Lauterbach-Chaos: Er spricht über Corona und ignoriert den Systemkollaps
Krank mit gesetzlicher Versicherung in Deutschland? Viel Glück. Die Hauptherausforderung für Kliniken und Praxen ist aber aktuell nicht das Coronavirus.
Wenn Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) über das Coronavirus reden kann, muss er nicht über Missstände im Gesundheitssystem reden. Er kann dann die Eigenverantwortung betonen, sich nicht anzustecken. "Corona bleibt gefährlich. Es ist keine Erkältung, die man sich bedenkenlos jede Saison einfangen kann", sagte er kürzlich der Bild am Sonntag.
"Vielmehr befällt Corona oft auch die Blutgefäße oder schwächt das Immunsystem, lässt sich daher viel zu häufig nicht komplett auskurieren."
Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen rief er vergangene Woche dazu auf, "sich möglichst in den nächsten Tagen schnell noch impfen lassen – am besten gegen Grippe und Corona gleichzeitig". In Bus und Bahn sollten alle "lieber noch mal Maske tragen", so Lauterbach.
Ob dadurch alleine der "Praxenkollaps", vor dem die Kassenärztliche Bundesvereinigung warnt, verhindert werden kann?
Vorerst begrüßen es einige Praxen, dass seit dem 7. Dezember wieder – und jetzt dauerhaft – telefonische Krankschreibungen möglich sind. So werden die Wartezimmer nicht zu "Hotspots" des Ansteckungsgeschehens.
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Mit "Husten, Schnupfen oder Heiserkeit", "Erkrankungen wie leichten grippale Infekten", aber auch anderen "Krankheiten ohne schwere Symptome" muss dort niemand mehr sitzen, der in der jeweiligen Praxis bekannt ist, wenn es nicht um eine Bescheinigung für mehr als fünf Kalendertage geht. Manche Mediziner befürchten aber auch, dadurch schwere Krankheitsverläufe zu übersehen.
Laut Abwassermonitoring war die Corona-Infektionslast in der 48. Kalenderwoche so hoch wie seit eineinhalb Jahren nicht mehr. Seit im Alltag kaum noch getestet wird, werden Proben und Daten aus Kläranlagen zur epidemiologischen Lagebewertung herangezogen.
Eine Überlastung der Krankenhäuser, wie sie etwa vor zwei Jahren befürchtet wurde, droht aber zumindest durch dieses Infektionsgeschehen nicht.
Über die aktuelle Corona-Welle, die überwiegend durch eine neue Omikron-Variante des Virus ausgelöst wird, sagte der Virologe Ulf Dittmer im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau: "Die einzigen Menschen, die in seltenen Fällen schwer erkranken, sind Organtransplantierte. Selbst wenn jemand wegen Corona ins Krankenhaus muss, ist es in der Regel so, dass er zwei, drei Tage Sauerstoff erhält und dann wieder nach Hause kann."
Lange Wartezeiten auf Facharzttermine
Corona ist demnach nicht die Hauptherausforderung für das deutsche Gesundheitssystem. Über andere Erkrankungen, mit denen Kassenpatienten monatelang auf Facharzttermine oder Therapieplätze warten müssen, spricht der zuständige Minister aber weniger.
In dringenden Fällen gibt es zwar einen gesetzlichen Anspruch darauf, innerhalb von vier Wochen einen Facharzttermin zu bekommen. Die Vermittlung läuft unter anderem über die zentrale Telefonnummer 116117. Um vermittelt zu werden, brauchen Betroffene aber eine ärztliche Überweisung mit einem Dringlichkeitscode des Hausarztes.
Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) sind aber sowohl Haus- als auch Facharztpraxen überlastet. Laut einer Online-Befragung fühlen sich mehr als 90 Prozent der niedergelassenen Ärztinnen, Ärzte und Psychotherapeuten durch die Vielzahl bürokratischer Aufgaben überlastet.
Rund 85 Prozent empfinden, dass ihre Leistungen nicht angemessen honoriert werden – und ebenso viele Haus- und Fachärzte machen sich mit Blick auf ihren Ruhestand Sorgen um die Nachfolge.
Gefährliche Erkrankungen, die zunehmen
Wer am Ende des Sommers merkt, dass sich ein Muttermal verändert hat und Hautkrebs befürchtet, muss also erst mal einen überlasteten Hausarzt um einen Dringlichkeitscode bitten und hoffen, der nicht genervt ist, weil sonst ein Vierteljahr Wartezeit auf den Termin bei der Dermatologin einkalkuliert werden muss.
Dabei wird seit Jahren über einen starken Anstieg von Hautkrebserkrankungen und auch der dadurch verursachten Todesfälle berichtet.
Wer psychisch erkrankt und "professionelle Hilfe" sucht, muss laut Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Vereinigungen ab dem Erstgespräch im Durchschnitt sogar 142 Tage auf einen ambulanten Therapieplatz warten – das sind mehr als viereinhalb Monate.
Ungefährlich ist das nicht: Psychische Erkrankungen gelten als häufigste Ursache für Suizid – und die Zahl der Selbsttötungen ist im vergangenen Jahr um fast zehn Prozent gestiegen, nachdem es von 2020 auf 2021 nur einen Anstieg im Promillebereich gegeben hatte.
Wenn sich der Zugang zu medizinischer und psychotherapeutischer Versorgung nicht weiter verschlechtern soll, müssen Lauterbachs Ressort und die Bundesregierung laut Forderungskatalog der KBV zügig das angekündigte "Bürokratieabbaupaket" umsetzen, für eine tragfähige Finanzierung sorgen und die Budgetierung abschaffen, "damit alle erbrachten Leistungen der Praxen in Gänze bezahlt werden".