Kunst in Zeiten des Grauens: Wie Musiker in Palästina auf den Krieg reagieren
Palästinensische Künstler im Zwiespalt: Wie können sie inmitten des Leids Kunst schaffen? Und was, wenn die Musik verstummt? Ein Gastbeitrag.
Was können palästinensische Künstler angesichts des Gemetzels tun? Früher habe ich geglaubt, dass Kunst die Welt verändern kann. Jetzt kommt sie mir vor wie der Flugschreiber eines Flugzeugs: Er kann die Landung nicht steuern, kann nur den Absturz dokumentieren.
Ende Dezember 2023, als sich der Krieg im Gazastreifen dem dritten Monat näherte, sahen sich mehrere palästinensische Sänger in Israel scharfer Online-Kritik ausgesetzt, nachdem sie ihre bevorstehenden Weihnachts- und Neujahrsauftritte in den sozialen Medien angekündigt hatten. Dies löste eine breite Debatte unter ihren palästinensischen Mitbürgern aus.
"Wie könnt ihr von Feiern sprechen, während unser Volk im Gazastreifen vor unseren Augen massakriert wird?", fragten einige. "Es ist ihr Job, lasst sie Geld verdienen", antworteten andere. "Wir sind die Nachrichten leid und haben uns eine Pause verdient."
"Wir sind die Nachrichten leid"
Zu dieser Zeit hatte ich vorübergehend aufgehört, in den sozialen Medien zu posten, und konzentrierte mich stattdessen auf das Schreiben von Meinungsbeiträgen in der liberalen israelischen Tageszeitung Haaretz.
Ich wurde vorsichtig, nachdem viele meiner Künstlerkollegen verhaftet worden waren, weil sie die harmlosesten Äußerungen ins Netz gestellt hatten. Darunter war etwa der bekannte Sänger Dalai Abu Amneh, der am 7. Oktober einfach "Es gibt keinen Sieger außer Gott" gepostet hatte.
In der Zwischenzeit riefen prominente jüdisch-israelische Künstler dazu auf, "die meisten von ihnen [Palästinenser in Gaza] als Mitschuldige" an dem von der Hamas angeführten Angriff vom 7. Oktober zu behandeln, und sangen "Möge euer Dorf brennen!".
Aber das Gesetz in Israel hat sich nie so sehr darum gekümmert, was gesagt wird, als vielmehr um die Identität der Person, die es sagt.
Da sich jedoch so viele an dieser Online-Debatte beteiligten, vor allem inmitten eines beispiellosen Vorgehens gegen palästinensische Nutzer sozialer Medien, beschloss ich, meine Meinung kundzutun. Eine Meinung, die mich letztlich viele Freunde unter meinen Künstlerkollegen gekostet hat, auch wenn sie in der breiten palästinensischen Öffentlichkeit allgemein akzeptiert wurde.
Mach die Musik aus
Der Beitrag, der am 16. Dezember veröffentlicht wurde, trug den Titel "Mach die Musik aus – sie ist respektlos" und lautete wie folgt:
Als ich 15 war, habe ich so getan, als würde sich die Welt um mich drehen. Eines Tages, als ein Leichenzug durch unsere Nachbarschaft zog, saß ich in meinem Zimmer und hörte laut Musik. Plötzlich stürmte mein Vater ins Zimmer und schrie mich an: "Mach die Musik aus - das ist respektlos!"
Ich drehte die Lautstärke herunter und versuchte ihm zu erklären, dass ich eine schwere Zeit durchmachte und Musik brauchte, um mich aufzuheitern. "Andere Leute trauern um einen geliebten Menschen", antwortete er. "Im Moment geht es nicht um dich. Du kannst deine Kopfhörer aufsetzen und mit deiner Traurigkeit umgehen, ohne sie zu verkünden.
Und so geht es mir jetzt mit den Silvester-Shows: Als Künstler verstehe ich, dass dies Ihr Job und Ihr Einkommen ist, aber es gibt 20.000 Beerdigungen ‒ 20.000, an denen nicht einmal die Angehörigen teilnehmen können. Also geht es im Moment nicht um uns.
Wir haben nicht die Möglichkeit, ihnen zu helfen oder sie zu beschützen oder auch nur für sie zu protestieren, also ist das Mindeste, was wir tun können, traurig zu sein. Bitte machen Sie die Musik aus, das ist respektlos.
