Lieber Anpassung als Abstieg

Als Freiheitsinstrument beworben, geht es beim Gehirndoping praktisch um Anpassung - Neurotechnologie Teil 3

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Die gegenwärtige Debatte um das Gehirndoping ist nur ein Vorbote dessen, was uns dank zukünftiger Neurotechnologie im Alltagsleben erwarten könnte. Psychopharmakologie scheint für viele heute ein Mittel zu sein, um auf Stress und Anpassungsdruck zu reagieren. Transhumanisten wollen viel weiter gehen, als es die heutigen Mittel zulassen, und die großen Probleme der Menschheit mit immer mehr Technologie lösen. Doch diese Technologie trägt selbst zu den Problemen bei.

Der zweite Teil endete mit Zahlen zu einem dramatischen Anstieg der Produktion von Stimulanzien und Beispielen dafür, wie diese in den USA der 1950er und 1960er Jahre zur Lösung sozialer Probleme angewandt wurden. Wir sollten uns jedoch nicht der Illusion hingeben, es handele sich dabei nur um ein Problem der anderen. Nicht nur historisch hat die Deutsche Wehrmacht Pionierarbeit auf dem Gebiet der pharmakologischen Optimierung von Kriegseinsätzen geleistet - Stichwort Pervitin, ein Amphetamin-Derivat, das auch als "Panzerschokolade" bekannt war.

Die Verschreibungszahlen von Psychopharmaka einschließlich Stimulanzien und Antidepressiva steigen auch heute wieder rapide. Psychologen, die die Verbreitung psychischer Störungen in Europa auf ca. 38 bis 45% aller Menschen innerhalb eines Jahres schätzen, liefern hierfür den wissenschaftlichen Hintergrund (Beinahe jede(r) Zweite gilt als psychisch gestört).

Einige liberal denkende Bioethiker versuchen, uns den Konsum solcher Mittel seit den frühen 2000er Jahren auch moralisch schmackhaft zu machen. Unter der Bezeichnung Cognitive Enhancement oder neuerdings auch Neuroenhancement setzen sie sich dafür ein, neurowissenschaftliche Mittel zur "Verbesserung" des Menschen zu entwickeln und zu verwenden. Schließlich täten wir ja so auch schon viel dafür, Menschen leistungsfähiger zu machen, siehe zum Beispiel das Bildungssystem. Wenn man schon nicht dafür sei, solle man es anderen wenigstens nicht verbieten.1 Mit implizitem Verweis auf das humanistische Menschenbild wird dafür argumentiert, den Menschen die freie Entscheidung zu lassen.

Der Anpassungsdruck ist heute sehr hoch

Das spielt natürlich denjenigen in die Hände, die Werbung, Medien und Interessengruppen zur Durchsetzung ihrer Gewinnbestrebungen zu verwenden wissen, sprich den Lobbyisten. Wie bilden Menschen denn ihre Meinung, woher kommen ihre sozialen Bedürfnisse? Der Rahmen, Menschen mit Angst vor sozialem Abstieg und gesellschaftlicher Ausgrenzung zum Äußersten zu treiben, ist auch in Deutschland längst geschaffen, geschweige denn in den USA oder Großbritannien mit ihren marginalen sozialen Sicherungssystemen. "Erwerbsarbeit" lautet heute der Schlüssel zum Erfolg und Arbeitslosigkeit ist ein Stigma.

Es ist daher nicht überraschend, wenn gemäß der repräsentativen DAK-Befragung zum Thema Doping am Arbeitsplatz aus dem Jahr 2009 zwar nur ca. zwei Prozent der Angestellten laut eigenen Angaben regelmäßig Psychopharmaka konsumieren, um ihre Leistungsfähigkeit oder ihre Stimmung zu verbessern; dies entspricht aber immerhin 800.000 Menschen in Deutschland. Dabei war die angegebene Akzeptanz unter Erwerbstätigen in einem Arbeitsumfeld mit hohem Stress mit 22% wesentlich höher als mit 8% in der Gruppe derjenigen, die ihre Arbeit angenehm und gut bewältigbar fanden.

