Labor and Materials

Reality-TV und 70% Arbeitslosigkeit im Irak

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Nach dem Bombenangriff von US-Truppen auf den Vorort von Bagdad hatte das Haus der Familie kein Dach mehr; es war eine rauchende Ruine, Skorpione spazierten im Wohnzimmer herum, die Wände waren rauchschwarz. Monate später klopft es an der Tür. "Wir haben Geschenke für Sie!", sagt eine "junge Sirene" und zeigt auf ein paar Jungs, die einen Lastwagen entladen. Eine Waschmaschine, ein Kühlschrank, ein Fernseher und eine Sofagarnitur werden ins Haus getragen. Die Wände werden frisch gestrichen, das Dach repariert. Ein Märchen? Nein, Reality-TV in Bagdad.

Labor and Materials heißt die Sendung, die jeden Freitag auf dem ersten privaten Satelliten-Kanal im Irak, Al-Sharqiya, ausgestrahlt wird. Besitzer des Senders ist ein reicher irakischer Medien-Tycoon, Saad Basas, mit Hauptsitz in London. Die irakische Tageszeitung Azzaman wird ebenfalls von ihm herausgegeben.

In 15minütigen Episoden wird über einen Zeitraum von sechs Wochen gezeigt, wie aus zerbombten Ruinen wieder ein komfortables Zuhause gezaubert wird. Bislang wurden zwei Häuser "renoviert", Kosten: 28.000 Dollar pro Haus, Geld, das bis jetzt von Investoren beigesteuert wurde, künftig sollen es Spenden - die im Islam bekanntlich eine besondere Rolle spielen - sein und Werbung. Am Ende prangt eine Plakette am Haus der Familie:

Am 4.Mai hat as-Sharqiya-TV dieses Haus, das im Krieg zerstört wurde, wieder aufgebaut.

Labor und Materials sind zugkräftige Schlagwörter im Irak, das doch prosperieren sollte nach der Befreiung, der Weg dahin scheint allerdings sehr weit: 70% der Iraker sind arbeitslos, hat eine Studie der Bagdader Universität ermittelt. Und es sieht nicht so aus, als ob sich das Problem in naher Zukunft verbessern wird, im Gegenteil: die Arbeitslosigkeit würde sich eher verschlimmern, prognostiziert die Studie.

Konjunktur haben nur obskure Arbeitsvermittlungsagenturen, die für einen Beitrag von 50 Dollar Bewerbungen entgegennehmen. Die meisten bleiben jedoch erfolglos. Arbeit gibt es meist nur bei den Amerikanern. Davon abgesehen, dass es laut einiger Stimmen aus der Bevölkerung, die Al-Jazeera eingesammelt hat, für manche aus patriotischen Motiven und Gründen der persönlichen Sicherheit heraus schwierig ist, für die "ehemaligen" Besatzer und deren Firmen zu arbeiten, ist die Entlohnung sehr dürftig. Mittlerweile setzen sich sogar amerikanische Gewerkschaften für die Rechte ihrer irakischen Kollegen ein.

Die Rechtsprechung, die Bremer hinterlassen hat, soll durch die Order No. 1, welche jede civil disorder verbietet, auch jede Möglichkeit zum Streik verboten haben; Führer der beiden irakischen Gewerkschaften sind mehrmals verhaftet worden. Immer wieder wird zitiert, dass Bremer durch die "Debaathisierung", vor allem durch die Auflösung der irakischen Armee und des Informationsministeriums "Hunderttausende" in die Arbeitslosigkeit geschickt hätte. Arbeitslosenunterstützung gibt es im Irak nicht.

Ein weiteres großes Problem für den Irak ist der fortwährende "Brain Drain", der Weggang vieler Akademiker, der schon zu Saddam Husseins Zeiten eingesetzt hat, setzt sich fort, drastisch. Mehr als 1000 (!) Professoren haben das Land seit April 2003 nach Angaben verlassen. Aus Angst vor Entführungen und Schlimmeren: 250 Professoren wurden im selben Zeitraum von so genannten Death squads umgebracht.

Nach einem Bericht von Al-Jazeera vom Ende März dieses Jahres sollen es gar 1000 "führende" Professoren und Intellektuelle sein, die von den Todesschwadronen umgebracht wurden, und 3000 High-Profiles sollen das Land verlassen haben.

Besonders betroffen sind die Ärzte. Mehr als 100 zum Teil hochspezialisierte Chirurgen sind seit April diesen Jahres entführt worden. Die meisten wurden nach Bezahlung von Lösegeldern zwischen 20.000 und 200.000 Dollar wieder freigelassen, aber oft derart traumatisiert, dass sie nicht mehr weiterarbeiten wollen – zumindest nicht im Irak.

Man verliere die brillantesten Köpfe, klagt ein Chefarzt eines Bagdader Krankenhauses. Nach Ansicht des stellvertretenden Gesundheitsministers sind die Entführer keine bloßen Gangster, sondern "Professionelle", welche die "grundlegenden Funktionen des Landes" außer Kraft setzen wollten.