Lässt sich Bildung überhaupt industrialisieren?

Seite 2: Ein globales Auditorium?

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Überall auf der Welt wächst der Bedarf, für immer mehr Menschen ist ein allgemeinener Schulabschluss nicht mehr das Ende ihrer Ausbildung. Tertiäre Bildung ist deshalb längst keine Sache von elitären Minderheiten mehr. In den vergangenen zwanzig Jahren ist die Zahl der Studierenden weltweit geradezu explodiert. Außerdem wächst der Bedarf an Nachhilfe, weil die Ausbildungsdauer vielerorts verkürzt und der Unterricht verdichtet wurde.

Interessanterweise leben viele MOOC-Nutzer außerhalb von Europa und Nordamerika. Bei edX beispielsweise kommt mehr als die Hälfte der Online-Studierenden nicht aus den USA. 9 Prozent sind Afrikanerinnen, 12 Prozent Inderinnen. Auch wenn bisher vor allem Angehörige der Oberschichten und Absolventen von den MOOCs Gebrauch machen, die Nachfrage aus den sogenannten Schwellenländern ist riesig und wird wachsen.

Auf diesen Weltmarkt zielen diverse Anbieter von Internetunterricht. Wer ihn erschließen kann, müsste von jedem Kunden nur winzige Cent-Beträge erhalten, um so richtig reich zu werden. Die klarste globale Strategie verfolgt Udacity. Die Firma kooperiert seit anderthalb Jahren mit dem britischen Konzern Pearson Pearson. Dieses Unternehmen ist stark im Bereich Bildung engagiert und betreibt Filialen in der ganzen Welt, in denen Prüfungen für Fernstudiengänge durchgeführt werden. In 175 Ländern ist Pearson vertreten - Länder, in denen Studieninteressierte sich künftig aussuchen können, ob sie eine einheimische Hochschule besuchen wollen oder lieber an einem MOOC aus Harvard über Udacity teilnehmen und ihre Abschlusszeugnisse von Pearson bekommen.

Einen Weltmarkt für akademische Bildung gibt es schon lange. Bisher allerdings mussten sich Lehrkräfte und die Studierenden auf die Reise machen. Im Rahmen der MOOCs entsteht nun tatsächlich etwas, das Friedmans flacher Welt ähnelt. Solange sich die Arbeitsprodukte als Nullen und Einsen darstellen lassen, macht es schließlich keinen Unterschied, ob sie in Asien oder Amerika gefertigt werden. Allerdings wird die Internetbildung bisher zwar von einer internationalen Zuhörerschaft genutzt, aber in der Regel nicht transnational hergestellt. Noch betreiben die Hochschulen kein Offshoring und verlagern die Betreuung der Studierenden in Niedriglohnregionen. Stattdessen setzen sie auf Automatisierung und Crowdsourcing (siehe Die Automatisierung des Seminars).

Spät nachts allein vor dem Bildschirm

Aber wird die Rationalisierung, die die MOOCs versprechen, überhaupt eintreten? Die Antwort hängt davon ab, wie weit sich Bildung als Industrie gestalten lässt. Ob sich im Netz überhaupt die nötigen Lernerfolge erzielen lassen, um einsatzfähige Fachkräfte auszubilden, ist längst nicht klar. Die "Einsparpotentiale" der MOOCs werden nur eintreten, wenn genügend Menschen die Kurse erfolgreich durchlaufen.

In der Regel nehmen etwa zehn Prozent der Teilnehmer an der Abschlussprüfung teil, noch einmal deutlich weniger bestehen. Die Universität von San José stellte kürzlich wegen der mangelhaften Leistungen ihrer Studierenden die Zusammenarbeit mit Udacity ein.

Eine aktuelle Studie der University of Pennsylvania ermittelte, dass die Mehrheit der Nutzer bereits zuvor einen akademischen Abschluss erworben hat. Für die Studie wurden ungefähr 35 000 Studenten befragt. Die MOOC-Nutzer unter ihnen waren vor allem junge, überdurchschnittlich gebildete Männer, die mit den Fernstudien übers Netz ihre Karrierechancen verbessern wollen.

