Machteliten: Von der großen Illusion des pluralistischen Liberalismus

Seite 3: Was wir derzeit in Europa erleben, ist das Produkt einer entfesselten Machtelite

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Wer in diesen Tagen, 60 Jahre nach "The Power Elite" die Nachrichten verfolgt und mitansehen muss, welche gesellschaftliche und politische Verwerfungen entstanden sind, kann nur zu dem Schluss kommen, dass ein kritischer Blick auf die heutigen Machteliten dringend notwendig ist. An dem Handeln der Machteliten, wie sie Mills vor sechs Dekaden kenntlich gemacht hat, hat sich im Wesentlichen nichts geändert. Ihr Handeln ist geprägt von Machtgewinnung, Machtsicherung, Machtmaximierung und von Einflussnahmen aller Art, um diesem "Dreiklang der Macht" zur vollen Blüte zu verhelfen.

Im Idealfall stehen die Interessen der Machtelite mit denen der normalen Bürger in etwa auf einer Ebene - oft genug ist das nicht der Fall. Trotz vordergründig funktionierender demokratischer Prozesse gelingt es den Mächtigen dieser Welt immer wieder, ihre politische Ideen und Vorstellungen durchzudrücken und dabei einen Schaden anzurichten, der so groß ist, dass er kaum beziffert werden kann.

Was würde Mills sagen, wenn er beispielsweise mitansehen könnte, was Machteliten aus dem europäischen Einigungsprozess gemacht haben? Live und in Farbe ist mitanzusehen, was geschieht, wenn ein Elite-Projekt, wie die europäische Währung "Euro", das Eliten über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden und trotz fundierter Warnungen verwirklicht haben, schief geht.

Länder stehen vor dem wirtschaftlichen Kollaps, eine Jugendarbeitslosigkeit in Staaten wie Portugal, Italien, Spanien oder Griechenland, die zwischen 30 und 50 Prozent liegt, zerstört die Hoffnungen junger Menschen auf ein besseres Leben, milliardenschwere "Rettungsschirme", aufgespannt von Staaten, die noch vor wenigen Jahren ihren Bürgern gepredigt haben, der Sozialstaat sei zu teuer und müsse "verschlankt" werden, machen viele Bürger fassungslos.

Was wir derzeit in Europa erleben, ist das Produkt einer entfesselten Machtelite, die über Jahrzehnte auf der Basis einer neoliberalen Wirtschaftsordnung ihren Wohlstand und ihre Macht mehren konnte und dabei nach und nach Kräfte zur Entfaltung brachte, die gesellschaftszersetzend sind und der Demokratie einen schweren Schaden zugefügt haben.

Auch wenn Mills seine Machtelitentheorie anhand der US-amerikanischen Gesellschaft der 1950er Jahre durchdeklinierte, also einer Gesellschaft, die ihre speziellen Eigenheiten aufweist und nicht eins zu eins auf europäische Verhältnisse übertragen werden kann, auch wenn seine Theorie in manchem durch die historische Entwicklung überholt ist und der historische Kontext, in dem seine Machtelitentheorie entstand, nicht außer Acht gelassen werden darf: Die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen führen direkt ins Zentrum von Mills' Arbeit.

Frühzeitig warnte er vor den Schwachstellen im demokratischen Gefüge und vor der Naivität der Theorie vom "Gleichgewicht der Kräfte". Schon in den 1950er Jahren erkannte Mills, wie ausgeprägt der vorgelagert politische Formierungsprozess der Machtelite in seinem Land war. Er beobachtete, dass Eliten sich aus den demokratischen Strukturen ausdifferenzieren, dass sie sich vernetzen, in Zirkeln der Macht zusammenschließen und über unterschiedliche Einflussorganisationen Macht ausüben. Daran hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nichts geändert.

Ein journalistisches Interesse an den diskreten Machtstrukturen der Eliten ist kaum vorhanden

Doch die Soziologie scheint jenen Teil ihrer Disziplin, der in der Tradition von Mills steht und der es möglich machen würde, die Strukturen der Machtelite zu analysieren, fast vergessen zu haben. Aber auch die Medien, die zumindest in Ansätzen über die Zirkel der Mächtigen berichten könnten, ignorieren diese.

