Künftig wird es keiner mehr bemerken, wenn es Streiks gibt

Frankreich: Der Präsident drückt wieder auf den Provo-Knopf

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"La Grève" zu deutsch "der Streik" gehört zum französischen Grundvokabular, zu den hundert wichtigsten Wörtern. Einem Französischkurs an der Münchener Universität war la Grève vor einigen Jahren noch ein eigenes Kapitel wert und wer kennt die Binsenweisheit nicht, die seit Jahrzehnten verkündet, dass sich die Franzosen und die Italiener "nichts gefallen lassen" und gleich auf die Straße gehen, während die Deutschen brav zuhause bleiben. Und wer einmal im Nachbarland war, während dort gestreikt wurde, vergisst das nicht - all das soll ab jetzt nicht mehr gelten: Der französische Präsident verkündete am vergangenen Wochenende, "dass es von nun an keiner mehr bemerken wird, wenn es einen Streik gibt". Seither ist eine gewisse Aufregung auf der anderen Seite des Rheins zu bemerken.

Erst verärgerte Sarkozy mit groß hinskizzierten Streichungen die Militärs (vgl. Frankreich reloaded), dann die Angestellten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens mit seinen Reformplänen und nun ist, nach den Worten eines Kommentators, "die soziale Bewegung in ihrer Gesamtheit dran". Der Präsident versteht es, auf sich aufmerksam zu machen. Der Effekt Sarkozy scheint sich noch nicht ganz abgenutzt zu haben.

Seit er am Samstag den erwartungsvollen Delegierten seiner UMP, die sich zum Conseil national trafen, mit der Schneidigkeit eines Werbers den Satz servierte, wonach sich Frankreich schneller und nachhaltiger verändere, als man es glaube, weswegen man künftig keinen Streik mehr bemerken werde, hat das Land wieder ein Aufregerthema vom Boulevardpräsidenten.

"Schlimmer als Provokation", findet beispielsweise Sarkozys Konkurrentin beim letzten Präsidentschaftswahlkampf, Ségolène Royal, die Bemerkung Sarkozys, der ihr vorkommt wie ein König aus dem Ancien Regime, ausbeuterisch, auf Amusement aus, ein Freund der Günstlingswirtschaft, ein Freund der Reichen, während das Volk verarmt. So bilderträchtig wie bei Royal sieht die Kritik der anderen erbosten Sozialisten und der Gewerkschaftsführer zwar nicht aus, die Anklagen treffen sich jedoch in einem Punkt: dem überzogenen Triumphalismus Sarkozys, seiner Arroganz den „wahren Verhältnissen“ gegenüber.

So meint etwa Jean-Claude Mailly, Generalsekretär der Force Ouvrière, dass Sarkozy vorsichtiger sein müsste, weil es eine echte Unzufriedenheit unter den Arbeitnehmern gebe und auch Maryse Dumas, leitende Funktionäre der Großgewerkschaft CGT stellt fest, dass Sarkozy die soziale Realität nicht kennt. Und 58,4 Prozent von 16.139 Le Monde-Lesern bestätigten in einer Umfrage der Zeitung, dass die Parteitagserklärung Sarkozys eine Provokation war, die nicht der Realität entspricht.

Viel Entrüstung und Verärgerung also über Sarkozys Ridikülisierung einer Macht, die früheren Präsidenten noch einen Schrecken wert war, Argumente waren seltener und Drohungen, die man bei einer derartigen Äußerungen erwarten hätte können, bleiben eher im Hintergrund. Einzig die Libération versuchte sich an einer Bilanz darüber, ob der tatsächlich faktisch an Zahlen abzulesende Rückgang von Streiks in jüngster Zeit irgendwie Ergebnis der Politik Sarkozys sein könnte. Die Antwort der Libé-Analyse lautet: Eher nein – „c'est moins sûr“. Sicher ist demmnach aber, dass sich die sozialen Konflikte geändert haben und neue Formen annehmen. Daraus resultierende Kämpfe, die zum Teil auch mit Arbeitsniederlegungen geführt werden, mögen nicht immer offiziell Streiks genannt werden, sie würden sich „aber genauso anfühlen“. Was ja heißt, dass sie bemerkbar bleiben. On verra. Vielleicht müssen wir das französische Vokabular erweitern.