Machteliten: Von der großen Illusion des pluralistischen Liberalismus

Seite 2: "In Wahrheit liegt die Macht nur bei zahlenmäßig kleinen Kreisen"

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Auch in einer Demokratie existieren nämlich enorme Machtungleichgewichte, die dazu führen, dass Menschen Begrenzungen ausgesetzt sind und Zwänge in ihrem Handeln erfahren, an denen sie kaum etwas ändern und die sie schon gar nicht überwinden können.

In aller Deutlichkeit geht Mills mit jenen ins Gericht, die behaupten, im Grunde genommen habe jeder Mensch die Macht, die Geschichte zu beeinflussen. "Wollte man das behaupten", so Mills, "...wäre das soziologisch Unsinn und politisch verantwortungslos." Behaupte man nämlich, dass "'wir' alle die Geschichte bestimmten", wäre das "deshalb verantwortungslos, weil dadurch jeder Versuch im Keim erstickt wird, die Verantwortung für die folgenschweren Entscheidungen jener festzustellen, die die Machtmittel wirklich in der Hand haben".

Da taucht sie also auf, die in akademischen und intellektuellen Kreise so verpönte Frage nach dem konkret handelnden Subjekt. Bereits damals, vor 60 Jahren, geriet man im wissenschaftlichen Feld schnell in den Verdacht, die Komplexität der realen Verhältnisse zu verkennen, wenn der Blick auf die Ebene der handelnden Subjekte gelenkt wurde - woran sich bis heute nichts geändert hat. Und dafür gibt es einen guten Grund: Wenn die ideologischen Verblendungen all derjenigen beiseitegeschoben sind, die selbst jener "großen Illusion" folgen, die der unkritische Glauben an einen pluralistischen Liberalismus erzeugt, wird plötzlich ersichtlich, dass die Stigmatisierung der "Subjektfrage" wie ein mächtiger Schutzschild um eben genau die Akteure herum wirkt, auf die Mills fokussiert - die Entscheider und Macher in der Gesellschaft.

Mills kommt bei seinen Analysen zu dem Ergebnis, dass zwar "rein formell", die Autorität beim Volk liege, "aber in Wahrheit liegt die Macht, die Initiative zu ergreifen, nur bei zahlenmäßig kleinen Kreisen". Der Soziologe sprach von einer landläufigen "Strategie der Manipulation", die den Eindruck hervorrufe, "daß das Volk, oder mindestens ein großer Teil des Volkes, 'tatsächlich die Entscheidungen trifft'".

Aussagen wie diese sind es, die wohl auch heute noch so manchem Demokratietheoretiker das Entsetzen ins Gesicht treiben dürften. Doch Mills war, um gleich Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, keiner, der sich leerer Phrasen bediente und Schreckensszenarien an die Wand malte. Mills gelang es, die Macht der Oberen präzise einzuordnen. Die Machtelite war für Mills weder allmächtig, noch war sie ohnmächtig. Die Machteliten sind bei Mills keine Götter, die die ganze Welt beherrschen.

Mills bezeichnet die Vorstellungen von einer omnipotenten oder impotenten Machtelite als "leere Abstraktionen, die man in der Öffentlichkeit gern als Entschuldigung vorbringt oder mit denen man sich brüstet. Aber wir müssen uns ihrer bedienen, um die großen Probleme zu klären, denen wir uns gegenübergestellt sehen".

Deutlich warnt Mills auch vor der großen Verschwörungsthese, wonach eine einzige herrschende Klasse existiere, "die die ganze amerikanische Gesellschaft lenkt... ."

Die andere Auffassung, daß alles auf die Verschwörung einiger unschwer feststellbarer Schurken oder auf die Taten großer Männer zurückzuführen sei, ist eine ebenso voreilige Interpretation des Tatbestandes, daß Veränderungen im Gesellschaftsgefüge bestimmten Eliten geschichtliche Chancen eröffnen, die sie wahrnehmen oder nicht wahrnehmen. Wer sich eine dieser beiden Vorstellungen zu eigen macht, indem er die Geschichte als Konspiration oder als schicksalhafte Kraft begreift, erschwert es sich, die tatsächlichen Machtverhältnisse und das Verhalten der Mächtigen zu verstehen.

Charles Wright Mills

Mills gelang es, die Machtelite zu sezieren, indem er einen breiten Zugang zu seinem Forschungsgegenstand wählte. Er setzte sich nicht nur mit den Akteuren, also ihrem Eigenverständnis (wie begreifen sich Eliten selbst?), ihrem Handlungsspielraum und den psychologischen Beziehungen der Eliten untereinander auseinander, er beachtete auch die historischen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen, in die die Eliten eingebettet waren und die ihnen Chancen und Möglichkeiten boten, aber auch Herausforderungen mit sich brachten.

Die Elite ist in sich selbst verliebt

Mit eine der wichtigsten Erkenntnisse, die Mills liefert, führt ins Zentrum dessen, was das Elitensein ausmacht. Der Soziologe stellte fest, dass die Eliten seiner Gesellschaft aus einem tiefen inneren Antrieb heraus handelten und der festen Überzeugung seien, völlig zu Recht zur Elite zu gehören.

Aus dieser Grundeinstellung erklärt sich die oft zu beobachtende Haltung von Angehörigen der Elite, die aufgrund ihrer gesellschaftlich herausgehobenen Position quasi automatisch das legitime Monopol zur Gestaltung der Welt in den Händen zu halten glauben.

Man muss nicht weit denken, um in der sehr aktuellen Diskussion um die Rolle "der Eliten" in unserer Zeit erkennen zu können, woher die Vorwürfe einer arroganten, überheblichen und abgehobenen Machtelite kommen.

Die Spitzen unserer Gesellschaft und die "normalen" Menschen, die das Volk bilden, sind auch in einem demokratischen System durch einen Graben, der kaum tiefer und breiter sein könnte, voneinander getrennt - das war zur Zeit Mills so, das ist heute so. Während ein kleiner Teil von Menschen über riesige Ressourcen aller zentralen Kapitalarten verfügt (ökonomisches, kulturelles, soziales, symbolisches Kapital), besitzt ein großer Teil der Bevölkerungen im Vergleich oft nur einen Bruchteil dieses Kapitals.

Während die einen durch ihre Kapitalvorteile, aber auch aufgrund ihrer Positionen an den Schalt- und Schnittstellen der Macht, Entscheidungen treffen, die für eine ganze Gesellschaft Auswirkungen haben, reicht "die Macht" des einfachen Menschen allenfalls von seinem Wohnzimmer bis zur Haustür.

Mills hebt aber hervor, dass nicht nur die Entscheidungen, die die Angehörigen der Machtelite treffen, weitreichende Konsequenzen haben. "Unterlassen sie es zu handeln", schlussfolgert Mills, "eine Entscheidung zu treffen, so hat dies oft schwerer wiegende Folgen als ihre tatsächlichen Entschlüsse ... ."