Der breiten Masse dagegen fehlen offenbar die Motivation und das Durchhaltevermögen, um ein Netzstudium durchzuhalten, "durchzuziehen". Ein Indiz dafür ist, dass die derjenigen, die aktiv das Diskussionsforum nutzen, größer ist als die Zahl der Absolventen! Anders gesagt, nicht einmal diejenigen, die sich aktiv einbringen, schaffen notwendigerweise den Abschluss. Wer einen Internetkurs meistert, hat das Lernen gelernt. Er ist diszipliniert und kritisch und weiß, wie er sich Information beschafft. Er muss nicht durch eine soziale Gruppe motiviert werden. All das gilt offensichtlich nur für eine Minderheit der Schulabgänger.

Hier liegt ein Grundproblem der Rationalisierung im Bildungssektor: Je mehr ihrer "kognitiven Anteile" auf die Maschinen übertragen werden, umso problematischer werden offenbar ihre "sozialen Anteile". Direkte Ansprache durch Lehrkräfte wäre eine Hilfe, aber die müsste bezahlt werden, gleichgültig, ob sie nun medial vermittelt oder von Angesicht zu Angesicht stattfindet.

Ach, Humboldt!

Den Produzenten von MOOCs ist das Problem mit der Motivation wohlbekannt. Sie setzen unterschiedliche didaktische Mittel ein, um ihre Nutzer bei der Stange, sprich: aufmerksam vor dem Bildschirm zu halten. Sie gestalten die Übungen möglichst spielerisch. Grafisch wird den Nutzern verdeutlicht, wie viel sie schon geschafft und wie viele Punkte sie erworben haben.

Der einflussreiche Sozialwissenschaftler Gary King postuliert als didaktische Grundregeln für das Netz-Lernen: "Soziale Beziehungen motivieren" und "Unmittelbares Feedback steigert den Lernerfolg". Entsprechend werden Studierende ermutigt, miteinander zu interagieren, und die Anteile von Frontalunterricht möglichst kurz gehalten. Bei Übungen folgt auf jede Eingabe unmittelbar ein Feedback, ein Lob oder ein Ansporn (auch deshalb wird das Nutzerverhaltens zunehmend automatisch analysiert, siehe "Die Automatisierung des Seminars".) Kommen Nutzer nicht von alleine auf die richtige Antwort, bekommen sie Hilfestellungen, die aber selten wirklich individualisiert sind.

So gibt es eine Menge Trubel, aber kaum Raum für eine gemeinsame kritische Auseinandersetzung mit dem Stoff mit fachkundiger Betreuung. Die pädagogische Praxis des Netzlernens entspricht, zugespitzt gesagt, in weiten Teilen dem Nürnberger Trichter für digitale Eingeborene mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne: Kleinste Einheiten werden eingepaukt.

Einst verbrachten die Studierenden ihre Tage in der Bibliothek, über dicke Bücher gebeugt, bis sie erschöpft niedersanken und einschliefen. Nur ein Doktorvater gab, mehr oder weniger engagiert, den Leuchtturm, damit sein Zögling nicht Schiffbruch erleide im Ozean des Wissens. Irgendwann - der Zeitpunkt war recht unbestimmt - unterrichtete der Studierende sich selbst, im inneren Dialog mit den wissenschaftlichen Geistesgrößen vor ihm. In diesem, geistigen Sinne war der Studierende einsam, wenn auch nicht unbedingt sozial isoliert. Er sollte intellektuell nur auf den eigenen Beinen stehen.