Übrigens habe auch ich im Moment kein Einkommen und trete nicht auf. Aber ich habe ein Dach über dem Kopf, Essen auf dem Tisch, und niemand bombardiert meine Nachbarschaft, also scheint es nicht viel zu sein, ein paar Auftritte zu opfern. Ich greife Sie wirklich nicht an, aber bitte schalten Sie die Musik aus und lassen Sie uns gemeinsam traurig sein.
Letztlich wurden alle Festtagskonzerte abgesagt. Doch in den Monaten seither ist die Zahl der Toten im Gazastreifen weiter gestiegen. Ganze Familien wurden ausgelöscht, Tausende Häuser zerstört, und die Überlebenden sind vom Massenhunger bedroht.
Welchen Wert hat ein Lied?
Als palästinensischer Rapper war mein kreativer Ausdruck immer in unserer kollektiven Unterdrückung und unseren Traumata verwurzelt. Aber die letzten neun Monate haben mich gezwungen, den Zweck und das Potenzial meiner Kunst – und in der Tat meine gesamte Existenz – zu hinterfragen.
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Welchen Wert hat ein Lied, dessen Produktion ein paar tausend Dollar kostet, im Vergleich zu den Milliarden Dollar, die Israel erhält, um eine belagerte Bevölkerung zu bombardieren? Welche Macht haben wir als Palästinenser innerhalb Israels, wenn unsere Steuergelder dazu verwendet werden, unsere Brüder und Schwestern nur wenige Kilometer entfernt zu töten?
Ironischerweise führte mich dieses Gefühl der Hilflosigkeit angesichts der Tragödie in Gaza zurück ins Studio, um mit meinem jüngeren Bruder Djamil, einem DJ und Musikproduzenten, zusammenzuarbeiten. Das Ergebnis war ein Lied namens "Tuzz Tuzzen", was sich am besten mit "Was auch immer" übersetzen lässt, und das wir im Mai veröffentlicht haben.
Das Lied handelt von der Hilflosigkeit, die wir palästinensischen Bürger Israels empfinden, wenn der Staat, an den wir Steuern zahlen, unser Volk nur wenige Kilometer entfernt massakriert.
Wir sehen buchstäblich die israelischen Kampfflugzeuge über unseren Köpfen fliegen, wenn sie den Gazastreifen bombardieren, und dann sehen wir die Videos und Bilder ihrer Opfer. Wie können wir dieser Hilflosigkeit begegnen?
Einen Kredit abzahlen, einen Kredit aufnehmen, sogar zwei, was auch immer
Wir verlassen diese Welt mit nichts,
verdiene 100 Dollar und das Finanzamt nimmt mir 200 ab
Bombardiert Gaza mit 100 und den Rest, ihr wisst schon, wohin sie ihn sich schieben
Und hier bin ich, in meinem Kopf gefangen
Manchmal laufe ich weg, manchmal bleibe ich hier.
Auch wenn diese Not mehr ist, als ich ertragen kann
Ich bleibe hier, hartnäckig
Manchmal gebe ich auf, manchmal halte ich den Kopf hoch
Manchmal laufe ich weg, manchmal bleibe ich stehen
Auch wenn ich die Politik nicht verstehe
Ich bleibe hartnäckig, denn was soll’s.
Den Moment festhalten
Die meiste Zeit meines Lebens habe ich dummerweise geglaubt, dass Kunst dazu da ist, die Welt zu verändern. Heute betrachte ich Kunst eher wie den Flugschreiber in einem Flugzeug: Er steuert nicht die Landung, sondern soll den Absturz dokumentieren.
Und während wir Zeugen dieser zweiten Nakba sind, gibt es einige neue Songs, die meiner Meinung nach den Moment, den wir erleben, am besten einfangen. Dies ist meine Black Box Playlist.
Die ägyptische Gruppe Cairokee wurde 2003 gegründet und ist vielleicht am bekanntesten für ihren 2011 veröffentlichten Song "Sout al-Horeya" ("Die Stimme der Freiheit"), der zum Soundtrack der ägyptischen Revolution wurde.
Eine Flugschreiber-Playliste
Im November veröffentlichte Cairokee "Telk Qadeya" ("That's One Cause"), einen Song, der die Rhetorik der liberalen Werte im Westen kritisiert, während dessen Regierungen weiterhin den israelischen Krieg gegen Gaza unterstützen. Der Song wurde schnell millionenfach auf YouTube und in den sozialen Medien aufgerufen und von Palästinensern in Gaza häufig gepostet.
