Kultur der Räume

Seite 2: Derive - Erfahrung der Lebensräume

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Zweitens die künstlerische Avantgardebewegung der "Situationistischen Internationale" (SI), die einen als Psychogeografie benannten Ansatz entwickelt hat, der atmosphärische Einheiten in einer Stadt aufspürt, ihre Wirkungen auf den Bewohner untersucht und sie zu neuen Stadtplänen zusammenfügt.

Im Jahr 1955, noch vor der Gründung der SI verfasste Guy Debord, ihr führender Kopf, seine "Einführung in eine Kritik der städtischen Geografie". Er geht darin von der These aus, dass die materielle Umwelt Einfluss hat auf das soziale Handeln. Eine entscheidende Rolle bei der Erforschung kam dem sogenannten derive zu - dem ziellosen Umherschweifen. Dies ist eine Technik der systematischen Stadterfahrung, die sich bewusst von gewöhnlichen Handlungs- und Bewegungsweisen fern hält und sich den Impulsen der räumlichen Umwelt hingibt.

An die Stelle der objektivierten Darstellung einer absoluten Einheit von Stadt tritt ein fragmentarischer Stadtplan aus der Perspektive des Nutzers. Das Urbane ist in diesem Sinne kein gegebenes Konstrukt, sondern entsteht in der Interpretation und dem Gebrauch. Die physische Stadt und die Architektur bilden gewissermaßen nur die Initialzündung für die Erfahrung der Lebensräume. Sie sollen zum Gebrauch, zur Aneignung anstiften.

Drittens wäre auf die "cultural landscape studies" zu verweisen, die eine methodische Annäherung an Räume ausarbeiten, welche zwar im deutschsprachigen Raum kaum rezipiert wurde, aber von ungeheurem didaktischen Wert ist, da hier konkrete Umgangsformen zur Erkundung von Landschaft, Raum und Ort erprobt und evaluiert wurden. Die Relevanz des ungemein breiten, fachübergreifende Ansatzes zeigt sich beispielsweise in Robert Venturis "Learning from Las Vegas" - der Dokumentation eines Projektes zur Erkundung von Alltagsarchitektur, die wiederum großen Einfluss auf die damals aktuelle Kunst hatte, z.B. auf Robert Smithson und Ed Ruscha.

Promenadologie

Viertens muss man auch die Promenadologie hier einbeziehen. Sie geht auf den Schweizer Soziologen und Planungstheoretiker Lucius Burckhardt zurück, der sie in den 1980er Jahren in der Documenta-Stadt Kassel, wo er im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung lehrte, entwickelt hat und vorexerzierte. Die von ihm begründete Wissenschaft untersucht die Fallstricke unserer Wahrnehmung und Mobilität sowie deren Auswirkungen auf das Planen und Bauen. Burckhardt selbst war überzeugt davon, dass man erst lernen müsse, (Stadt-)Landschaft wahrzunehmen, und zwar sowohl historisch als auch individuell.

Der Spaziergangsforschung geht es zuerst um die Frage: Wie wird Stadt wahrgenommen? Und die zweite, daraus folgende Frage lautet: Wie kann man an der gewöhnlichen Wahrnehmung etwas verändern? Oft, in dem man Dinge, die zwar sichtbar sind, aber nicht gesehen werden, ins Bewusstsein bringt. Promenadologie bedeutet mehr, als nur durch die Gegend zu laufen. Sie führt vom Sehen zum Erkennen. Und zwangsläufig wird es dann irgendwann politisch, weil man merkt: Das hier ist so, aber das könnte doch auch anders sein.

Chaz Hutton, der regelmäßig pseudowissenschaftliche Post-It-Grafiken auf Twitter und Instagram veröffentlicht - und damit schon eine kleine Fangemeinde gewonnen hat - konnte vor einiger Zeit mit einem seiner Klebezettel-Werke in den sozialen Netzwerken besonders viele Likes und Retweets ernten. Es heißt: "Eine Karte für jede Stadt". Hutton räumt ein, dass er sich als Kind gerne die Zeit mit dem Computerspiel "Sim City" vertrieben hat. Das verrät auch seine Übersetzung der subjektiven Bezeichnungen für jedes Viertel auf der "Map of Every City" in eine arg schablonenhafte Erzählung der westlichen Stadtentwicklung.

Diese Karte nun als Kritik an der kapitalistischen Raumproduktion zu deuten, schießt wohl übers Ziel hinaus. Aber auf jeden Fall trifft Hutton mit seinem Produkt - wenngleich vielleicht unbeabsichtigt - einen Punkt: Stadtbewohner - und zwar nicht nur die jungen, hippen - sind stets flugs dabei, jeder Gegend ihrer Stadt ein festes, plakatives Image zuzuweisen, das sie selbst vor Überraschungen immunisiert. Dabei ist in der urbanen Peripherie niemals nur die lokale Ikea-Filiale einen Besuch wert.

Man geht kaum zu weit, wenn man behauptet, dass das Mental Mapping essentielle Querbezüge zur raumsoziologischen Forschung. Um die Präsenz einer Stadt zu erfassen, empfiehlt zum Beispiel Martina Löw (in ihrem Buch "Soziologie der Städte") von ihrer Eigenlogik zu sprechen: "ein Ensemble zusammenhängender Wissensbestände und Ausdrucksformen, wodurch sich Städte zu spezifischen Sinnprovinzen verdichten". Diese Eigenlogik finde sich in unterschiedlichen Ausdrucksgestalten wieder, indem man lernt, "Redeweisen von Besuchern und Bewohnern" z.B. eines Stadtteils zu erfassen, "Schriftquellen" zu rekonstruieren, "Stadtfeste" zu untersuchen, "Gegenstände der materiellen Kultur" eines Stadtteils (Wohnungen, Geschäfte, Treffpunkte, Kioske, Zeitungen, Wandnotizen usw.) zu erfassen und Nutzungen von Orten zu erkennen. Und man würde erkennen, dass in städtische Orte Spuren "überlieferten, erinnerten, erfahrenen, geplanten oder phantasierten Handelns" eingegraben sind, die man freilegen kann.

All das ist mehr als nur von kulturwissenschaftlichem Belang. Gerade unter den Bedingungen von marktgesteuerten urbanistischen Prozessen, von Migration und ökonomischen Umbrüchen stellt sich doch die Frage, ob und wo die Gestaltung der Städte das, was man Praktiken der Identitätserzeugung und -konservierung nennen kann, verlangt und wie sich diese Praktiken mit den heute ohnehin als heterogen anzunehmenden traditionalen Bezügen der Bewohner vermitteln.

Wenn Stichworte wie Gentrifizierung, Betongold oder Großprojekt die zeitgenössische Stadtentwicklung kennzeichnen, scheint es überfällig, an solche Ansätze an erinnern. Und eine Urbanität zu entwerfen, die zu aktivem Verhalten im und gegenüber dem Raum anregt, um ihn beispielsweise nach Situationen zu gliedern und nach Orten - des privaten und öffentlichen Lebens - zu organisieren. Das ist beileibe nicht banal.