltgeschichte also als Raum möglicher Globalisierung gedacht." Seefahrt tut not, weil, wie Kant allen seefahrenden Nationen unterstellt, alle Erdteile für den Handel erschlossen und ausgeplündert werden sollen.

Hegel nimmt gar nicht erst den Handel, sondern gleich die Folgen in den Blick: den Krieg. In einem Aufsatz für das "Kritische Journal der Philosophie" liest man: "So ausgerüstet mit dem Höchsten, was der menschliche Verstand ersonnen, durchziehen Kriegsflotten durch den Sturm und die Wellen die Meere, um einander umzubringen". Der Wunsch, einander umzubringen, führt den menschlichen Verstand zu immer neuen Höchstleistungen technischer Erfindungen; und Hegel ist der Überzeugung, dass diesem Wunsch größte Beständigkeit zukommt, denn es ist durch die "Individualität der sittlichen Totalität die Notwendigkeit des Kriegs gesetzt, der - weil in ihm die freie Möglichkeit ist, daß nicht nur einzelne Bestimmtheiten, sondern die Vollständigkeit derselben als Leben vernichtet wird, und zwar für das Absolute selbst oder für das Volk - ebenso die sittliche Gesundheit der Völker in ihrer Indifferenz gegen die Bestimmtheiten und gegen das Angewöhnen und Festwerden derselben erhält, als die Bewegung der Winde die Seen vor der Fäulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Stille, wie die Völker ein dauernder oder gar ein ewiger Frieden, versetzen würde."

Der Ewige Friede, Kants Traumziel menschlicher Geschichte, wäre für Hegel nichts als faule Windstille. Der Krieg ist die frische Brise, welche die Menschheit vor der Kristallisation (Angewöhnen und Festwerden) bewahrt.

Kittler kommentiert Hegels nüchternen Befund, die Moderne komme in Pulverdampf und Druckerschwärze zur Welt, so: "Erst Hegel bewertet beide Techniken positiv und gleich: als Waffen eines Allgemeinen, das alle schlechte Besonderheiten aufhebt. Eben damit, darf man wohl sagen, gehen artilleristische Techniken in Medientechniken auf [...] Im »Pulverdampf« setzt sich die historische Wahrheit durch, dass moderne Kriege »Verbrechen für das Allgemeine« sind". Kriege benötigen immer neue Technologien - und der Weltgeist benötigt immer neue Kriege, um sein historisches Ziel zu erreichen, das bei Hegel Preußen heißt und bei späteren Kulturwissenschaftlern andere Namen trägt.

Krieg - in Krieg und Frieden

Der Krieg bringt aber nicht nur immer neue Waffen hervor, die dann im Zivildienst den kulturellen Fortschritt vorantreiben, sondern auch immer neue Philosophien, die die Waffen der Zeit auf den Begriff bringen.

Nietzsche etwa empfängt nicht nur 1871 "sein erstes und letztes Buch im Donner der Schlacht von Metz" (es ist noch immer die Artillerie als technisch anspruchvollstes Kriegswerkzeug, die hier eine Rolle spielt. Ihr Pulverdampf bringt als "kulturelle" Spin-Offs die Differentialrechnung hervor, die Polytechnischen Hochschulen, Heideggers "Sein und Zeit" etc. pp.), sondern entwickelt selbst eine äußerst kriegerische Philosophie, in der "grosse Politik" und unerhörte "Kriege, wie es noch keine auf Erden gegeben hat", in eins fallen. Bei Volney oder Hegel haben die Staaten "unter anderem auch die Kultur mobil gemacht", bei Nietzsche dagegen mobilisiert die Kultur alles andere zum Ewigen Krieg, den wir heute vielleicht einen Clash of civilizations nennen würden. "Grosse Politik [ist] einzig und allein Kulturkampf".

Also sprach Zarathustra: "Wir müssen ihn hören, ihn, der lehrt: ›ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen, und den kurzen Frieden mehr als den langen!‹" Für die Kultur folgt daraus, dass sie in Krieg und Frieden vom Krieg bestimmt wird. So sieht es auch Kittler: Seitdem Kriege "um neue Waffen für neue Kriege" geführt werden, ist jede Nachkriegszeit eine Vorkriegszeit. Kittler spricht schon seit langem lakonisch vom WK n+1. Der triumphale Eintritt der Kriegstechnik in die Epoche der Computer (mit Turings kriegsentscheidender Entschlüsselung der Enigma) hat die uralte Unterscheidung von Krieg und Frieden dann endgültig eingezogen in einem Dauerzustand "allgegenwärtiger unerklärter Kriege".

Aber nicht bei Nietzsche, sondern in Ernst Kapps "Philosophie der Technik" von 1877 wird die Kriegsmediengeschichte erstmals auf den Begriff gebracht. Da "neue Waffen kulturhistorisch" alles andere sind als "zeitlose Konstanten", muss sich die Kulturgeschichte fragen, wo diese eigentlich herkommen. Kapp stellt diese Frage und deutet Werkzeuge und Waffen zunächst als "Organprojektionen", die das Mängelwesen Mensch sich schafft, um die empfindliche Faust zum Faustkeil zu verbessern. Nachdem Kapp so Freuds "Prothesengott" und McLuhans Deutung der Medien als »Extensions of Man« vorweggenommen hat, überbietet er diese These selbst mit einer weiteren, die besagt, "dass ein Werkzeug das andere erzeugt". "Seitdem wir wissen", kommentiert Kittler, "dass Computer gar nicht von Menschen, sondern von anderen Computern gebaut werden können, leuchtet diese zweite Rückkopplungsschleife immer mehr ein."

Mit diesem Re-entry steht eine Formel zur Verfügung, die die Eskalation der medialen Evolution zu erklären vermag. In nur fünfhundert Jahren, seit die Moderne mit Pulverdampf und Bleilettern begonnen hat, hat die Allianz von Krieg und Medien die Kulturgeschichte beschleunigt, bis nun diese beiden Alliierten in Gestalt des Digitalcomputers zusammengefallen sind, dessen zivile und militärische Nutzung (dual use) kaum zu unterscheiden ist.

Die Jahrhunderte alte Koevolution von Medien- und Militärtechniken, die Kittler vor kurzen in einem brillanten Überblick von nur einer Seite (in der FAZ am 25. 11. 00) nacherzählt hat, findet aber im Computer keinesfalls ihr Ende. Kittler empfiehlt, "dem digitalen Paradigma zu misstrauen", denn "alle Technologien haben sich als verwundbar, als überbietbar erwiesen - warum sollten Computer die einzige Ausnahme machen?" Was immer auch kommen mag, die Kriegsmediengeschichte wird weitergehen. Es wäre möglich, dass ihr Historiker nicht in der Physik (von der Artillerie bis zum integrierten Schaltkreis) zu Hause sein müsste, wie Kittler, sondern in der Biologie.

Friedrich Kittler: "Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft", Wilhelm Fink Verlag, München 2000, 260 Seiten.