Lautstarkes Anhimmeln einer Boygroup

Fußballfantum hat sich in den letzten Jahren stark verändert

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Die Süddeutsche Zeitung beschäftigte sich gestern mit dem Leid, dass die neuen Fußballfansitten über die Anwohner der Münchener Leopoldstraße bringen. Der Tenor der befragten Anwohner war, dass die Polizei beide Augen zudrückt, egal wie oft sich Anwohner beschweren. Wodurch sich die Fans offenbar bestärkt fühlen, immer offener mit Rechtsverletzungen zu provozieren.

Mittlerweile beschränken sich diese nicht mehr auf immer länger andauernde Ruhestörungen mit immer lauteren Gerätschaften und Trunkenheit am Steuer. Anwohner stellen aufgrund der zahlreichen Sachbeschädigungen Autos und Fahrräder inzwischen nicht mehr in der Nähe ihrer Wohnungen ab - und zwar an immer mehr Tagen im Jahr. Denn längst finden solche "Feierlichkeiten" nicht mehr nur in Ausnahmefällen statt: In diesem Jahr reichte sogar eine Niederlage des FC Bayern München für eine Autokorso-Demonstration, die in der halben Stadt den Trambahnverkehr lahmlegte.

Bild: Alexander Hüsing. Lizenz: CC-BY-2.0

Familien sind aufgrund solcher Exzesse teilweise gezwungen, mitsamt ihren schulpflichtigen Kindern in Hotels zu flüchten - was eine erhebliche finanzielle Belastung für sie darstellt. Und 74-jährige Rentnerinnen bekommen von Fußball-Rowdys gesagt, sie würden nicht nach Schwabing gehören und sollten woanders hinziehen. Das könnten die Fußballrowdys allerdings mit deutlich geringerem Aufwand - und mit der Allianz-Arena gäbe es sogar einen Platz, der nicht nur ganz ihrer Passion gewidmet ist, sondern auch größtenteils leer steht.

Dem Bericht einer Anwohnerin nach ermutigte das jahrelang andauernde Stillhalten der Polizei die Fußballfans sogar so sehr, dass sie nach dem Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Argentinien sogar gegen Einsatzkräfte vorgingen: "Am Samstag", so zitiert die Zeitung die Frau, "haben sie nach dem Spiel den Tengelmann geplündert. Als die Polizei kam, sind sie denen auf die Karosse gestiegen." Die Polizeidirektion München bestreitet dies allerdings und spricht stattdessen von einem bloßen Tritt gegen ein Dienstfahrzeug, dem eine Festnahme folgte. Den Wagen mit den Beamten habe der Supermarkt zuvor angefordert, weil ein Streit um Dosenpfand eskaliert sei. Mit der "Plünderung", so die Pressestelle, habe die Anwohnerin wohl ein "Leerkaufen" gemeint.

Insgesamt kam es an diesem Tag allerdings zu 15 Festnahmen wegen "kleinerer Delikte", zu denen die Polizei unter anderem Diebstahl, Körperverletzung und Sachbeschädigung zählt. Wegen der zahlreichen Verletzten durch Glasscherben wurden gestern Abend auch die beiden öffentlichen Brunnen gesperrt, in die Randalierer am Samstag Bierflaschen zerschlagen hatten. Die Beschwerden der Anwohner über das Nichteinschreiten gegen Rechtsverletzungen kommentierte man in der Polizeidirektion nur mit der Bemerkung, das "sei halt so", wenn Fußballfans sich "laut freuen".

Mit einem Mangel an Ressourcen scheint dieses Nichteinschreiten nur bedingt erklärbar: Am Tag des Spiels der deutschen gegen die englische Mannschaft nahm die Münchener Polizei beispielsweise einen Mann wegen "Belästigung" fest, der anlässlich des WM-Spiels gegen England nackt und in schwarz-rot-goldener Ganzkörperbemalung die Münchener Leopoldstraße auf und ab fuhr. Nach Auskunft eines Anwohners war dieser Festgenommene praktisch der einzige Fußballfan, der an diesem Tag nicht störte - ganz im Gegensatz zu seinen lärmenden und hupenden Artgenossen, gegen die die Beamten nichts unternahmen.

Die extrem gestiegene Lärmbelästigung stößt mittlerweile auch Fußballfans ab, denen der Wandel in der "Fankultur" gleichzeitig zuwider und ein Rätsel ist. "Fußballfantum", so spekulierte am Sonntag ein Betroffener, sei heute anscheinend weniger Ausdruck von Sportbegeisterung als Anhimmeln einer "Boygroup", was auch den stark gestiegenen Anteil weiblicher Beteiligter, die Bedeutung von Lautstärke und das Schminken erklären würde.