Der Universität ist vorbehalten, was nur der Mensch durch und in sich selbst finden kann, die Einsicht in die reine Wissenschaft. Zu diesem Selbstactus im eigentlichen Verstand ist notwendig Freiheit und hilfreich Einsamkeit, und aus diesen beiden Punkten fließt zugleich die ganze äußere Organisation der Universitäten. Das Kollegienhören ist Nebensache, das wesentliche, daß man in enger Gemeinschaft mit Gleichgesinnten und Gleichaltrigen und dem Bewußtsein, daß es am gleichen Ort eine Zahl schon vollendet Gebildeter gebe, die sich nur der Erhöhung und Verbreitung der Wissenschaft widmen, eine Reihe von Jahren sich und der Wissenschaft lebe … Darum ist auch der Universitätslehrer nicht mehr Lehrer, der Studierende nicht mehr Lernender, sondern dieser forscht selbst, und der Professor leitet seine Forschung und unterstützt ihn darin.

Als Wilhelm von Humboldt dies im Jahr 1809 schrieb, strömten keine Massen von Schulabgängern in die Hochschulen. Akademische Bildung war eine elitäre Angelegenheit, die nur sehr lose mit der Sphäre der Arbeit und Produktion verbunden war. Dennoch entstand damals ein wegweisendes System, um nach-schulische Bildung zu organisieren: das "forschende Lernen". Im Studium sollte ein fließender Übergang stattfinden von der Reproduktion der Forschungsergebnisse anderer hin zur Produktion eigener Gedanken. Die "Einheit von Forschung und Lehre" bestand weiterhin darin, dass Wissenschaftler sowohl den akademischen Nachwuchs unterrichten, als auch eigene Forschung betrieben.

Heute wird in der akademischen Praxis Forschen und Lehren inhaltlich und organisatorisch zunehmend voneinander getrennt. Der Zeitpunkt, um eigene Gedanken zu verfertigen, wird immer weiter hinausgeschoben und das Pathos Humboldts wirkt albern.

"Massifizierung und Personalisierung"

Ende November veröffentlichte das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) (Thesen zum Phänomen MOOC. Eine davon lautet, dass durch die Netztechnik Hochschulbildung "skalierbar" würde, tauglich für beliebig viele Konsumenten.

Digitale Technologien haben das große Potenzial, Lernweg und -geschwindigkeit individuell an die Kompetenzen der individuellen Studierenden anzupassen. Es passt sich die Lehre dem Lerner an, nicht der Lerner der Lehre. Digitale Bildungsangebote bieten hierbei die Möglichkeit des Lernens in kleineren Schritten; die Adaption des Lernwegs für den Einzelnen ist möglich. Technisch unterstützte Beobachtungsprozesse ermöglichen auch bei größeren Lerngruppen individuelle Feedbacks zum Lernfortschritt und entsprechende Interventionen.

All das sind uneingelöste Versprechen. In der Praxis sind die Internetlehre und die Digitalisierung der Hochschulbildung insgesamt geprägt von Rationalisierung. Computertechnik soll einerseits eine individuelle Betreuung, andererseits die Abfertigung von Massen möglich werden: "Digitale Lehr- und Lernformate ermöglichen Personalisierung trotz Massifizierung." Das ist, trotz der Fortschritte des Maschinenlernens, immer noch eine Quadratur des Kreises.

In ihrer gegenwärtigen Form taugen MOOCs für Menschen, die sich Wissen autonom aneignen. Aber was anfangen mit denen, die für ein einsames Pauken nicht gemacht sind? Die keine "selbst-organisierten Lerner" sind? In seinem Vortrag weist Jörg Dräger, Mitglied im Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, auf neue technische Möglichkeiten der Motivationsüberwachung hin:

- Gesichtserkennungs-Software erfasst das Aufmerksamkeitslevel (Gesichtsausdruck, Blutdruck, Herzschlag etc.)

- Direktes Feedback durch Emoticons

- Nächster Schritt: Adaption der Lerninhalte nach detaillierter Identifikation von Emotionen (Freude, Angst, etc.)

Willkommen im Techno-Utopia! Hier erfassen die Maschinen den psychischen Zustand der Lernenden und können unmittelbar reagieren. In Echtzeit. Vollautomatisch. Unendliche Möglichkeiten in der schönen neuen Bildungswelt, nur eines ist undenkbar - Arbeitszeit aufzuwenden und zu bezahlen, um zu fragen, zu erklären und zu verstehen.