Legasthenie auf Chinesisch

Bei Symbolsprachen hat Legasthenie andere neuronale Ursachen als bei Buchstabensprachen

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Legasthenie hat womöglich keine universale Ursache, sie könnte je nach Kulturkreis unterschiedlich bedingt sein. Das hat ein Forscherteam der Abteilung für Linguistik der Universität Hong Kong und des National Institute of Mental Health in Bethesda bei Tests mit chinesischen Kindern, die unter der Lese-Rechtschreib-Schwäche leiden, herausgefunden. Im aktuellen Nature berichtet die Gruppe von ihren Ergebnissen.

Einmal Legastheniker, immer Legastheniker

Legasthenie, Lese-Rechtschreibungsstörung oder auch Dyslexie genannt, ist eine der häufigsten Störungen im schulischen Leistungsbereich. Zirka 5 Prozent der Schüler einer Jahrgangsstufe sind davon betroffen. Sie stocken beim Lesen, lassen Wörter, Buchstaben oder Silben aus oder vertauschen sie. Hinzu kommen Grammatik- und Interpunktionsfehler. Legastheniker haben Schwierigkeiten beim Lesen lernen, aber sie sind deshalb nicht dümmer, weniger lernbegabt oder sogar faul. Auch wenn es Möglichkeiten gibt, gegen die Leseschwäche anzutrainieren: Legastheniker bleibt man ein Leben lang.

Spurensuche im Gehirn

Welche Ursachen Legasthenie hat, ist bislang noch nicht hinreichend erforscht. Doch mit bildgebenden Verfahren (Magnetresonanz-Tomographie, MRT) konnten Wissenschaftler bereits Gehirnregionen aufspüren, die dabei vermutlich eine Rolle spielen. Demzufolge könnte Legasthenie eine Dysfunktion bestimmter Areale der linken Gehirnhälfte sein, und zwar des temporo-parietalen Kortex, der bei Legasthenikern eine niedrigere Aktivität aufwies, als bei Probanden ohne Leseschwäche. Zudem ging man bislang davon aus, dass die Ursachen für die Legasthenie universell sind, also in allen Kulturen gleich.

Gehirnregionen mit auffälliger Aktivität bei der Sprachverarbeitung und der Umsetzung von chinesischen Schriftzeichen in Sprache bei gesunden und legasthenischen Probanden (Bild: Wai Ting Siok, Charles A. Perfetti, Zhen Jin3 & Li Hai Tan)

Da nicht alle Sprachen gleich funktionieren, lag es eigentlich nahe zu vermuten, dass eine solche Verallgemeinerung nicht unbedingt zutreffen muss. Denn während die europäischen Sprachen auf einem Alphabet beruhen, bei dem im Zuge des Lesens Buchstaben in Laute übersetzt werden, um sie in einem weiteren Schritt in einen semantischen Zusammenhang zu bringen, hängen bei logographischen Sprachen wie dem Chinesischen Schriftzeichen nicht mit Lauten zusammen. Dort müssen Schriftzeichen zuerst mit einer Wortsilbe verbunden werden.

Das Leuchten im Gyrus frontalis medialis

Der Forscher Li Hai Tan und seine Kollegen haben nun mit Hilfe der Computertomographie die Gehirnaktivität von chinesischen Kindern mit der Leseschwäche untersucht, um zu überprüfen, ob bei chinesischen Legasthenikern die gleichen Gehirnareale betroffen sind, wie in den bisherigen westlichen Untersuchungen festgestellt. Sie testeten 16 Schulkinder, von denen die eine Hälfte unter der Lese-Rechtschreib-Schwäche litt, die andere nicht.

Dabei stellten sie fest, dass die Aktivität des temporo-parietalen Kortex bei allen Kindern ähnlich war. Ein Unterschied zeigte sich hingegen bei einem anderen Hirnareal: Der so genannte mittlere frontale Gyrus (Gyrus frontalis medialis) der linken Hirnhälfte arbeitete bei den legasthenischen Kindern deutlich schwächer, wohingegen eine stärkere Aktivität in einem Abschnitt des linken präfrontalen Kortex zu beobachten war.

Andere Sprache, andere Ursache

Der linke mittlere frontale Gyrus hat bei der Analyse chinesischer Schriftzeichen einen wichtigen Anteil, er ist das Zentrum für flüssiges Lesen der chinesischen Schrift. Visuelle Eindrücke werden eher im linken präfrontalen Kortex verarbeitet. Die Wissenschaftler vermuten nun, dass chinesische Kinder mit einer Dysfunktion des linken mittleren frontalen Gyrus Schwierigkeiten mit den Schriftzeichen haben und versuchen, dies über eine verstärkte Aktivität des visuellen Systems zu kompensieren.

Mit ihren Ergebnissen sehen es die Forscher auch als erwiesen an, dass die Leseschwäche bei chinesischen und amerikanischen Kindern unterschiedliche neurologische Ursachen zu Grunde liegen und Legasthenie damit keine universelle Ursache haben kann. Sie hoffen nun, mit ihrem Wissen, gezieltere Übungen entwickeln zu können, die diese Gehirnregion stärker stimulieren, damit Betroffenen auf diese Weise ihr Handicap ausgleichen können.

Was bedeutet das, wenn’s leuchtet?

Dem menschlichen Gehirn mit bildgebenden Verfahren bei der Arbeit zuzusehen ist faszinierend und es ist eine populäre Methode geworden, dies oder jenes nachzuweisen. Gleichzeitig liegen im Gehirn auch sehr unterschiedliche Zuständigkeiten sehr nah beieinander. Kann man sich also immer so sicher sagen, was man da genau beobachtet und misst, wenn es auf dem Bildschirm leuchtet? Es kann nicht schaden, sich immer ein kleines Fragezeichen mitzudenken.