Wenig überraschend ist auch, dass seit Aufkommen der Debatte immer wieder Studierende im Fokus der bioethischen Überlegungen stehen. Allen Versuchen zum Trotz, die akademischen Gehirndoper zu einer Avantgarde zu stilisieren, ist das Neuroenhancement bisher noch kein Massenphänomen geworden. Die aussagekräftigeren Befragungen ergaben einen gelegentlichen Konsum im einstelligen Prozentbereich. Vor allem scheinen es eher nicht die Gewinner, sondern die möglichen Verlierer des Systems zu sein, die am ehesten zu den Medikamenten greifen.

Lieber Anpassung als Abstieg

So deuteten schon die früheren und robusten Studien daraufhin, dass der nichtmedizinische Stimulanzienkonsum mit zunehmendem Konkurrenzdruck und schlechteren Noten steigt.2 Die neuere repräsentative Befragung durch die HIS GmbH zu Formen der Stresskompensation und Leistungssteigerung bei Studierenden, die 2012 veröffentlicht wurde, stützt diesen Eindruck: Unter den Studierenden, die keinen bis geringen Leistungsdruck empfanden, lag der Anteil der zumindest gelegentlichen Konsumenten von Gehirndopingmitteln bei 3%. Bei den Studenten, die sehr starken Leistungsdruck empfanden, betrug er 9%. Am stärksten verbreitet war der Trend bei Studierenden der Gesundheits- und Sportwissenschaften, am geringsten bei denen der Mathematik/Informatik und Geowissenschaft/Physik.

Auch wenn sich manche Professorinnen und Professoren vielleicht wünschen, dass mehr Studierende ihr Verhalten und ihre Leistung pharmakologisch beeinflussen, um im Unterricht besser aufzupassen und die Universität in vergleichenden Rankings nach oben zu befördern, sieht die Realität derzeit anders aus. Angst und Stressbewältigung scheinen die häufigsten Motive für den Stimulanzienkonsum zu sein und nicht der edle Wunsch, die Wissenschaften voranzubringen. Dazu passen auch neure Theorien über die Wirkungsweise von Substanzen wie Methylphenidat. So vermutet beispielsweise der Züricher Pharmakopsychologe Boris Quednow, dass der Wirkstoff in Gesunden gar nicht das Denken selbst verbessert, sondern eher die Motivation zu arbeiten. Er spricht daher auch von "sekundärem Enhancement".3

Damit geht es aber beim Phänomen Neuroenhancement in der Praxis nicht um die Freiheit zur Selbstverwirklichung, von der liberale Bioethiker träumen, sondern wahrscheinlich um die Anpassung an die derzeitige Staatsräson, die da lautet: Durchhalten, Konkurrenzkampf und Gewinnen im Wettbewerb. Wer am Ende seiner Kräfte ankommt, der braucht dann keine Pause, sondern eine Leistungs- und Durchhaltepille. Wer am Anfang also mit Freiheit argumentiert und auf den Anpassungsdruck pharmakologisch reagiert, der verliert am Ende seine Freiheit: nämlich seine Freiheit, unter den Regeln zu leben, die er sich selbst und zusammen mit der Gemeinschaft gegeben hat.

Wer nicht schon mit den nötigen finanziellen Mitteln ausgestattet ist oder zu radikaler Abstinenz bereit ist, dem bleibt eben nur die Anpassung an die Marktinteressen - oder der gesellschaftliche Abstieg. Psychologie und Psychiatrie bieten derzeit denjenigen, die diese Logik nicht verstehen können oder wollen, mit dem Burnout-Syndrom noch einen alternativen Ausweg, nämlich den der Entschuldigung durch Krankheit.