Die Tage etwa hatten Medien, unter anderem auch der Spiegel, über die Einweihung einer russischen Denkfabrik in Berlin berichtet. Offensichtlich war es aus journalistischer Sicht geboten, die Mediennutzer über diesen Schritt zu informieren.

Es gibt viele gute Gründe dafür, dass Medien ihre Aufmerksamkeit auf das Wirken von Stiftungen und Thinktanks lenken. Welche Ziele verfolgen diese? Wer sind ihre Mitglieder, wer ihre Hintermänner? Gibt es eine verborgene Agenda? Sind sie in der Lage, Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen? Wenn ja: Wie sieht diese Einflussnahme aus? Wie gestaltet sie sich? Wer sind die konkreten Akteure, die Einfluss nehmen? Zentrale Fragen, deren Beantwortung für eine Demokratie von Bedeutung sind.

Doch, als beispielsweise im März 2013 die Trilaterale Kommission ihre Jahreshauptversammlung in Berlin abhielt, war das in deutschen Medien kein Thema. Trilaterale Kommission? Was ist das? Wie ist sie entstanden? Wozu existiert sie? Welcher Ideologie folgt sie?

Anders gesagt: Als es plötzlich um die Gründung einer russischen Denkfabrik ging, erkannten die großen Medien plötzlich, welche Bedeutung diesen Einrichtungen bei der Beeinflussung von Politik zukommen kann. Wenn es aber um den sich im Windschatten der demokratischen Institutionen vollziehenden Formationsprozess westlicher Machteliten geht (Machteliten: Sie wollen doch nur das Beste für den Planeten), lassen Medien die Öffentlichkeit immer wieder im Dunkeln.

Fast 60 Jahre hat es gedauert, bis deutsche Medien in der Breite erkannt haben, dass die Treffen der Bilderberg-Gruppe "ein Thema" sind. Kritische Berichte, wie etwa dieser Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1975 zur Rolle des Council On Foreing Relations, einer zentralen Denkfabrik der Liberalen in den USA, sind wie eine Perle: sehr schön, aber selten zu finden. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41389590.html

Über die Zusammenkunft der US-Machteliten am Bohemian Grove , wo sich auch mal ein Bundeskanzler dazu gesellte, finden sich im Spiegel-Archiv gerade einmal zwei Artikel - einer von 1979 und einer von 1982. Ein journalistisches Interesse an den diskreten Machtstrukturen der Eliten ist, das ist festzustellen, so gut wie nicht vorhanden.

Es verwundert nicht, dass Mills sich auch mit den Medien auseinandergesetzt hat und kritisch anmerkte, dass diese "eines der bedeutendsten Machtmittel [sind], die der Elite des Reichtums und der Macht zur Verfügung stehen".

Auf gleicher Ebene [wie die Medien] oder nur wenig darunter steht der Propagandist, der Werbefachmann, der die öffentliche Meinung schon im Entstehungsstadium kontrolliert und sie damit als eine willfährige Kraft mehr in die Berechnung des Spiels der Kräfte, der Steigerung des Prestiges, der Sicherung des Reichtums einbezieht.

Charles Wright Mills'

Das klingt radikal, aber Mills lernte früh, zu welchen Gefahren Machtungleichgewichte in einem Staat führen konnten. Mills hatte eine enge Freundschaft mit dem deutschen Soziologen Hans Gerth, der vor der Diktatur der Nazis geflohen war. Seine Einblicke, die er durch Gerth über die Nazi-Herrschaft aus erster Hand erhalten konnte, führten ihn mit dazu, dass er sich der Machtstrukturforschung widmete. Aus der Auseinandersetzung mit dem Nazi-Regime gewann Mills für sich die Erkenntnis, die Sozialwissenschaften müssten sich viel stärker auf eine Forschung konzentrieren, die von Herrschaftskritik geprägt ist.

Der wohl einzige bekannte deutsche Machstrukturforscher Hans Jürgen Krysmanski , der im Juni dieses Jahres verstarb , schrieb einmal über Mills' Arbeit, er habe "das Rezept formuliert, wie man in einer modernen Industriegesellschaft westlichen Zuschnitts, in einer parlamentarischen Demokratie die Herrschaft der Wenigen sichern kann, ohne dass es den Massen sonderlich auffällt".

Alleine das sollte Mills' "Power Elite" zur Pflichtlektüre für jeden machen, dem Demokratie etwas bedeutet.