Besorgt über Meeresschildkröten
schlachten sie "menschliche Tiere"
Aber das ist die eine Sache, und das ist eine andere
Ein weiteres Lied stammt von BiGSaM, einem am Arabischen Golf geborenen Palästinenser aus Gaza. In "Law Mara Bas" ("If Only Once"), das im März veröffentlicht wurde, beschreibt er das Gefühl, die Zerstörung seines Heimatlandes aus der Ferne zu beobachten.
Wenn du nur einmal
in meiner müden Seele ruhen könntest
Wenn nur ein einziges Mal
Derjenige, der in deinem Land schlief, Frieden finden würde
Wenn du nur einmal
Erleichterung von der Brutalität der Feinde finden würdest
Selbst für ein einziges Mal
Würden wir für dich unser wertvollstes Gut opfern
Aber das Lied, das meine Flugschreiber-Playlist anführt, ist "Cast Off Your Sandals, Moses", das im Mai von der palästinensischen Sängerin Rola Azar aus Nazareth veröffentlicht wurde.
Moses, zieh deine Sandalen aus
Und besteige den Berg Sinai
Streu die Jasminblüten
Über die Ebenen von Palästina
Selbst ihre Rosen widerstehen
Wie ihre Oliven und Feigen
Moses, zieh deine Sandalen aus
Tröste das gefangene Kind
Ehre die geschändeten Schreine
Und geschmähten Särge
Selbst der Sarg widersteht
Eben dieser Sarg, der von Shireen
Die letzte Zeile bezieht sich natürlich auf die verstorbene Al Jazeera-Reporterin Shireen Abu Akleh, die 2022 während einer Reportage im Flüchtlingslager Dschenin von einem israelischen Scharfschützen erschossen wurde.
Wir waren Zeugen ihrer Ermordung, ebenso wie wir Zeugen des Angriffs der israelischen Polizei auf die Sargträger bei ihrem Trauerzug wurden.
Als ich Rolas Lied zum ersten Mal hörte, löste es bei mir Emotionen aus - ich hatte das Gefühl, Shireens Beerdigung zum zweiten Mal zu sehen und den Heldenmut der Männer zu beobachten, die sich weigerten, ihren Sarg fallen zu lassen, während sie von Dutzenden von Schlagstock schwingenden Polizisten umringt waren.
Ich denke, das ist auch die Rolle der Kunst, selbst in Zeiten der Tragödie: einen Moment einzufangen und ihn in der Seele zu verankern.
"In den finsteren Zeiten, wird da auch gesungen werden?", schrieb der deutsche Dramatiker und Dichter Bertolt Brecht bekanntlich. "Da wird auch gesungen werden. Von den finsteren Zeiten."
Aber was, wenn es kein Licht bringen wird?
Dann eben - Tuzz Tuzzen.
Tamer Nafar ist ein palästinensischer Rapper, Schauspieler, Drehbuchautor und Aktivist mit israelischer Staatsbürgerschaft. Nafar wuchs in ärmlichen Verhältnissen in Lod auf, einer arabisch-israelischen Stadt in Israel, die unter Drogenschmuggel und Kriminalität leidet.
2016 spielte Nafar als Hauptdarsteller in dem halb-autobiografischen Spielfilm Junction 48, der bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Der hier abgedruckte Essay erschien am 11. Juli 2024 im +972 Magazine. Tamer Nafar ist außer auf YouTube auch auf Instagram, Facebook und X (Twitter) sowie auf Spotify zu finden.
Das +972 Magazine ist ein unabhängiges, gemeinnütziges Online-Magazin, das von palästinensischen und israelischen Journalisten betrieben wird. Der Name der Website leitet sich von der Landesvorwahl ab, mit der man in ganz Israel-Palästina telefonieren kann. Die Redaktion schreibt über sich:
"Unsere Grundwerte sind das Engagement für Gleichheit, Gerechtigkeit und Informationsfreiheit. Wir glauben an einen akkuraten und fairen Journalismus, der die Menschen und Gemeinschaften, die sich gegen Besatzung und Apartheid einsetzen, ins Rampenlicht rückt und Perspektiven aufzeigt, die in den Mainstream-Berichten oft übersehen oder marginalisiert werden."
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