Kursker Vorstoß: So kam es zur größten Invasion Russlands seit dem Zweiten Weltkrieg

Putin und Mitglieder des russischen Sicherheitsrates. Bild: kremlin.ru

Neue Front scheint sich zu etablieren. Ukraine kontrolliert offenbar dutzende Ortschaften in Region Kursk. Putin entsendet zusätzliche Truppen.

Eine Woche und einen Tag nach dem überraschenden Vorstoß ukrainischer Truppen auf russisches Territorium kann zumindest eine Feststellung als gesichert gelten: Die Ukraine hat in dem seit mehr als zwei Jahren andauernden Krieg mit Russland eine neue Front eröffnet.

Ukrainische Truppen waren am Morgen des 6. August in das westrussische Gebiet Kursk eingedrungen, hatten die Grenzanlagen durchbrochen und mehrere Siedlungen eingenommen. Die andauernde Offensive ist – rein militärisch gesehen – die größte ausländische Invasion in Russland seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie war auch möglich, weil die Gebiete gen Osten, anders als im bisherigen Kriegsgebiet, wenig gesichert waren.

Neues Kapitel im Krieg

Die ukrainischen Streitkräfte sind in den ersten 24 Stunden der Operation mehrere Kilometer auf russisches Gebiet vorgerückt. Der amtierende Gouverneur der Region Kursk, Alexej Smirnow, berichtete von 28 Ortschaften unter ukrainischer Kontrolle und einem Vormarsch entlang einer rund 40 Kilometer langen Frontlinie. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach zuletzt sogar von 74 Ortschaften unter Kontrolle seiner Truppen.

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Diese Angaben konnten von unabhängiger Seite nicht verifiziert werden, stimmen aber in etwa mit den Einschätzungen von Analysten überein. Nach Angaben des Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte, General Oleksandr Syrskyi, kontrolliert die Ukraine "etwa 1.000 Quadratkilometer".

Wie viele Kriegsgefangene, wo sind sie?

Die Ukraine gibt an, dutzende russische Soldaten und Sicherheitskräfte gefangen zu haben. Auf russischen Telegram-Kanälen werden ähnliche Meldungen über Festnahmen ukrainischer Soldaten verbreitet. Offizielle Zahlen dazu gibt es nicht.

Menschenrechtsbeobachter sind deswegen beunruhigt: Solange Kriegsgefangene nicht registriert und ihr Zustand international überwacht wird, besteht eine erhebliche Gefahr von Menschenrechtsverletzungen.

UN besorgt, aber nicht vor Ort

Bei einer UN-Pressekonferenz wies ein Journalist darauf hin, dass in Zuge des ukrainischen Vorstoßes offenbar auch Zivilisten und auch Sanitäter getötet worden seien. Dazu Farhan Haq, stellvertretender Pressesprecher von UN-Generalsekretär António. Guterres:

Wir haben keine Präsenz vor Ort in dieser Region, daher kann ich die Berichte, von denen Sie sprechen, nicht überprüfen. Aber wie in anderen Fällen rufen wir alle Beteiligten dazu auf, verantwortungsvoll zu handeln und den Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten.

Reaktionen aus dem Kreml

Russland reagierte auf den Vorstoß mit der Entsendung zusätzlicher Truppen und Militärfahrzeuge, um den Angriff abzuwehren. Präsident Wladimir Putin berief eine Sicherheitskonferenz ein, um die Reaktion zu koordinieren.

Russische Medien zeigen Bilder von Militärkolonnen. Trotz dieser Maßnahmen scheinen die ukrainischen Truppen auch eine Woche nach Beginn der Invasion ihre Stellungen zu halten. Sie beanspruchen sogar die Einnahme eines kleinen Dorfes in der benachbarten Region Belgorod.

Putins Reaktion

Die Aktion ist eine Blamage für Putin und sein Militär und wirft Fragen über die Vorbereitung Russlands auf. In einer angespannten Fernsehsitzung mit seinen Spitzenbeamten am Montag reagierte Putin gereizt und wiederholte seine Darstellung des Krieges als Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland.

Er wies sein Militär an, die ukrainischen Truppen zurückzudrängen und den "zuverlässigen Schutz der Staatsgrenze" zu gewährleisten.

Schutz der Zivilbevölkerung

Laut Alexei Smirnow, Gouverneur der russischen Region Kursk, verläuft die Evakuierung in zwei Phasen: In der ersten Phase seien 180.000 Zivilisten in Sicherheit gebracht worden, in der zweiten Phase demnach weitere 121.000 Menschen.

53.000 Notunterkünfte seien eingerichtet worden, davon 20.000 in Moskau und 25.000 aus anderen Regionen. Insgesamt gibt es 106 Notunterkünfte mit 7.524 Personen, darunter 1.083 Kinder. Psychologen und Rechtsberater unterstützen vor Ort.

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Auch auf der ukrainischen Seite liefen umfassende Evakuierungsmaßnahmen. In der dortigen Grenzregion Sumy wurden Zehntausende Menschen in Sicherheit gebracht.

Die ukrainische Sicht

Die Ukraine bestätigte den grenzüberschreitenden Einsatz erst Tage später öffentlich. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach erstmals explizit über die Operation in Kursk und bezeichnete die Operationen als reine Sicherheitsmaßnahme für die Ukraine.

Er deutete aber auch einen anderen Grund an, als er sagte: "Russland hat den Krieg zu anderen gebracht, jetzt kommt er zu ihnen zurück".

Angeblich keine Abstimmung mit USA

US-Beamte gaben der New York Times gegenüber an, dass sie vorab keine formelle Warnung über die riskante Mission erhalten hatten, möglicherweise aus Angst vor Zurückhaltung Washingtons oder wegen der Besorgnis der Ukraine über Lecks.

Die Ukraine nutzte für die Offensive auch Fahrzeuge, Waffen und Munition aus US-Produktion, trotz der Warnung von Präsident Biden im Mai, dass US-Waffen nur für begrenzte Selbstverteidigungsaktionen innerhalb Russlands eingesetzt werden dürften.

Russlands innere Sicherheit infrage gestellt

Für Russland war die Offensive fast so schockierend wie der Marsch des Söldners Jewgeni Prigoschin auf Moskau im Juni 2023. Die Sicherheitsapparate, die Präsident Putin aufgebaut hatte, versagten beim Schutz der Bürger.

Das ungeschriebene gesellschaftliche Abkommen, dass die meisten Russen trotz des Krieges ein normales Leben führen könnten, wird damit infrage gestellt.